





Rudolf Hagedorn (Rudi) wurde am 2. September 1929 in Pommern geboren und kam mit seinen jüngeren Geschwistern Kurt und Ingrid sowie seiner Mutter infolge ihrer Flucht nach Soltau. Gemeinsam wurden sie in einem rund 10 m² großen Zimmer bei einer Familie Schenk untergebracht. Rudis Vater wurde bereits mit Kriegsausbruch als Soldat eingezogen. Nachdem der Vater weg war, übernahm Rudi eine wichtige und verantwortungsvolle Rolle als ältester Sohn. Die Arbeitsbedingungen der Mutter erforderten von ihm zudem die Übernahme häuslicher Aufgaben sowie die Versorgung und Betreuung seiner jüngeren Geschwister Kurt und Ingrid. Er pflegte einen liebevollen und fürsorglichen Umgang mit ihnen.
Der Hausherr in Soltau war grob zu den Geflüchteten. Die Kinder durften nicht auf dem Hof spielen. Äpfel, die auf dem Boden lagen, durften sie nicht essen. Um in ihr Zimmer zu gelangen, mussten die drei Kinder und die Mutter ein Zimmer des Hausherrn passieren, in dem er Korn lagerte und in dem es vor Mäusen wimmelte. Die Initiative, Rudi wegen hin und wieder auftretender epileptischer Anfälle als »anstaltsbedürftiges Kind« bei der Polizei zu melden, ging mutmaßlich von ihm aus. Die Meldung führte zur amtsärztlichen Begutachtung und schließlich zur Zwangseinweisung.
Am 2. März 1945 wurde Rudi gegen den Willen seiner Mutter von der Schutzpolizei von zu Hause abgeholt und in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg eingewiesen, obwohl er medikamentös eingestellt war und rechtzeitig Bescheid gab, wenn sich ein Anfall anbahnte.
Im Zuge der letzten Kriegswirren und der Kapitulation war es Rudis Mutter Margarete Hagedorn nicht möglich, ihren Sohn während seines Aufenthalts zu besuchen, sie erhielt keine Fahrerlaubnis. Rudis Versuche, während der erzwungenen, schweren Feldarbeit wegzulaufen, scheiterten. Den Aufzeichnungen der Anstalt ist ein zunehmender Gewichtsverlust zu entnehmen. Vermutlich infolge einer Mangelernährung entstanden starke Wassereinlagerungen. Epileptische Anfälle oder andere psychiatrisch zu behandelnde Auffälligkeiten hingegen blieben aus. Daher kam der Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Dr. Max Bräuner nur sechs Tage vor Rudis Tod zu der Einschätzung: »Wenn er erst wieder hergestellt ist, könnte m.E. dem Gedanken seiner Entlassung nähergetreten werden.«
Weitere sechs Tage nach seinem Hungertod am 27. Juni 1945 erkundigte sich Rudis Mutter besorgt nach seinem Gesundheitszustand. Niemand hatte sie über seinen Tod informiert. Weder sie, noch seine Geschwister konnten an Rudis Beerdigung teilnehmen und sich angemessen verabschieden. Margarete berichtete Rudis kleiner Schwester Ingrid später über ihren einzigen Besuch in der Heil- und Pflegeanstalt, dass man ihr die dreckige Kleidung ihres Sohnes übergeben und ihr mitgeteilt habe, sie könne ihren Sohn auf dem Friedhof besuchen.
Rudolf Hagedorn hat zwei Geschwister.
Sein Bruder heißt Kurt.
Seine Schwester heißt Ingrid.
Der Vater ist Soldat im Krieg.
Die Mutter ist bei ihren Kindern.
Sie kommen aus Pommern.
Das ist weit weg.
Das ist heute Polen.
Sie sind von dort nach Deutsch-Land geflüchtet.
Die Mutter muss arbeiten.
Rudolf passt auf seine Geschwister auf.
Er bringt Ingrid das Laufen bei.
Er hilft Ingrid und Kurt.
Er ist wie ein Vater für sie.
Nach der Flucht haben sie kein Zu-hause.
Sie haben keine eigene Wohnung.
Sie haben nur ein Zimmer.
Sie mieten es.
Sie sind vier und teilen sich das kleine Zimmer.
