Marie Wege und Wilhelm Saul

Wilhelm Saul sen. und seine Frau Wilhelmine betrieben einen kleinen Hof in Scharnebeck, Im Fuchsloch 13, mit einigen Schweinen und Kühen und einer Scheune mit Getreide, Stroh und Heu. Das Leben auf dem Hof war geprägt von harter Arbeit und der Zugehörigkeit zu einer selbstständigen evangelischen Kirche (SELK). Es war eine Gemeinschaft, die unter sich blieb. Das Ehepaar hatte fünf Kinder: Marie, Minna, Wilhelm jun., Anna und Emma. Weil es keine Angestellten gab, mussten die Kinder früh mit anpacken.

Die Töchter arbeiteten nach Beendigung der Schule auf verschiedenen Höfen als Haushaltshilfen und lernten dort meist ihre späteren Ehemänner kennen. Minna heiratete 1930 den Landwirt Johannes Schmidt aus Stelle. Die jüngste Tochter Emma heiratete den Stellmacher Wilhelm Schlichting aus Südergellersen. Anna heiratete 1938 Hermann Tiedge. Die älteste Tochter Marie heiratete 1931 den sechs Jahre jüngeren Brunnenbauer Hans Wege. Maries Vater Wilhelm sen. erwarb für Marie und ihren Mann eine kleine Hofstelle in Brietlingen, wo die Familie Wege fortan lebte und arbeitete.

Maries Ehemann Hans Wege brachte eine voreheliche Tochter mit in die Ehe, es folgten drei weitere gemeinsame Kinder: Hans-Heinrich, Marianne und Hildegard. Am 8. April 1938 stellte Hans Wege bei der Gemeinde Brietlingen einen Antrag auf einmalige Kinderbeihilfe. Von diesem Moment an gerieten die Familien Wege und Saul in den Fokus der nationalsozialistischen »Eugenik«. Obwohl Marie zwischen August und Dezember 1928 Patientin der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg gewesen war, bescheinigte das Gesundheitsamt, dass bezüglich des Antrags auf Gewährung einer einmaligen Kinderbeihilfe keine »schwerwiegenden gesundheitlichen Bedenken« bestehen.

Der Antrag auf Kinderbeihilfe blieb dennoch nicht folgenlos. Eine ein Jahr zuvor gestellte Sterilisationsanzeige über Wilhelm Saul jun. wurde nun zum Anlass, auch ihn ins Gesundheitsamt vorzuladen und zu überprüfen. Es wurde eine »Sippentafel« erstellt. Begleitet von seinem Vater, nahm Wilhelm jun. den Termin wahr. Trotz gegenläufiger Bemühungen wurde die Familie Saul in der Folgezeit als »erbkrank« eingestuft. Infolgedessen wurde Wilhelmine Saul das sogenannte »Ehrenkreuz der Deutschen Mutter« verwehrt und ein Erbgesundheitsgerichtsverfahren über die Unfruchtbarmachung von Wilhelm Saul jun. eingeleitet.

Fünf Jahre nach der Geburt ihrer jüngsten Tochter erkrankte Marie Wege erneut. Am 8. Februar 1943 wurde sie von einem Hausarzt aus Scharnebeck wegen »manisch-depressiven Irreseins« in die Lüneburger Anstalt eingewiesen. Sie war sehr unruhig, verweigerte das Essen. Ein Versuch, sie künstlich zu ernähren, misslang – sie kollabierte. Sie starb kaum zwei Wochen nach ihrer Einweisung am 19. Februar 1943. Als Todesursache wurde »Herzmuskelentzündung« angegeben. Obwohl Marie vor ihrem Tod nur wenige Tage Patientin der Lüneburger Anstalt gewesen war, bekam sie Besuch von ihren Eltern, ihrem Ehemann und anderen Verwandten. Der Klinik gelang es nicht, ihr Leben zu retten. Inwiefern sie ein Opfer mangelnder Versorgung ist, bleibt offen. Nach Maries Tod habe die Familie gesagt »Na, vielleicht ist da nachgeholfen worden«, berichtet Lisa Michaelis, die Nichte von Marie und Wilhelm Saul.

