Die Einrichtung der »Kinderfachabteilung« der Provinzial- Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg fällt in die zweite Phase der »Kinder-Euthanasie«. Anfang Oktober 1941 wurde die »Kinderfachabteilung« unter ärztlicher Leitung von Dr. Willi Baumert eingerichtet. Die ersten nach Lüneburg verlegten Kinder waren 138 Kinder und Jugendliche aus den Rotenburger Anstalten der Inneren Mission. 88 Prozent von ihnen starben, überwiegend in den Jahren 1942 und 1943. Nur neun Jungen und sieben Mädchen überlebten.
Baumert »untersuchte« die über den »Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden« oder über Kinder- und Haus- wie Amtsärzte direkt eingewiesenen Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen und normenabweichendem Verhalten. Bei schlechter Prognose veranlasste er ihre Ermordung mit Medikamenten oder durch Nahrungsentzug (»Hungerkost«). Zudem gibt es Hinweise darauf, dass es auch Arzneimittelerprobungen gegeben hat.
In die Lüneburger »Kinderfachabteilung« wurden bis August 1945 mindestens 737 Kinder und Jugendliche eingewiesen. Unter ihnen befanden sich 35 Geschwisterkinder. Untergebracht war die Abteilung in drei zweigeschossigen Gebäuden. In Haus 25 waren Jungen (im Erdgeschoss) und Mädchen (im Obergeschoss) untergebracht. In Haus 23 kamen nur Jungen. 1944 wurde auch das Haus 24 mitgenutzt. Die Kinder und Jugendlichen wurden von 21 Pflegekräften beaufsichtigt. Bis 1943 war Willi Baumert nur in Teilzeit nach Lüneburg abgeordnet. Bis September 1944 übte er seine ärztliche Tätigkeit in Vollzeit aus. Nach Baumerts Wiedereinberufung in die Wehrmacht übernahm Max Bräuner die ärztliche Leitung der »Kinderfachabteilung«.
Die für schulfähig befundenen Kinder und Jugendlichen (über 100) wurden nach Lemgo in eine Einrichtung der Stiftung Eben-Ezer weiterverlegt. Rund 70 Prozent der verbliebenen Patient*innen wurden ermordet. Anschließend wurden die Leichen von Baumert bzw. Bräuner zu Forschungszwecken seziert, entnommene Gehirne gab die Anstalt an die Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf ab.
Das Einzugsgebiet der Lüneburger »Kinderfachabteilung« erstreckte sich nicht nur über Niedersachsen, sondern reichte auch bis nach Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Bremen und Bremerhaven. Nach Auflösung der »Kinderfachabteilung« Waldniel in der Nähe von Düsseldorf wurden auch diese Kinder nach Lüneburg verlegt.
Mindestens 425 Kinder und Jugendliche überlebten den Aufenthalt in der Lüneburger Anstalt nicht. Bei 61 weiteren Kindern und Jugendlichen ist unklar, ob sie überlebten. Unter den ermordeten Kindern und Jugendlichen befinden sich auch Kinder mit Romno-Hintergrund sowie Kinder und Jugendliche aus den Niederlanden und Belgien.
Über 300 Kinderleichen wurden auf dem Anstaltsfriedhof, vorwiegend auf einem »Kindergräberfeld« bestattet, vier Kindergräber sind dort heute noch erhalten. Ein Kindergrab liegt auf dem Lüneburger Zentralfriedhof.
Die letzte Aufnahme in die »Kinderfachabteilung« Lüneburg erfolgte am 13. August 1945. Nach der Suspendierung von Max Bräuner übernahm sein Nachfolger Dr. Rudolf Redepenning die Leitung. Die »Kinderfachabteilung« wurde in »Kinderabteilung« umbenannt. Die Bedingungen der Unterbringung und Versorgung änderten sich erst allmählich, sodass das Hungersterben in der ehemaligen »Kinderfachabteilung« noch bis in den Herbst 1945 andauerte.