Dort gibt es auch Mäuse.
Der Vermieter ist kein guter Mensch.
Er mag keine Kinder.
Er ist böse zu ihnen.
Er mag auch Rudolf nicht.
Weil er Anfälle hat.
Der Vermieter geht zur Polizei.
Er sagt der Polizei:
Rudolf ist krank.
Rudolf muss in ein besonderes Kranken-Haus.
Seine Mutter will das nicht.
Sie sagt: Nein!
Aber die Polizei bringt Rudolf in das besondere Kranken-Haus.
Es ist egal was die Mutter und Rudolf wollen.
Die Mutter kann Rudolf nicht besuchen.
Sie hat kein Auto.
Sie hat kein Fahrrad.
Sie muss die Bahn nehmen.
Aber sie bekommt keinen Fahr-Schein.
Rudolf ist allein.
Er muss im Kranken-Haus arbeiten.
Er macht schwere Feld-Arbeit.
Das findet er nicht gut.
Er versucht weg-zu-laufen.
Er bekommt kaum zu essen.
Lange Zeit hat er keine Anfälle.
Deswegen sag ein Arzt:
Rudolf darf wieder nach Hause.
Aber dafür ist er zu schwach.
Rudolf schafft es nicht.
Er kommt nicht mehr nach Hause.
Er stirbt.
Er verhungert.
Das ist im Juni 1945.
Da ist der Krieg schon lange vorbei.
Da stirbt keiner mehr an Hunger.
Aber Rudolf.
Er ist fünf-zehn Jahre alt als er stirbt.
Seine Mutter weiß nichts davon.
Sie reist nach Lüneburg.
Sie will ihn besuchen.
Da ist er schon begraben.
Eine Pflegerin gibt ihr seine Sachen.
Sie sind dreckig.
Von der Feld-Arbeit.
Die Pflegerin sagt ihr:
Rudolf liegt auf dem Fried-Hof.
Martha Ossmer wurde am 22. Mai 1924 in Bremen geboren. Marthas Vater Christian war Arbeiter in einer Holzfabrik. Marthas Mutter Bertha war Hausfrau. Später bekam Martha noch zwei jüngere Schwestern, Elfriede und Käthe. Marthas Geburt war sehr schwer, es traten Komplikationen auf und sie musste mit der Geburtszange geholt werden. Weil der Schädelknochen durch die Zange deformiert worden war, drückte der Arzt den Schädel gewaltsam wieder zurück. Hierbei wurde wahrscheinlich Marthas Gehirn stark beschädigt. Die Folge war, dass Martha eine geistige Behinderung hatte. Sie konnte nicht sprechen, lernte erst spät laufen, konnte keine Treppen steigen. Bei vielen alltäglichen Dingen, wie beim Essen und dem Toilettengang, brauchte Martha Hilfe. Diese bekam sie auch von ihren Schwestern.
Ärzte rieten den Eltern immer wieder, Martha in ein Heim zu geben. Aber die Eltern wollten das nicht. Die Familie half sich gegenseitig, z. B. bei der Betreuung der Kinder und feierte gemeinsam Feste, wie Weihnachten. Martha war immer mit dabei. Sie ging nie auf eine Hilfsschule, sondern wurde immer von der Familie betreut.
Manchmal war Bertha mit der Pflege ihrer Tochter stark überlastet, hin und wieder schämte sie sich wohl auch für Marthas Behinderung. Dennoch blieb Martha bis ins 21. Lebensjahr auch durch die Unterstützung der Schwestern zu Hause. Erst durch die Bombardierungen durch die Alliierten entstand für die Familie eine Überforderung. Am 18. Juli 1944 wurde Martha in eine Nervenklinik in Bremen eingewiesen. Da dort kein Bett mehr frei war, wurde Martha am 23. Juli 1944 in die Lüneburger Heil- und Pflegeanstalt gebracht.
Der Vater besuchte Martha mindestens zweimal. Er brachte ihr einen Kuchen mit, den sie ganz schnell aufgegessen haben soll. Die Familie hatte da schon das Gefühl, dass Martha zu wenig zu essen bekam. Sie bekam über viele Monate hinweg zu wenig Nahrung. Am 18. April 1945, am Tag der Befreiung Lüneburgs durch die britischen Soldaten, starb Martha in der Anstalt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wurde sie durch Medikamente getötet. Die offizielle Todesursache lautete: »Grundleiden: Idiotie. Nachfolgendes Leiden: Erschöpfung.«
Martha Ossmer ist am 22. Mai 1924 geboren.
