Psychiatrie vor 1933

Heute gibt es keine Käfige mehr.
Heute gibt es 2 verschiedene Kranken-Häuser.
1 Kranken-Haus für Menschen mit einer Krankheit im Körper.
1 anderes Kranken-Haus für Menschen mit einer seelischen Krankheit.
Dort bekommen die Menschen Hilfe.
Wenn die Familie es nicht mehr schafft.
Oder der Mensch zu krank ist.
Ärzte und Pfleger kümmern sich dann um den Patienten.

Die ersten Kranken-Häuser sind wie Gefängnisse.
Patienten werden eingesperrt.
Sie werden gefesselt.
Sie bekommen keine Medikamente.
Höchstens Drogen.
Es gibt viel Gewalt.
Das ist vor 200 Jahren.

Das finden viele nicht gut.
Sie sagen:
Nein!
Kranke müssen gut behandelt werden.
Sie müssen wie Menschen behandelt werden.
Nicht wie wilde Tiere.
Sie dürfen auch nicht gefesselt werden.
Keine Gewalt!
Das hat Erfolg.
In den Anstalten wird vieles anders.
Kranke werden kaum noch gefesselt.
Kranke werden ernst genommen.
Man hört ihnen zu.
Man behandelt sie nicht wie Tiere.
Oder eine Sache.

Nach dem Ersten Welt-Krieg ändert sich das.
Da gibt es die Idee:
Patienten soll man unterschiedlich behandeln.
Die schwer kranken sollen keine Kinder bekommen.
Nur die nicht so kranken Patienten soll man gut behandeln.
Oder die gesund werden.
Oder die nützlich sind.
Weil sie arbeiten können.
Alle anderen sollen sterben.
Man soll sie ermorden dürfen.
Ohne Strafe.

Das ist erst einmal nur eine Idee.
Von 2 Forschern.
Der eine ist Arzt.
Der andere ist Rechts-Gelehrter.

Aber alle sagen:
Die Idee ist Unsinn.
Das geht nicht.
Alle dürfen Kinder bekommen.
Und Patienten darf man nicht ermorden.

Aber kurz vor dem National-Sozialismus ändert sich das.
Plötzlich finden viele die Idee gut.

Psychiatrie vor 1933

Die Errichtung von Psychiatrien bzw. (Kranken-)häusern für psychisch Erkrankte und Menschen mit Behinderungen ist eine vergleichsweise junge Entwicklung. Im deutschsprachigen Raum wurde zunächst nicht unterschieden zwischen körperlichen Behinderungen und seelischen Krankheiten – im Mittelalter wurde jede »Abnormität« religiös begründet. Eine Therapie der Erkrankten fand nicht statt – gleichwohl hatten sie eine feste Rolle innerhalb der Gemeinschaft: Indem man sie in der Familie pflegte, sie mit Nahrung oder Geld versorgte, also seine »Caritas« (christliche Nächstenliebe) zeigte, bewies man seine Gottgefälligkeit.

Erst seit der Frühen Neuzeit, etwa ab Mitte des 15. Jahrhunderts, wurden durch Erkenntnisse auf den Gebieten der Naturwissenschaften und der Medizin Verhaltensauffälligkeiten und körperliche Abnormitäten nicht mehr als gottgegeben angesehen, sondern organische Ursachen gesucht und Therapien entwickelt. Mit der Pathologisierung wurden die »Irren« aus der Gemeinschaft verdrängt. kamen in Armenhäusern oder Leprosorien unter, besonders Unruhige oder gar Straffällige, also »Tolle« sperrte man in Zuchthäuser oder »Dorenkisten« bzw. in »Narrenkäfige« (Holzkisten, die an den Stadttoren installiert waren, in Lüneburg gab es sie an drei Stellen).

Etwa im 17. und 18. Jahrhundert veränderte sich das Bild vom psychisch Erkrankten. Der Berliner Mediziner Georg Ernst Stahl (1659 – 1734) erforschte das »Unbewusste«, die Bedeutung der »Seele« und ihre Leiden, in denen er die Ursache sämtlicher Erkrankungen sah. Seine Ansätze begründeten bis zum Ende des 18. Jahrhunderts eine frühe Form der klinischen Psychiatrie. Ab 1810 gab es zur Behandlung der geistig Erkrankten erste »Irrenanstalten«. Diese Einrichtungen waren zunächst reine »Verwahranstalten«, in denen »Geisteskranke« »zur Vernunft« gebracht werden sollten, überwiegend mittels Zwang, Züchtigung, Fesselung, Auspeitschen und Schlägen, Schock- und Wassertherapien.

Parallel wurden bereits Stimmen laut, die die katastrophalen Zustände in den »Verwahranstalten« anprangerten. In Deutschland äußerte der philosophisch geprägte Mediziner Johann Christian Reil erstmals 1803 scharfe Kritik. Er setzte sich für eine individualisierte und respektvolle Behandlung ein, wodurch er ein Wegbereiter der reformerischen Psychiatrie wurde.

Etwa zeitgleich löste der Tod eines Patienten in einer Zwangsjacke in einer englischen Anstalt die »non-restraint-Bewegung« aus, ein Behandlungskonzept, das jede Zwangsmaßnahme ablehnte und rasch in weiten Teilen Europas umgesetzt wurde. Waren 1830 mehr als ein Drittel aller Patient*innen gefesselt, waren es 1837 nur noch weniger als zwei Prozent.

Es begann ein Umdenken, das humane und reformpsychiatrische Behandlungen nach sich zog, zum Beispiel die Etablierung sinnvoller Tages- und Freizeitgestaltungen der Patient*innen mit Arbeitstherapie und Unterhaltung. Dies beeinflusste auch die Anstalts-Architektur, sodass moderne, oft parkähnliche Anlagen entstanden, mit integrierten und angegliederten landwirtschaftlichen Betrieben und Werkstätten. Die am 29. Juni 1901 eröffnete Provinzial- Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg ist ein Beispiel diese Entwicklung.

Parallel zu dieser Philanthropie zu Beginn des 20. Jahrhunderts infiltrierten Eugenik und Rassenhygiene schon vor Ausbruch des 1. Weltkrieges Zweige der Psychiatrie. In den 1920er Jahren gewannen rassenhygienische Theorien mehr und mehr Einfluss. Einschlägig war die Publikation »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens« des Freiburger Arztes Alfred Erich Hoche und des Leipziger Strafrechtsprofessors Karl Binding. Sie plädierten für die Tötung unheilbar Erkrankter und sogenannter »Ballastexistenzen«. Ein Großteil der Ärzteschaft lehnte diesen Vorstoß zu Beginn der 1920er Jahre noch entschieden ab. Rechtswissenschaftler äußerten sich zurückhaltend.

Am Vorabend des Nationalsozialismus waren rassenhygienische Einflüsse in der psychiatrischen Forschung und Lehre jedoch etabliert. Erblehre, Volksgesundheit, Reinheit der Rasse, Aufartung und die »Auslese« sogenannter »Erbkranker« galten in der Psychiatrie bereits vor Machtübernahme der Nationalsozialisten als modern und fortschrittlich. Eugenik und Rassenhygiene galten als zeitgemäß, die Psychiatrie setzte sich an die Spitze der Bewegung und rückte hierdurch vom medizinwissenschaftlichen »Rand« ins Zentrum medizinischer Forschung.