»Kinder-Euthanasie«

Die Ermordung von Kindern und Jugendlichen unter dem Deckmantel des »Gnadentodes« ab 1939 war der Beginn der »Euthanasie«-Maßnahmen. Monate bevor erwachsene Psychiatrie- und Heiminsassen gemeldet und erfasst, selektiert und ermordet wurden, ordnete das Reichsministerium des Innern in seinem Erlass vom 18. August 1939 das sogenannte »Reichsausschussverfahren« an, das zunächst lediglich die Meldung und Zwangsunterbringung von unter Dreijährigen zum Zwecke der Selektion und Ermordung regelte. Die erste im Frühjahr 1940 hierfür eingerichtete »Kinderfachabteilung« befand sich in der Landesanstalt Görden in Brandenburg an der Havel. Mit der Ausweitung des Erlasses auf Jugendliche bis 16 Jahre kamen ab Herbst 1941 in einer zweiten Phase weitere Einrichtungen hinzu, so dass bis Kriegsende – wenn auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten – nachweislich 31 »Kinderfachabteilungen« existierten. Die »Kinderfachabteilung« Lüneburg ist eine von ihnen.

Der »Kinder-Euthanasie« fielen mindestens 5.000 Kinder und Jugendliche zum Opfer. Der Mord begann 1938 / 1939 und fand auch außerhalb der ab 1940 eingerichteten »Kinderfachabteilungen« statt. So gab es auch im Rahmen der »Aktion T4« und der »dezentralen Euthanasie« Morde an Kindern und Jugendlichen. Die jüngsten Opfer waren wenige Tage alt, die ältesten standen kurz vor ihrem 16. Geburtstag.

Nicht alle Einweisungen und Morde an den Kindern und Jugendlichen lassen sich mit dem sogenannten »Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden« in Verbindung bringen. Hierbei handelte es sich um ein Gutachtergremium bestehend aus den Medizinern Dr. Werner Catel, Prof. Dr. Hans Heinze und Dr. Ernst Wentzler. Sie hatten anhand der Melde-Unterlagen der Gesundheitsämter zu entscheiden, ob eine Anstalts- oder Heimunterbringung in eine »Kinderfachabteilung« und eine sogenannte »Behandlungsermächtigung« – quasi eine Berechtigung, medizinische Experimente durchzuführen und zu morden – zu befürworten waren. Die Unterlagen der Gesundheitsämter, auf die sich die Gutachter bezogen, stammten aus Meldungen von Hebammen, Frauen- und Kinderärzten, Fürsorger*innen, Lehrkräften etc. Unter die Meldepflicht fielen Kinder mit geistigen und körperlichen Behinderungen und Beeinträchtigungen (etwa Autismus-Spektrum, Syndrome / Trisomien), Epilepsie (»Anfälle«), Mikrocephalie (»zu kleines Gehirn«), Hydrocephalus (»Wasserkopf«) und nicht weiter spezifiziertes normenabweichendes Verhalten.

Oft wurde dieses Auswahlverfahren umgangen und es kam durch Eltern, Hebammen und Ärzte zu direkten Einweisungen. Auch mordeten die Ärzte oft, ohne die Behandlungsempfehlung des »Reichsausschusses« abzuwarten. Einziges Selektionskriterium war die Bildungs- und Entwicklungsfähigkeit eines Kindes bzw. Jugendlichen.

Ermordet wurden die Kinder mit überdosierten Medikamenten. Häufig wurden Barbiturate mit den Handelsnamen Luminal, Veronal, Trional bzw. Morphin eingesetzt. Sie wurden sowohl in Tablettenform (zerkleinert) dem Essen beigemengt als auch gespritzt, manchmal wurden sie auch kombiniert verabreicht. Die Überdosierung führte zu Atemlähmungen, Flachatmung, Kreislauf- und Nierenversagen. Durch die Medikamentengabe wurden in der Regel eine Lungenentzündung oder eine Bronchitis provoziert. Diese wurden dann als offizieller Sterbegrund angegeben. Ab 1943 kam es verstärkt auch zu Hungersterben.

Nach der Ermordung wurde den Kindern meistens das Gehirn entnommen. Die Hirnentnahme und untersuchung sollte der sogenannten »Erbforschung« dienen. Es galt festzustellen, was für die Behinderung ursächlich war. Zudem erhofften sich Ärzte in Universitätskliniken, die mit diesen Gehirn-Präparaten beliefert wurden, neurologische Erkenntnisse.

Etwa fünf Prozent der im Rahmen der »Euthanasie« ermordeten Kinder waren Geschwister. So kam es vor, dass die Geschwister Zeug*innen des Mordes an ihrer Schwester oder ihrem Bruder wurden.

Es gibt nur wenige Kinder und Jugendliche, die der »Euthanasie« entkamen. In Einzelfällen gelang es den Angehörigen, die Kinder mit Behinderungen sogar zu retten. Die als bildungs- und entwicklungsfähig beurteilten Kinder und Jugendlichen überlebten zwar, blieben jedoch oft selbst nach Kriegsende noch Jahrzehnte unfreiwillig in der Obhut von Psychiatrien und Heimen.