Sie lebt in Bremen.
Ihre Eltern sind Christian und Bertha.
Sie hat zwei Schwestern.
Sie heißen Elfriede und Käthe.
Die Geburt von Martha ist schwer.
Sie muss mit einer Zange geholt werden.
Dabei passiert ein Unfall.
Darum hat Martha eine Behinderung.
Martha kann nicht sprechen.
Sie kann keine Treppen gehen.
Sie braucht viel Hilfe.
Die Schwestern helfen ihr.
Die Familie von Martha hilft gerne.
Sie halten zusammen.
Martha geht nicht zur Schule.
Martha ist immer bei ihrer Familie.
Sie ist über-all dabei.
Es ist Krieg.
Viele Bomben fallen auf Bremen.
Martha muss in einen Keller.
Dort ist sie sicher.
Da ist Martha 20 Jahre alt.
Marthas Mutter sagt:
Ich kann Martha nicht mehr helfen.
Ich kann sie nicht in den Keller tragen.
Ich habe keine Kraft.
Ein Arzt sagt:
Martha muss in ein besonderes Kranken-Haus.
Da ist sie sicher.
Da hilft man ihr.
Das Kranken-Haus in Bremen ist voll.
Martha muss nach Lüneburg.
Dort hat das besondere Kranken-Haus ein Bett frei.
In Lüneburg bekommt Martha Besuch.
Es ist ihr Vater Christian.
Er bringt Kuchen mit.
Martha isst den ganz Kuchen alleine auf.
Sie hat Hunger.
Sie bekommt sehr wenig zu essen.
Und sie bekommt Medikamente.
Die Medikamente helfen ihr nicht.
Sie wird damit vergiftet.
Sie stirbt am 18. April 1945.
An dem Tag hört der Krieg in Lüneburg auf.
Heinz Knorr, geboren am 4. März 1932 in Artlenburg, war Sohn des Landwirts Heinrich Knorr und dessen Frau Frieda, geborene Rühmann. Sie heirateten am 22. April 1927. Wegen seiner geistigen Behinderung und eingeschränkten Sprache war es Heinz nicht möglich, die Dorfschule in Artlenburg zu besuchen. Der Hof war sein Lebensraum.
Um die Bewohner Artlenburgs vor Kriegshandlungen zu schützen, wurden am 21. April 1945 alle Bauernhöfe evakuiert. Die Familie Knorr wurde weitere vier Monate lang zunächst in einer Scheune, dann in einem Pferdestall in Vrestorf bei Bardowick untergebracht. Die heftigen Bombardements am Tag vor der Evakuierung überforderten Heinz, sodass er am Abend des 20. April 1945 weglief. Seine Mutter habe ihn tagelang gesucht, eine Vermisstenanzeige aufgegeben und in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg nach ihm gefragt.
Heinz Knorr wurde zwei Tage nach seinem Verschwinden von Polizeibeamten aufgegriffen und direkt in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg gebracht. Dort wurde er trotz seines jungen Alters von erst 13 Jahren von Arzt Gustav Marx in Haus 21 aufgenommen, einer Erwachsenenstation für Männer. Seine Identität blieb unbekannt, da er bis auf seinen Vornamen nur undeutliche Äußerungen von sich geben konnte. Die Ärzte und Pflegekräfte gingen davon aus, dass Heinz ein orientierungsloser Geflüchteter war.
Bis zum 8. Oktober 1945 hatte sich Heinz‘ Zustand so stark verschlechtert, dass er auf eine Pflegeintensivstation verlegt werden musste. Er war abgemagert und schwach. Zwei Tage später erlitt er Krampfanfälle. Seiner Krankenakte sind keine Maßnahmen zur Verbesserung oder gar Stabilisierung seines Gesundheitszustands zu entnehmen.
Heinz Knorr starb am 2. November 1945 in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg im Alter von 13 ½ Jahren. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhungerte er. Als Todesursache notierte der Arzt Rudolf Redepenning eine »abnorme organische Epilepsie«.