Weil Wilhelm jun. nicht in der Lage war, den elterlichen Hof zu übernehmen, wurde er 1946 an seine Schwester Anna überschrieben. Als Bruder erhielt er ein lebenslanges Wohnrecht, bekam freies Essen und Trinken sowie ein Taschengeld. Im Jahr 1958 bemühte sich Anna um eine Entschädigung und Wiedergutmachung für die erlittene Zwangssterilisation ihres Bruders. Sie erhielt dabei Unterstützung von einem Vetter. Sie reichten bei der Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg Klage ein. Die Klage wurde am 19. September 1959 abgewiesen.

Zur Begründung heißt es: »Gemäß §189 Abs. 1 BEG waren Entschädigungsanträge bis zum 1.4.1958 bei der zuständigen Entschädigungsbehörde zu erstellen. Durch den erst am 17.4.1958 eingegangenen formlosen Antrag ist diese Frist nicht gewahrt. […] Aber auch sachlich würde ein Entschädigungsanspruch nicht zu begründen sein. Wie sich aus den beigezogenen Erbgesundheitsakten des Staatlichen Gesundheitsamtes Lüneburg ergibt, erfolgte die Sterilisation des Antragstellers […] wegen ›Schwachsinns mit aufgepfropfter Schizophrenie‹. Der Eingriff verlief regelgerecht. Irgendwelche Anhaltspunkte dafür, daß diese Maßnahme – wie es §1 BEG [Bundesentschädigungsgesetz] voraussetzt, aus Gründen der Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus, der Rasse, des Glaubens, oder der Weltanschauung gegen den Antragsteller gerichtet wurde, sind weder aus den beigezogenen Akten noch aus dem Vortrag des Antragstellers zu ersehen. Da die […] vorgenommene Sterilisation aufgrund des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14.7.1933 […] angeordnet wurde, muß vielmehr angenommen werden, daß hierfür eugenische Gründe maßgebend gewesen sind. Der Antrag war daher zurückzuweisen.«

Wilhelms Schwester Anna legte Rechtsmittel gegen den Ablehnungsbescheid ein und klagte. Eine Woche vor dem Verhandlungstermin am 12. Februar 1960 zogen sie und ihr Vetter »im Einvernehmen« mit Wilhelm Saul jun. die Klage zurück. Die Gründe sind bis heute unbekannt. Wilhelm Saul jun. lebte bis zwei Jahre vor seinem Tod mit seiner Schwester Anna und ihrer Familie auf dem elterlichen Hof. Ab 1973 übernahm seine Nichte Lisa die Pflegschaft für ihn. Er starb 1976 im Niedersächsischen Landeskrankenhaus Lüneburg. Erst in seinen letzten Lebensjahren, als die Familie allmählich mit seiner Pflege überfordert war, wurde Wilhelm Psychiatriepatient. Nach seinem Tod ließ ihn die Familie nach Scharnebeck überführen, sodass er daheim seine letzte Ruhe fand.

Familienfoto der Familie Saul.
Vorne in der Mitte: Wilhelmine und Wilhelm Saul sen. Hinter ihnen steht Wilhelm jun. Minna sitzt links von der Mutter, rechts neben Wilhelm senior sitzt Marie. Hinter ihr steht die jüngste Schwester Emma. Links neben Wilhelm jun. steht Anna Saul.

Privatbesitz Anne Krause-Rick.

Wilhelm Saul jun.
liegt auf dem Heuwagen, davor stehen Marie und Emma, ca. 1927. Der elterliche Hof in Scharnebeck ist noch immer im Familienbesitz.

Privatbesitz Lisa Michaelis, geb. Tiedge.

Auf dem Hochzeitsfoto von Emma und Wilhelm Schlichting ist die Familie Saul wiederzufinden. Wilhelm jun. steht in der dritten Reihe, sechster von links, Marie steht in der zweiten Reihe und ist die dritte von rechts. Schräg hinter ihr mit Brille steht ihr Ehemann Hans Wege. Links neben ihr steht Minna. Hinter beiden Schwestern steht Anna.

Hochzeitsfoto Emma und Wilhelm Schlichting, Südergellersen, 6.10.1933.

Privatbesitz Anne Krause-Rick.

