Die Geschwister Glass wurden in Hamburg-Wilhelmsburg geboren, Gertrud am 10. August 1916, Herbert am 4. September 1919 und Gerhard am 25. März 1921. In den 1930er-Jahren zogen sie mit ihren Eltern Melitta Glass (geb. Döge) und Kurt Glass nach Sassendorf in den Landkreis Lüneburg. Die bürgerliche Familie lebte zurückgezogen.
Als die Geschwister Glass am 4. Oktober 1934 vom Lüneburger Nervenarzt Dr. Wilhelm Vosgerau beim Gesundheitsamt als »schwachsinnig« gemeldet wurden, war Gertrud Glass 18 Jahre alt, ihr Bruder Herbert 15 und der jüngste Bruder Gerhard 13 Jahre. Die drei amtsärztlichen Gutachten wurden nicht nur alle am gleichen Tag (12. November 1937) angefertigt, sie sind auch inhaltlich weitgehend identisch. Eine Woche später wurden die Unfruchtbarmachungen der drei Geschwister aufgrund von »Idiotie« angezeigt. Am 17. Januar 1938 beschloss das Erbgesundheitsgericht Lüneburg die Zwangssterilisationen.
Der Widerspruch des Vaters wurde vor dem Erbgesundheitsobergericht in Celle in allen drei Fällen zurückgewiesen. In den wortgleichen Urteilen über Gertrud, Herbert und Gerhard Glass heißt es: »Alle drei Kinder sind hochgradig schwachsinnig. Der äußere Eindruck ist ganz unverkennbar der eines Idioten. Eine Intelligenzprüfung ist mit keinem der Geschwister möglich. […]« Die Geschwister Glass wurden daraufhin am 6. und 7. Juli 1938 im Lüneburger Krankenhaus zwangssterilisiert. Zwei Monate später zeigte sich bei ihrem Vater eine seelische Erkrankung, die eine Einweisung in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg erforderlich machte. Ein Jahr später starb er infolge einer »progressiven Paralyse«.
Melitta Glass, nunmehr Witwe, lebte in den folgenden Jahren mit ihren drei inzwischen erwachsenen Kindern, weiter in Sassendorf. Am 11. April 1942 empfahl der Amtsarzt Dr. Hans Rohlfing, alle drei Geschwister in die Anstalt einzuweisen.
Am 13. Mai 1942 wurden die drei Geschwister polizeilich in die Anstalt zwangseingewiesen. Ihre Mutter Melitta besuchte ihre erwachsenen Kinder am 4. Juni 1942, am 7. November 1942 und am 8. Mai 1943. Am 8. September 1943 wurden die drei Geschwister in die Landesheilanstalt Pfafferode verlegt. »Pfafferode« gehörte zu den Anstalten, in die nach dem Ende der »Aktion T4« Patientinnen und Patienten deportiert wurden, um sie dort durch gezielte Fehl- und Mangelversorgung sterben zu lassen. Von den Geschwistern Glass starb Gerhard als erster, nur sechs Monate nach seiner Ankunft in Pfafferode, am 7. März 1944. Einen Monat später war auch Herbert tot. In seiner Sterbemitteilung steht: »Der am 8.9.43 in die hiesige Anstalt verlegte Herbert Glass aus Sassendorf, geboren am 4.9.19 in Wilhelmsburg ist am 15.5.1944 gestorben. Diagnose: Idiotie. Todesursache: Marasmus.« Bei Herbert wurde nicht einmal der Versuch unternommen, die wahre Todesursache zu verschleiern. Ein Jahr später, am 14. Mai 1945, starb auch Gertrud Glass.
Gertrud Glass auf dem Amtsärztlichen Gutachten über die Sterilisation, 1937. Als Begründung der Diagnose »Idiotie« ist unter anderem angegeben, beide Geschwister seien »ebenfalls Idioten«.
NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88Nr. 1560.
Gerhard Glass auf dem Amtsärztlichen Gutachten über die Sterilisation, 1937.
NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1630.
Sterbemitteilung über Herbert Glass der Landesheilanstalt Pfafferode an das Gesundheitsamt Lüneburg vom 15.5.1944.
NLA Hannover 138, Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1629.