Am 6. November 1945 wurde Heinz anonym und ohne Beisein seiner Eltern auf dem Anstaltsfriedhof beerdigt, da sich der Arzt Rudolf Redepenning erst nach seinem Tod darum bemühte, Heinz‘ Identität zu klären. Ziel war es, Angehörige zu finden, die die entstandenen Pflegekosten bezahlen sollten. Zunächst wurde daher die Kriminalpolizei beauftragt, die Identität festzustellen. Dann wurden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Klinik befragt, ob jemand den jungen Mann kennen würde. Tatsächlich gab es einen Gärtnerlehrling, der Heinz wiedererkannte.
Die Kripo Lüneburg besuchte daraufhin Heinz‘ Eltern und zeigte ihnen ein Foto der Leiche. Sie erkannten Heinz und erhielten wenige Tage später die Rechnung für den Aufenthalt in der Heil- und Pflegeanstalt. Man versäumte dabei, den Eltern die genauen Umstände seines Todes und den Ort mitzuteilen, an dem er begraben worden war. Heinz‘ Schwester Thea gab sich damit nicht zufrieden. Bis zu ihrem Tod im Jahr 2015 versuchte sie herauszufinden, was wirklich mit Heinz geschehen war und wo sein Grab liegt, jedoch ohne Erfolg. Eine Lokalisierung des überbetteten Grabes gelang erst ein Jahr später. Im Gedenken an Heinz Knorr wurde am 4. September 2016 im Beisein der Angehörigen eine Geschichts- und Erinnerungstafel enthüllt.
Der Rühmannsche Hof im Stremel 7, wo Heinz aufwuchs, existiert noch. Heinz‘ Schwester Thea verkaufte ihn im Jahr 1978, seitdem wird er vermietet.
Heinz Knorr ist im Jahr 1932 in Artlenburg geboren.
Das ist ein Dorf nicht weit weg von Lüneburg.
Heinz Vater heißt Heinrich.
Die Mutter heißt Frieda.
Sie haben einen großen Bauern-Hof.
Heinz hat eine ältere Schwester.
Das ist Thea.
Und einen jüngeren Bruder.
Sein Name ist Günther.
Heinz hat eine geistige Behinderung.
Er kann kaum sprechen.
Er geht nie zur Schule.
Heinz ist immer auf dem Bauern-Hof.
Im April 1945 ist Heinz 13 Jahre alt.
Der Krieg ist fast zu Ende.
Aber es wird noch gekämpft.
Darum soll die Familie von Heinz weg von ihrem Bauern-Hof.
Heinz versteht das nicht.
Und er hat Angst.
Darum läuft er weg.
Die Polizei findet Heinz.
Heinz weiß aber nur seinen Vornamen.
Er weiß nicht wo er wohnt.
Die Polizei bringt ihn in die Anstalt nach Lüneburg.
Das ist ein besonderes Kranken-Haus.
Keiner weiß:
Das ist Heinz Knorr aus Artlenburg.
Seine Familie sucht ihn überall.
Aber sie findet ihn nicht.
Die Mutter fragt auch bei der Polizei.
Und in der Lüneburger Anstalt.
Aber die sagen immer Nein.
Heinz bleibt in der Anstalt.
Die Ärzte schreiben über ihn:
Heinz ist dumm.
Er kann ganz schlecht sprechen.
In der Anstalt geht es Heinz schlecht.
Er bekommt nichts zu essen.
Er wird immer dünner und schwächer.
Die Ärzte helfen ihm nicht.
Am 2. November 1945 stirbt Heinz.
Er ist verhungert.
Er ist ein Opfer der De-Zentralen Euthanasie.
In der Anstalt gibt es einen Gärtner-Lehrling.
Der kommt auch aus Artlenburg.
Er hat von Heinz gehört.
Er sagte:
Das ist vielleicht Heinz Knorr.
Die Ärzte machen ein Foto von Heinz.
Da ist er schon tot.
Heinz wird am 6. November 1945 begraben.
Seine Familie weiß das nicht.
Heinz wird ohne sie beerdigt.
Danach zeigt die Polizei den Eltern das Foto von Heinz.