»[…] bei 2 Kindern der Antragstellerin sind Erbkrankheiten im Sinne des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses festgestellt, sodaß die Familie nicht als erbgesund angesehen werden kann.«

Amtsärztliche Bescheinigung
des Gesundheitsamtes Lüneburg vom 3.8.1939.

NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1719.

Porträt von Marie Wege, ca. 1930er Jahre.

Privatbesitz Anne Krause-Rick.

Am 4. April 1940 wurde das Urteil über die Sterilisation von Wilhelm Saul jun. rechtskräftig. Zwei Wochen später wurde Wilhelm Saul jun. im Städtischen Krankenhaus Lüneburg aufgenommen und am 18. April 1940 zwangssterilisiert.

Beschluss des Lüneburger Erbgesundheitsgerichts über die Unfruchtbarmachung von Wilhelm Saul vom 5.3.1940.

NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1719.

Klage gegen den Ablehnungsbescheid über den Antrag auf Entschädigungsrente vom 19.9.1959.

NLA Hannover Nds. 720 Lüneburg Acc. 139/90 Nr. 107.

Marie Wege und Wilhelm Saul

Wilhelm Saul und Marie sind Geschwister.
Sie haben noch drei weitere Geschwister.
Sie leben in Scharnebeck.
Sie haben einen Bauern-Hof.
Sie müssen hart arbeiten.

Die Schwestern heiraten.
Marie heiratet im Jahr 1931.
Sie heiratet Hans Wege.
Er baut Brunnen.
Der Vater von Marie kauft ihnen einen Bauern-Hof.
Der Bauern-Hof ist in Brietlingen.

Hans Wege hat schon eine Tochter.
Marie und Hans Wege bekommen drei gemeinsame Kinder.
Sie brauchen Geld für ihre Kinder.
Die Nazis sagen:
Nur gesunde Menschen sollen Kinder-Geld bekommen.
Marie und Hans haben Glück.
Sie bekommen Kinder-Geld.

Aber sie werden auch unter-sucht.
Genauso wie der Bruder von Marie – Wilhelm.
Der Arzt sagt:
Wilhelm ist schwach-sinnig.
Er muss un-fruchtbar gemacht werden.
Er darf keine Kinder bekommen.

Marie wird krank.
Sie isst nicht.
Sie schläft nicht.

Ihr Arzt entscheidet:
Marie muss in eine Anstalt.

In der Anstalt will sie nichts essen.
Sie will keine Hilfe.
Sie stirbt.
Das ist am 19. Februar 1943.
Ihr Bruder Wilhelm bleibt zu Hause wohnen.

Dann ist der Krieg aus.
Wilhelm sagt:
Ich bin ein Opfer der Nazis.
Sie haben mich gegen meinen Willen un-fruchtbar gemacht.
Dafür will ich jetzt Wieder-Gut-Machung.
Dafür will ich als Trost ein wenig Geld.

Aber das Gericht sagt:
Nein.
Die Operation war richtig.
Wilhelm soll niemals Kinder bekommen.
Wilhelm hat kein Recht auf Wieder-Gut-Machung.
Der Grund ist:
Sein Brief kommt 2 Wochen zu spät.
Die Zeit ist ab-gelaufen.

Wilhelm bekommt keine Wieder-Gut-Machung.
Das findet seine Familie falsch.
Sie beschweren sich.
Sie sagen:
Moment mal!
Die Nazis waren im Un-Recht.
Aber sie haben keinen Erfolg.

Wilhelm wird alt.
Das Zusammen-Leben ist immer schwieriger mit ihm.
Er kommt in die Anstalt.
Er stirbt im Jahr 1976.
Es ist eine Folge eines Unfalls.
Seine Familie holt seine Leiche nach Scharnebek.
Er wird dort begraben.

Das ist ein Foto von der Familie Saul.
Wilhelm steht hinten in der Mitte.
Marie sitzt rechts auf einem Stuhl.
Das Foto ist etwa von 1925.

Das ist ein Foto.
Es zeigt Wilhelm und Marie.
Wilhelm liegt auf dem Heu-Wagen.
Marie steht links.
Ihre Schwester Emma steht rechts.
Das Foto ist aus dem Jahr 1927.

