Die Zwillingsbrüder Herbert und Willi Köhler wurden am 18. August 1928 in Groß-Lobke im Landkreis Hildesheim geboren. Sie hatten einen jüngeren Bruder, Friedel. Die Mutter Berta Köhler (geborene Meier) war eine ehemalige Kinderpflegerin und der Vater Willi Köhler ausgebildeter Schuhmachermeister. Die Zwillinge seien entwicklungsverzögert gewesen. Willi ging dennoch bis zur achten Klasse in die Schule, Herbert hingegen wurde nicht beschult.
Als fast 15-Jährige gehörten sie zu den wenigen Jugendlichen unter den Patientinnen und Patienten der »Kinderfachabteilung«. Sie wurden am 7. Juni 1943 durch Oberpflegerin Wolf in Haus 23 aufgenommen.
Die Initiative war von der Mutter ausgegangen. Sie wollte ihre Söhne überprüfen lassen, ob sie einer Arbeit nachgehen könnten. Herbert und Willi sollten unter Umständen in der Anstalt sogar einen Beruf erlernen. Außerdem ging sie auf Kur und benötigte eine Unterbringung für ihre Söhne, da der Vater der Kinder im Krieg gestorben war. Da keine Zweifel bestanden, dass die Aufnahme bewilligt werde, kündigte der Sachbearbeiter im gleichen Schreiben an, dass die Mutter Berta Köhler ihre Kinder am 7. Juni 1943 persönlich in die Anstalt bringen werde. Da man es offenbar sehr eilig hatte, die Kinder in der »Kinderfachabteilung« unterzubringen, hatte man sie sogar schon bei der Meldebehörde abgemeldet, einschließlich Abmeldung der Lebensmittelkarten.
Willi wurde zunächst in der Schneiderei und Schusterei eingesetzt, jedoch als »unbrauchbar zurückgebracht«. Herbert wurde in der Korbflechterei beschäftigt, allerdings ebenfalls als »unbrauchbar« beurteilt. Infolgedessen mussten beide fortan in der Feldkolonne arbeiten. Die Mutter war in großer Sorge um ihre Zwillinge, nachdem sie erfuhr, dass die Arbeitsversuche nicht erfolgversprechend waren.
In der Krankengeschichte von Herbert folgte trotz gesundheitlicher Angeschlagenheit für das restliche Jahr 1943 nur ein Eintrag. Da die Mutter in großer Sorge um ihre Zwillinge blieb, stattete sie beiden am 4. Januar 1944 einen Besuch ab. Der Besuch erschütterte Berta Köhler. Sie fand ihre Kinder trotz eisiger Kälte nackt im Bett auf. Zudem mussten die Kinder ab nachmittags Bettruhe halten und aßen dort auch ihr Abendessen. Daraufhin schrieb sie mehrere Beschwerdebriefe an den Ärztlichen Direktor und drohte damit, sogar den Reichsgesundheitsführer Leonard Conti einzuschalten. Berta schrieb auch an ihre Zwillinge einen Brief und machte ihnen Mut durchzuhalten, bis sie eine Lösung gefunden habe. Berta Köhlers Anschuldigungen wurden von Willi Baumert dementiert.
Nach ihren Meldungen und Beschwerden wurde Berta Köhler schikaniert. So wurde ihr eine Reise-Erlaubnis nach Lüneburg nur dann erteilt, wenn sie eine Bescheinigung der Anstalt vorbrachte, dass ihre Besuche gewünscht seien. Später verhinderte der Kriegsverlauf weitere Besuche. Herberts Gesundheitszustand verschlechterte sich unterdessen im Winter 1944/1945. Ende Januar 1945 wog der inzwischen 16-Jährige nur noch 28,5 kg. Er starb am 22. März 1945 offiziell an einer »Lungenentzündung«. Dies kann bezweifelt werden, zumal die Erkrankung erst einen Tag zuvor ausgebrochen sein soll. Herberts Zwillingsbruder Willi war während seines Siechtums bei ihm. Ihn traf der Tod seines Bruders hart. Berta Köhler erfuhr vom Tod ihres Sohnes erst einen Monat später. Sie beschloss daraufhin, Willi zu retten – mit Erfolg. Am 29. April 1945 holte sie in nach Hause. Er überlebte.
Schreiben des Landkreises Hildesheim, 3.6.1943.
NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 290.
Nach der formlosen Aufnahme quasi »auf Zuruf«, ohne jegliche medizingutachterliche und somit auch rechtliche Grundlage, wurde das amtsärztliche Gutachten lediglich pro forma nachgefordert.
Schreiben der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg, 10.6.1943.
NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 290.
»Ich bitte freundlich um einen kl. Bericht über meine Kinder Willi u. Herbert Köhler. Insbesondere wie es ihnen geht, und in welcher Art sie sich beschäftigen. Da ich am 5. Juli nach Wildungen zur Kur fahre, wäre es mir sehr lieb vorher noch zu berichten.« Postkarte von Berta Köhler, 29.6.1943.
NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 290.
»Entschuldigen Sie bitte wenn ich nochmal an Sie schreibe, ich muß diese Tage so an Herbert denken, und habe schon schlaflose Nächte dadurch, ob es ihm wohl schlechter geht […]. Grüßen Sie bitte meine lieben Kinder und ich hoffe dass Willi nun auch seine Beschäftigung hatt, denn er hatt«
Schreiben an die Heil- und Pflegeanstalt, 30.8.1943 (Vorderseite).
NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 290.
Todesanzeige (Rückseite), 23.3.1945.
NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 290.