Die Eltern sind traurig.
Jetzt wissen sie wo Heinz die ganze Zeit war.
Sie wissen nun:
Heinz ist tot.
Aber nicht warum.
Dann bekommen die Eltern noch eine Rechnung.
Von der Anstalt.
Die Eltern sollen viel Geld bezahlen.
Für die Pflege in der Anstalt.
Eigentlich für den Mord.
Aber das wissen die Eltern nicht.
Und sie bezahlen die Rechnung.
Die Eltern erzählen den Geschwistern Thea und Günther nicht viel.
Nur dass Heinz weg-gelaufen ist.
Und dass er tot ist.
Thea will später mehr wissen.
Aber sie findet nichts heraus und stirbt.
Dann forscht ein Mann aus Artlenburg noch mal nach.
Er fragt auch eine Wissenschaftlerin von der Gedenk-Stätte.
Die findet dann alles über Heinz heraus.
Und sie schreibt alles auf.
So wird Heinz nicht vergessen.
Die Geschwister Glass wurden in Hamburg-Wilhelmsburg geboren, Gertrud am 10. August 1916, Herbert am 4. September 1919 und Gerhard am 25. März 1921. In den 1930er-Jahren zogen sie mit ihren Eltern Melitta Glass (geb. Döge) und Kurt Glass nach Sassendorf in den Landkreis Lüneburg. Die bürgerliche Familie lebte zurückgezogen.
Als die Geschwister Glass am 4. Oktober 1934 vom Lüneburger Nervenarzt Dr. Wilhelm Vosgerau beim Gesundheitsamt als »schwachsinnig« gemeldet wurden, war Gertrud Glass 18 Jahre alt, ihr Bruder Herbert 15 und der jüngste Bruder Gerhard 13 Jahre. Die drei amtsärztlichen Gutachten wurden nicht nur alle am gleichen Tag (12. November 1937) angefertigt, sie sind auch inhaltlich weitgehend identisch. Eine Woche später wurden die Unfruchtbarmachungen der drei Geschwister aufgrund von »Idiotie« angezeigt. Am 17. Januar 1938 beschloss das Erbgesundheitsgericht Lüneburg die Zwangssterilisationen.
Der Widerspruch des Vaters wurde vor dem Erbgesundheitsobergericht in Celle in allen drei Fällen zurückgewiesen. In den wortgleichen Urteilen über Gertrud, Herbert und Gerhard Glass heißt es: »Alle drei Kinder sind hochgradig schwachsinnig. Der äußere Eindruck ist ganz unverkennbar der eines Idioten. Eine Intelligenzprüfung ist mit keinem der Geschwister möglich. […]« Die Geschwister Glass wurden daraufhin am 6. und 7. Juli 1938 im Lüneburger Krankenhaus zwangssterilisiert. Zwei Monate später zeigte sich bei ihrem Vater eine seelische Erkrankung, die eine Einweisung in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg erforderlich machte. Ein Jahr später starb er infolge einer »progressiven Paralyse«.
Melitta Glass, nunmehr Witwe, lebte in den folgenden Jahren mit ihren drei inzwischen erwachsenen Kindern, weiter in Sassendorf. Am 11. April 1942 empfahl der Amtsarzt Dr. Hans Rohlfing, alle drei Geschwister in die Anstalt einzuweisen.
Am 13. Mai 1942 wurden die drei Geschwister polizeilich in die Anstalt zwangseingewiesen. Ihre Mutter Melitta besuchte ihre erwachsenen Kinder am 4. Juni 1942, am 7. November 1942 und am 8. Mai 1943. Am 8. September 1943 wurden die drei Geschwister in die Landesheilanstalt Pfafferode verlegt. »Pfafferode« gehörte zu den Anstalten, in die nach dem Ende der »Aktion T4« Patientinnen und Patienten deportiert wurden, um sie dort durch gezielte Fehl- und Mangelversorgung sterben zu lassen. Von den Geschwistern Glass starb Gerhard als erster, nur sechs Monate nach seiner Ankunft in Pfafferode, am 7. März 1944. Einen Monat später war auch Herbert tot. In seiner Sterbemitteilung steht: »Der am 8.9.43 in die hiesige Anstalt verlegte Herbert Glass aus Sassendorf, geboren am 4.9.19 in Wilhelmsburg ist am 15.5.1944 gestorben. Diagnose: Idiotie. Todesursache: Marasmus.« Bei Herbert wurde nicht einmal der Versuch unternommen, die wahre Todesursache zu verschleiern. Ein Jahr später, am 14. Mai 1945, starb auch Gertrud Glass.