Das ist ein Foto.
Es zeigt die ganze Familie.
Die Schwester Emma heiratet im Jahr 1933.
Es ist eine große Hoch-Zeit.
Auf dem Foto sind alle Gäste der Hoch-Zeit.
Auch Wilhelm und Marie.
Wilhelm steht in der dritten Reihe.
Marie steht in der zweiten Reihe.

Das ist ein Zeugnis.
Darin steht:
Die Familie Saul ist krank.
Sie dürfen keine Kinder bekommen.

Das ist ein Foto von Marie Wege.
Es ist aus den dreißiger Jahren.

Das ist ein Beschluss.
Ein Beschluss ist eine Entscheidung von einem Gericht.
Es hat entschieden:
Wilhelm ist un-fruchtbar zu machen.

Am 18. April 1940 wird Wilhelm operiert.
Gegen seinen Willen.

Das ist ein Brief an das Gericht.
Die Familie kämpft.
Dafür dass Wilhelm als Opfer der Nazis gesehen wird.

Addo und Hermann Eisenhauer

Addo Eisen-Hauer ist am 17. Oktober 1928 geboren.
Sein Bruder heißt Hermann.
Hermann ist zwei Jahre jünger als Addo.
Der Vater ist un-bekannt.
Ihre Mutter stirbt.
Da sind sie noch Kinder.
Addo und Hermann leben bei ihren Groß-Eltern.
Ein Amts-Arzt entscheidet:
Die Groß-Eltern können nicht auf die Kinder auf-passen.
Sie sind zu alt.
Addo und Hermann müssen in eine Anstalt.
Addo und Hermann müssen in die Kinder-Fach-Abteilung.

Das ist im Jahr 1942.
Addo und Hermann sind 14 und 12 Jahre alt.

Addo und Hermann sind im Haus drei-und-zwanzig.
Sie müssen arbeiten.
Der Arzt will wissen:
Schafft Addo seine Arbeit.
Schafft Hermann seine Arbeit.

Addo schafft seine Arbeit nicht.
Der Arzt entscheidet:
Addo ist unnütz.
Addo soll nicht mehr leben.

Darum wird Addo ermordet.
Sein Bruder Hermann ist dabei.

Addo stirbt am 16. März 1944.
Da ist er fünf-zehn Jahre alt.

Er wird begraben.
Sein Grab ist auf dem Fried-Hof der Anstalt.
Es ist ein Grab für Erwachsene.

Hermann über-lebt die Kinder-Fach-Abteilung.
Er wird nicht ermordet.
Er bleibt in der Anstalt in Lüneburg.
Auch als der Krieg schon aus ist.

Viele Jahre später kommt er in eine andere Anstalt.
Das ist im Jahr 1954.
Diese zweite Anstalt ist in Haina.
Mehr ist nicht bekannt.

Hermann bleibt zehn Jahre in Haina.
Danach kommt er in die Anstalt nach Göttingen.
Dort stirbt er am 6. April 1973.
Da ist er zwei-und-vierzig Jahre alt.

Das ist ein Brief.
Der Brief ist von den Groß-Eltern von Addo und Hermann.
Der Brief ist an die Anstalt in Lüneburg.
Die Groß-Eltern fragen:
Wie geht es Addo?
Wie geht es Hermann?
Sie bitten:
Addo und Hermann sollen zurück schreiben.

Das ist eine Nachricht.
Von einem Arzt.
Darin steht:
Hermann hat keine Eltern.
Seine Groß-Eltern leben noch.
Hermann kann nicht zur Schule gehen.
Hermann ist ein guter Mensch.
Er ist fröhlich.

Addo und Hermann Eisenhauer

Adolf (Addo) Eisenhauer wurde am 17. Oktober 1928 in Dietrichsfeld im Kreis Aurich geboren. Sein jüngerer Bruder Hermann Eisenhauer wurde am 18. Juli 1930 geboren. Ihre Mutter Anna Susanna Eisenhauer war zum Zeitpunkt der Aufnahme ihrer beiden Söhne am 28. September 1942 bereits verstorben. Vermutlich wurden die Kinder spätestens nach dem Tod der Mutter durch die Großeltern Charlotte und Wilhelm Eisenhauer aufgezogen. Laut amtsärztlichen Gutachten seien die Kinder auch deswegen aus ihrer gewohnten Umgebung zu nehmen gewesen, weil die Großeltern die Pflege der Kinder aus Altersgründen nicht mehr hätten gewährleisten können.

