Ein zentrales Dokument der »Euthanasie« ist der streng vertrauliche Runderlass des Reichsministeriums des Innern vom 18. August 1939 mit dem Aktenzeichen IVb 3088/39 – 1709. Unter dem Vorwand der »Klärung wissenschaftlicher Fragen auf dem Gebiet der angeborenen Mißbildungen und der geistigen Unterentwicklung« wurden Ärzte, Hebammen, Entbindungsanstalten, geburtshilfliche Abteilungen und Kinderkrankenhäuser verpflichtet, mithilfe eines Meldebogens über Kinder mit Behinderungen Mitteilung an das zuständige Gesundheitsamt zu tätigen. Die Meldung leitete das sogenannte »Reichsausschussverfahren« ein.
Meldepflicht bestand für Kinder mit sogenannter Idiotie, »Mongolismus«, Mikrocephalie (Kleinwüchsigkeit des Hirnschädels), Hydrocephalus (Wasserkopf), Missbildungen, Lähmungen (einschließlich Littlescher Erkrankung). Hebammen bekamen »für ihre Mühewaltung« eine Entschädigung bzw. ein Kopfgeld in Höhe von 2 Reichsmark.
Zunächst galt der Runderlass nur für Kinder bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres. Ab 1941 wurde die Meldepflicht ausgeweitet auf Kinder und Jugendliche bis zur Vollendung des 15. Lebensjahres.
Im Oktober 1939 ermächtigte Adolf Hitler seinen Leiter der Reichskanzlei, Philipp Bouhler sowie seinen chirurgischen Leibarzt Karl Brandt, »Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.« Dieses Schreiben wurde auf den 1. September 1939 zurückdatiert. Es scheinlegitimierte die »Euthanasie« und war Grundlage für die Ausweitung der Meldepflicht auf erwachsene Patient*innen.
Ab 9. Oktober 1939 wurden nunmehr reichsweit Meldebögen an sämtliche Heil- und Pflegeanstalten, Nervenkliniken, Heilerziehungsstätten und Heime verschickt. Neben der Erfassung von persönlichen Daten und Informationen zum Gesundheitszustand, wurde mit diesen Bögen auch abgefragt, ob die Person regelmäßig Besuch erhielt, seit wann sie anstaltsbedürftig war, ob mit der Erkrankung Straftaten einhergegangen waren, ob ein Romno- oder jüdischer Hintergrund vorlag und ob bzw. welcher Art Beschäftigung nachgegangen wurde. Die ausgefüllten Meldebögen mussten an die »Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten« in die Tiergartenstraße 4 in Berlin geschickt werden, die für die Erfassung der Patient*innen zuständig war.
Die Meldepflicht war wesentliche Voraussetzung für die Planung und Durchführung der »Euthanasie«.
Melde-Pflicht
Im National-Sozialismus gibt es einen Befehl.
Er ist streng geheim.
Niemand darf davon wissen.
Nur Ärzte und Geburts-Helfer.
In dem Befehl steht:
Kinder mit Behinderungen müssen gemeldet werden.
Von Ärzten.
Von Geburts-Helfern.
Von Kranken-Häusern.
Von Geburts-Häusern.
Für die Meldung gibt es einem Melde-Bogen.
Das ist ein Zettel.
Darauf steht wie das Kind heißt.
Wo es wohnt.
Wieso es gemeldet wird.
Ob es sprechen und laufen kann.
Ob es auf Klo gehen kann.
Ob es schon einmal in einem Kranken-Haus war.
Wie lange es leben wird.
Ob es wieder gesund wird.
Oder nicht.
Diese Kinder müssen die Ärzte und Geburts -Helfer melden:
Kinder mit Anfällen.
Kinder mit Down-Syndrom.
Kinder mit geistiger Behinderung.
Kinder mit körperlicher Behinderung.
Kinder mit einem »Wasserkopf«.
Kinder mit Lern-Schwierigkeiten.
Es gibt eine Belohnung für die Meldung.
Geburts-Helfer bekommen 2 Mark.
Das sind heute 80 Euro.
Das ist viel Geld.
Deswegen melden sie viele Kinder.
Besonders als es den Geburts-Helfern schlecht geht.
Wegen dem Krieg.
Erst gilt die Melde-Pflicht nur für Kinder unter 3 Jahre.
Im Jahr 1941 gilt der Befehl für auch für ältere Kinder.
Für alle Kinder unter 16 Jahre.
Im Oktober 1939 gilt die Melde-Pflicht für alle Patienten.
Jeder Patient in einer Anstalt muss gemeldet werden.
Es gibt einen neuen Melde-Bogen.
Darauf wird gefragt:
Bekommt der Patient Besuch?
Hat der Patient gegen das Gesetz verstoßen?
Ist der Patient Jude?
Oder Roma oder Sinti?
Arbeitet der Patient?
Der fertige Melde-Bogen wird nach Berlin geschickt.
In die Tiergarten-Straße 4.
Da ist ein Amt.
Es plant und organisiert den Patienten-Mord.
Das geht nur mit den Melde-Bögen.
Ohne Melde-Pflicht klappt der Mord nicht.
Durch die Melde-Pflicht können Ärzte entscheiden:
Der Mensch darf leben und der muss sterben.