Gertrud Glass ist im Jahr 1916 geboren.
Sie hat zwei jüngere Brüder.
Herbert ist im Jahr 1919 geboren.
Gerhard ist im Jahr 1921 geboren.
Die Familie wohnt in der Nähe von Lüneburg.
Sie haben wenig Kontakt zu anderen.
Ein Arzt aus Lüneburg sagt:
Die drei Geschwister sind schwach-sinnig.
Das ist im Jahr 1934.
Da ist Gertrud acht-zehn Jahre alt.
Herbert ist fünf-zehn und Gerhard ist drei-zehn Jahre alt.
In allen drei Arzt-Briefen steht fast das gleiche.
Der Arzt schreibt die Briefe am gleichen Tag.
Das ist im November 1937.
Eine Woche später macht das Gesundheits-Amt eine Anzeige.
Die drei Geschwister sollen zwangs-sterilisiert werden.
Sie sollen un-fruchtbar gemacht werden.
Und keine Kinder bekommen.
Danach bestimmt das Gesundheits-Gericht:
Alle drei sollen operiert werden.
Das ist im Januar 1938.
Der Vater macht eine Beschwerde.
Er sagt:
Nein!
Aber das Gericht sagt Nein zu der Beschwerde.
Im Urteil steht:
Alle müssen operiert werden.
Gegen ihren Willen.
Die drei Geschwister werden zwangs-sterilisiert.
Das passiert im Juli 1938.
Sie werden im Lüneburger Kranken-Haus operiert.
Zwei Monate später wird der Vater krank.
Er kommt in die Lüneburger Anstalt.
Ein Jahr später stirbt er.
Die Mutter ist alleine mit den drei Kindern.
Alle sind jetzt erwachsen.
Im April 1942 kommt der Amts-Arzt zu der Familie.
Er sagt:
Alle drei Geschwister sollen in eine Anstalt.
Die drei Geschwister kommen in eine Anstalt.
Das ist am 13. Mai 1942.
Die Polizei bringt sie dort hin.
Die Mutter besucht ihre Kinder.
Sie kommt im Juni 1942.
Und im November 1942.
Und im Mai 1943.
Im September 1943 werden die Geschwister verlegt.
Sie kommen in eine andere Anstalt.
Sie kommen nach Pfafferode.
Dort bekommen die Patienten zu wenig zu essen.
Sie sollen sterben.
Sie werden ermordet.
Gerhard stirbt am 7. März 1944.
Einen Monat später stirbt Herbert.
Ein Arzt schreibt:
Herbert ist verhungert.
Es ist kein Geheimnis mehr.
Aber niemand interessiert sich dafür.
Obwohl es Mord ist.
Bis heute.
Auch Gertrud stirbt.
Auch in der Lüneburger Heil- und Pflegeanstalt wurde »dezentrale Euthanasie« praktiziert. Wie viele Patient*innen infolge der »dezentralen Euthanasie« in Lüneburg ermordet wurden, befindet sich derzeit in Erforschung. Diese Gruppen lassen sich identifizieren:
• Patient*innen aus der Heil- und Pflegeanstalt Hamburg-Langenhorn und der Stiftung Eben-Ezer,
• Patient*innen in der »Ausländersammelstelle« sowie
• erwachsene Patient*innen mit Behinderungen, für deren Aufnahme die Lüneburger Anstalt die Zuständigkeit hatte.
Die Sterberate unter den erwachsenen Patient*innen erreichte in den Jahren 1944 und 1945 mit bis zu 27 Prozent eine Rekordhöhe. Das heißt, nahezu ein Viertel der Patient*innen überlebte die Lüneburger Psychiatrie nicht und wurde möglicherweise Opfer der »dezentralen Euthanasie«. Auch nach der Befreiung Lüneburgs ging das Sterben in der Psychiatrie an Hunger, Mangel- und Fehlversorgung nahezu unvermindert weiter. Bis in den Sommer 1946 finden sich in den Sterbeurkunden die Todesursachen »Marasmus« und »Nahrungsmangel«. Auch gibt es viele Patient*innen, die sich in der Anstalt tödlich mit Tuberkulose infizierten.