Addo und Hermann Eisenhauer wurden in Haus 23 untergebracht. Sie blieben zusammen. Bei der ärztlichen Begutachtung während ihres Aufenthaltes ging es weniger um psychiatrische oder medizinische Aspekte als vielmehr immer wieder um Fragen ihrer Arbeitstauglichkeit. Es ging bei den jugendlichen Patientinnen und Patienten in der »Kinderfachabteilung« darum, in sogenannten »Arbeitsversuchen« zu testen, ob sie zur Arbeit brauchbar waren.

Addos Versagen in der Arbeitstherapie – er war 15 Jahre alt – kostete ihn letztendlich das Leben. Die letzten Einträge dokumentieren seinen rasanten körperlichen Abbau und seinen elenden Tod. Er starb am 16. März 1944 um 4.30 Uhr morgens. Mit Sicherheit war sein Bruder in seiner Nähe, als er ermordet wurde. Addo Eisenhauer wurde nicht auf dem »Kindergräberfeld« auf dem Anstaltsfriedhof bestattet, sondern in einem Erwachsenengrab, da zum Zeitpunkt seines Todes kein Kindersarg vorrätig war.

Es ist nirgends dokumentiert, wie Hermann die Ermordung des Bruders erlebte und verarbeitete, weshalb und wie es ihm gelang am Leben zu bleiben. Er gehört zu den rund 40 Prozent Kindern und Jugendlichen, die den Aufenthalt in der »Kinderfachabteilung« überlebten. Hermann blieb bis 17. Dezember 1954 Patient der Lüneburger Anstalt. Zu seiner Entlassung in eine Einrichtung nach Haina notierte der entlassende Arzt: »Er ist unehelich geboren, die Mutter ist tot, der Erzeuger unbekannt. Die Großeltern sollen noch in Dietrichsfeld leben. E. war anfänglich hier auf der Kinderstation und erwies sich als bildungsunfähig imbezill, selten eigensinnig, überwiegend gutartig und heiter. So ist er bis heute geblieben.«

Am 24. Juni 1964 wurde Hermann Eisenhauer in das Niedersächsische Landeskrankenhaus Göttingen verlegt. Dort starb er im Alter von 42 Jahren am 6. April 1973.

»Wir sind die alten Eltern von Addo und Hermann. Bitte geben Sie uns doch bald Nachricht darüber, was sie dort machen. […] Bitte, bitte laß die beiden ihrer Mama und Vater […] schreiben.«

Schreiben der Großeltern in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg vom 3.11.1942.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 233.

»Er ist unehelich geboren, die Mutter ist tot, der Erzeuger unbekannt. Die Großeltern sollen noch in Dietrichsfeld leben. E. war anfänglich hier auf der Kinderstation und erwies sich als bildungsunfähig imbezill, selten eigensinnig, überwiegend gutartig und heiter. So ist er bis heute geblieben.«

Notiz vom 14.12.1954 in Krankenakte von Hermann Eisenhauer.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 233.

Gisela und Hermann Winter

Gisela und Hermann Winter, geboren 1927 und 1929, waren zwei von insgesamt sechs Kindern der Eltern Anna Frieda und Heinrich Ludwig Winter aus Hannover-Döhren. Obwohl Hermann Winter bereits mit einem Jahr laufen und mit eineinhalb Jahren sprechen konnte, wurde er nach der 6. Klasse als »bildungsunfähig« aus der Schule entlassen. Seine Schwester Gisela erkrankte im Alter von zwölf Jahren an Epilepsie. Beide wurden im März 1941 zum Zweck eines »Heilungsversuches« in die Anstalten der Inneren Mission Rotenburg aufgenommen. Wegen des Verdachts einer Tuberkulose stellte man sie von der Verlegung am 9. und 10. Oktober 1941 zurück. Sie wurden daher erst am 12. Februar 1942 als »Nachzügler« von ihrer älteren Schwester Hertha Winter zur Aufnahme in die Lüneburger »Kinderfachabteilung« gebracht. Gisela kam ins Haus 25, Hermann ins Haus 23.