Darüber hinaus kam es nach dem Ende der »Aktion T4« unvermindert zu »planwirtschaftlichen Verlegungen« in die »dezentrale Euthanasie«. So wurden in den Jahren 1942 und 1943 einzelne Patient*innen in die Tötungsanstalt Hadamar verlegt. Am 8. September 1943 wurden rund 300 Lüneburger Patient*innen in die Tötungsanstalt Pfafferode in Thüringen verlegt. Am 31. März 1944 kam es zu einer Verlegung von Patienten (nur Männer) aus der »Sicherungsunterbringung« (forensische Psychiatrie) in das Konzentrationslager Neuengamme. Am 11. Juni, 20. November und 20. Dezember 1944 kam es zu Verlegungen von Patient*innen ausländischer Herkunft an einen noch nicht identifizierten Ort, um sie dort mutmaßlich der Tötung zuzuführen.
De-Zentrale Euthanasie Lüneburg
Auch in Lüneburg gibt es De-Zentrale Euthanasie.
Auch in der Anstalt in Lüneburg werden Patienten ermordet.
Mit Medikamenten.
Und durch Hunger.
Und durch Tuberkulose.
Diese Gruppen waren in Lüneburg:
Patienten aus einer Anstalt aus Hamburg.
Sie kommen nach Lüneburg.
Und viele werden ermordet.
Patienten aus dem Ausland.
In der Ausländer-Sammel-Stelle.
Erwachsene Patienten mit Behinderungen.
Jeder vierte Patient stirbt in der Lüneburger Anstalt.
Das ist sehr viel.
Das ist viel mehr als vor dem Krieg.
Der Mord hört auch nach dem Krieg nicht auf.
Die De-Zentrale Euthanasie hört erst im Sommer 1946 auf.
Da ist der Krieg schon über 1 Jahr vorbei.
Viele 100 Patienten aus Lüneburg werden plan-wirtschaftlich verlegt.
Das heißt:
Man braucht Platz in der Anstalt.
Darum müssen viele Patienten weg.
Nachdem die Aktion T4 schon vorbei ist.
Jetzt werden sie verlegt.
In die De-Zentrale Euthanasie.
Sie kommen wieder in die Anstalt Hadamar.
Die ist in Hessen.
Oder in das Konzentrations-Lager Neuen-Gamme.
Das ist in Hamburg.
Oder in die Anstalt Pfafferode.
Das ist in Thüringen.
Oder nach Meseritz-Obra-Walde?
Das ist in Polen.
Bei der letzten Anstalt ist das nicht sicher.
Aber Hadamar, Neuen-Gamme und Pfafferode sind sicher.
Viele Patienten werden dort ermordet.
Diesmal nicht mit Gas.
Sondern mit Medikamenten.
Und durch Verhungern.
In Neuen-Gamme auch durch Zwangs-Arbeit.
Wir wissen nicht wie viele ermordet sind.
Das finden wir gerade heraus.
Nach dem Ende der »Aktion T4« wurde das Morden von Patient*innen fortgeführt durch Mangel- und Fehlversorgung sowie Medikamentenmissbrauch. Da dieser Patientenmord nicht mehr zentral in fünf Tötungsanstalten und einem Zuchthaus stattfand, sondern prinzipiell in allen Anstalten, Heimen und Kliniken möglich und erwünscht war, wird er in der Forschung als »dezentrale Euthanasie« bezeichnet.
Trotz des »dezentralen« Charakters dieser zweiten Phase der »Euthanasie«, die ab Sommer 1941 und bis in den Sommer 1946 festgestellt werden kann, lassen sich Tötungszentren identifizieren, in die es weiterhin »planwirtschaftliche Verlegungen« zum Zweck der Ermordung gegeben hat. Zu nennen sind etwa die Anstalten Hadamar, Pfafferode und Meseritz-Obrawalde. In diese Anstalten gab es Sammeltransporte mit Patient*innen, die ausschließlich den Zweck verfolgten, die beförderten Menschen am Zielort mit Medikamenten oder durch Nahrungsentzug zu ermorden.