Sechs Wochen nach der Aufnahme, am 5. April 1942, erhielten die Kinder Besuch von ihrer Mutter. Es war der einzige und letzte Besuch. Da Hermann als »ordentlich«, »willig« und »fleißig« beurteilt wurde, wurde er am 16. April 1942 nach Lemgo in die Stiftung Eben-Ezer verlegt. Diese Verlegung bedeutete zunächst seine Rettung. Anders erging es seiner Schwester. Sie wurde nur einen Monat später am 14. Mai 1942 ermordet. Vier Tage später wurde sie in einem Sarg für erwachsene Leichname bestattet, da es zum Zeitpunkt ihres Todes wohl keinen Kindersarg gab. Das ist der Grund, weshalb Gisela zu den insgesamt acht Kindern gehört, die nicht auf dem Kindergräberfeld, sondern auf einem Gräberfeld der erwachsenen Patientinnen und Patienten auf dem Anstaltsfriedhof beerdigt wurde.

Am 27. Januar 1944 wurde Hermann Winter in die »Kinderfachabteilung« zurückverlegt. Zum einen hatte er bei einem Beschulungsversuch keine Erfolge erzielt, zum anderen sollte auf diese Weise verhindert werden, dass ein Rettungsversuch der Eltern gelang. Sie hatten versucht, Hermann aus der Pflegefamilie zu entführen, bei der er als Hilfsarbeiter untergebracht war. Zurück in Lüneburg schien Hermann sich sofort nützlich gemacht zu haben. Abteilungspflegerin Dora Vollbrecht notierte in seiner Krankengeschichte, er sei ein: »charakterlich ordentlicher Junge, der sich bei Hausarbeit und kleinen Handreichungen bewährt«. Die Eltern ließen nichts unversucht, ihren Sohn zu retten bzw. zurück nach Hause zu holen und beantragten einen dreiwöchigen »Urlaub«. Obwohl laut Akte von Hermann eine »Fluchtgefahr« ausging, wurde der Urlaub genehmigt und am 11. November 1944 verlängert. Er kehrte nie wieder in die »Kinderfachabteilung« zurück.

Auszug aus der Krankengeschichte von Hermann Winter, Seite 1.

NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 2180.

Das ist ein Arzt-Bericht.
Darin steht:
Hermann ist ordentlich.
Hermann ist fleißig.
Hermann hilft sehr viel.
Das rettet sein Leben.
Er wird nicht ermordet.

Gisela und Hermann Winter

Gisela und Hermann Winter sind Geschwister.
Sie sind 1927 und 1929 geboren.
Sie haben noch vier weitere Geschwister.
Ihre Eltern sind Anna und Heinrich.
Die Familie kommt aus Hannover.

Hermann hat eine Behinderung.
Er schafft die Schule nicht mehr.
Gisela hat Anfälle.

Sie kommen in eine Anstalt nach Roten-Burg.
Dort sollen sie gesund werden.
Aber sie bekommen eine Lungen-Krankheit.
Das ist im Herbst 1941.
Drei Monate später kommen sie nach Lüneburg.
Sie kommen in die Anstalt.
Ihre Schwester Hertha bringt sie.
In die Kinder-Fach-Abteilung.
Gisela kommt in das Haus fünf-und-zwanzig.
Hermann kommt in das Haus drei-und-zwanzig.
Gisela und Hermann werden getrennt.

Gisela und Hermann bekommen Besuch.
Ihre Mutter besucht sie.
Ein einziges Mal.

Hermann gibt sich Mühe.
Er strengt sich an.
Er will alles richtig machen.
Er wird in eine andere Anstalt verlegt.
Die ist in Lemgo.
Das ist seine Rettung.
Er wird nicht ermordet.

Gisela bleibt in der Anstalt in Lüneburg.
Sie wird ermordet.
Sie stirbt am 14. Mai 1942.
Sie wird auf dem Fried-Hof der Anstalt begraben.
In Lemgo muss Hermann arbeiten.
Er kommt in eine Pflege-Familie.
Da muss er auch schwer arbeiten.

Die Eltern von Hermann finden das nicht gut.
Sie wollen ihn ab-holen.
Sie bekommen keine Erlaubnis.
Also nehmen sie ihn ohne Erlaubnis mit.
Aber sie werden erwischt.