Im Jahr 1944 erfuhr der »dezentral« organisierte und praktizierte Mord eine Ausweitung. Aufgrund des fortschreitenden Bombenkrieges der Alliierten wurden mit dem Mord nicht mehr nur rassenhygienische und ökonomische Ziele verfolgt, wie das Streben nach »Erbgesundheit« und das Einsparen von Pflegekosten, sondern er diente dem Zweck, Nutzungskapazitäten für öffentliche Einrichtungen zu schaffen. Um die Räumlichkeiten der Anstalten, Heime und Kliniken alternativ und vor allem »kriegswichtig« nutzen zu können, wurden provisorische »Ausweichkrankenhäuser« eingerichtet, in denen Menschen mit Behinderungen, Tuberkulose-Erkrankte, Fürsorgezöglinge, Arbeitsinvalidinnen, zwangsverschleppte Ostarbeiterinnen, Geflüchtete, durch Bombenangriff Traumatisierte und kriegsverwundete Soldaten konzentriert und durch Mangel- und Fehlversorgung ermordet wurden.
Insgesamt wurden nach aktuellen Schätzungen bis Sommer 1946 weit über 200.000 Patient*innen Opfer der »dezentrale Euthanasie«. Eine abschließende Feststellung der genauen Opferzahl ist bis auf weiteres unmöglich, da reichsweit in jeder Einrichtung Morde möglich waren und vielerorts auch praktiziert wurden, wenn auch in geringerem Umfang als beispielsweise in den Anstalten in Hadamar, Pfafferode und Meseritz-Obrawalde.
Euthanasie heißt Patienten-Mord.
In der Zeit des National-Sozialismus.
De-Zentral heißt nicht an einem Ort.
Nicht in einer oder wenigen Anstalten.
Sondern eigentlich in allen möglichen Anstalten und Heimen.
De-Zentrale Euthanasie heißt also der Mord an Psychiatrie-Patienten.
Egal in welchem Heim.
Und egal in welchem besonderen Kranken-Haus.
Das fängt nach der Aktion T4 an.
Und es geht bis weit nach dem Krieg.
Der Krieg endet im Mai 1945.
Aber die De-Zentrale Euthanasie geht noch 1 Jahr länger.
1 Jahr länger werden Patienten ermordet.
Obwohl der Krieg aus ist.
Die Patienten werden mit Medikamenten ermordet.
Sie bekommen zu viel von dem Medikament.
Sie werden vergiftet.
Sie sterben an einer Über-Dosis von dem Medikament.
Oder die Patienten sterben an Hunger.
Die Ärzte und Pfleger geben ihnen nichts zu essen.
Und auch nichts zu trinken.
Ode die Patienten sterben an einer Lungen-Tuberkulose.
Das ist eine tödliche Krankheit.
Sie ist sehr ansteckend.
Die Patienten stecken sich in den Anstalten und Kliniken an.
Das darf eigentlich gar nicht sein.
Wegen der notwendigen Sauberkeit und Hygiene in Kranken-Häusern.
Und es stecken sich auch nicht alle an.
Nur die die die National-Sozialisten nicht haben wollen.
Nur die die sterben sollen stecken sich an.
Vielleicht passiert das mit Absicht?
Das wird gerade erforscht.
Im Jahr 1944 werden besonders viele Patienten ermordet.
Der Grund ist:
Die Krankenzimmer werden gebraucht.
Zum Beispiel als Schule.
Oder als Amt.
Weil die eigentliche Schule durch eine Bombe zerstört ist.
Und das Amt auch.
Insgesamt werden über 2 hundert Tausend Patient*innen ermordet.
Sie sind Opfer der de-zentralen Euthanasie.
Die genaue Zahl ist nicht bekannt.
Weil fast in jedem Heim und in jeder Anstalt gemordet wird.
Im National-Sozialismus.
Am meisten in den Anstalten
Hadamar
Pfaffeode
Und Meseritz-Obra-Walde.
Da sterben viele Tausend Menschen mit Behinderungen und seelischen Erkrankungen.
An zu viel Medikamenten.
An Hunger.
An Tuberkulose.
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