Das darf nicht noch einmal passieren.
Darum kommt Hermann zwei Jahre später zurück.
Er wird von Lemgo nach Lüneburg verlegt.
Er kommt wieder in die Kinder-Fach-Abteilung.
Damit seine Eltern ihn nicht retten können.

Hermann arbeitet auch in der Anstalt in Lüneburg.
Er gibt sich sehr viel Mühe.
Er will nicht ermordet werden.
Das findet die Pflegerin gut.

Die Eltern geben nicht auf.
Sie wollen Hermann wieder haben.
Sie wollen ihn retten.
Sie beantragen einen Urlaub.
Endlich sagt ein Arzt:
Hermann darf Urlaub machen.
Er darf nach Hause.
Er kommt nie wieder zurück in die Anstalt.
Er über-lebt die Kinder-Fach-Abteilung.

Das ist ein Arzt-Bericht.
Es ist der Bericht über Hermann.

Das ist ein Arzt-Bericht.
Darin steht:
Hermann ist ordentlich.
Hermann ist fleißig.
Hermann hilft sehr viel.
Das rettet sein Leben.
Er wird nicht ermordet.

Günther und Hermann Bruchmüller

Günther Bruchmüller und Hermann sind Brüder.
Günther ist 2 Jahre älter als Hermann.
Sie sind 1933 und 1935 geboren.
Sie haben auch noch zwei Schwestern.

Ihr Vater kann sich nicht um seine Kinder kümmern.
Er hat eine Kriegs-Verletzung.

Die Mutter kann sich auch nicht kümmern.
Sie ist in einem Konzentrations-Lager.
Das ist ein Gefängnis für Unschuldige.
Dort sterben viele Menschen an Hunger.
Oder sie müssen sich tot arbeiten.
Oder sie werden für kleine Fehler getötet.

Darum leben die Kinder in Kinder-Heimen.
Das letzte Kinder-Heim ist in Wunstorf.
Das ist in der Nähe von Hannover.

Nur Günther und Hermann kommen von Wunstorf nach Lüneburg.
Sie kommen 1942 in die Kinder-Fach-Abteilung.
Das entscheidet ein Arzt Willi Baumert.
Er arbeitet in dem Kinder-Heim in Wunstorf.
Und er leitet die Kinder-Fach-Abteilung in Lüneburg.

Günther und Hermann bleiben nicht in Lüneburg.
Weil sie zur Schule gehen können.
Sie kommen aus der Kinder-Fach-Abteilung wieder raus.
Sie kommen in ein Heim nach Lemgo.
Dort gibt es eine Schule.
Dort haben sie eine Chance zu über-leben.

Für Günther ist die Schule zu schwer.
Er kommt zurück nach Lüneburg.
Er kommt wieder in die Kinder-Fach-Abteilung.
Das ist 1944.
Sein Bruder Hermann bleibt in Lemgo.

Günther hat Glück.
Er wird nicht ermordet.
Er überlebt die Kinder-Fach-Abteilung.

Dann ist der Krieg aus.
Günther bleibt in der Kinder-Fach-Abteilung.
Auch als Erwachsener bleibt er in der Anstalt.
Er wohnt nun dort.

Er stirbt am 2. Dezember 1956.
Nach einer Operation.

Hermann bleibt viele Jahre in Lemgo.
Er denkt viel an seinen Bruder Günther.
Darum fragt er nach.
Hermann will wissen:
Wie geht es meinem Bruder Günther?
Was erlebt er in Lüneburg?

Hermann geht nicht mehr zur Schule.
Er ist erwachsen.
Er arbeitet auf einem Bauern-Hof.

Hermann bekommt den Brief von seinem Bruder.
Er kann nicht schreiben.
Darum schreibt ein Arzt von der Anstalt.
Der Arzt schreibt:
Günther geht es gut.
Günther arbeitet im Fahr-Dienst der Anstalt.
Er ist gut gelaunt.
Er hat Vertrauen in andere Menschen.
Er ist fleißig.

Die Schwester Alwine ist erwachsen.
Sie ist verheiratet.
Sie darf über Günther bestimmen.
Sie soll sich um Günther kümmern.

Niemand erzählt ihr von seinem Tod.
Sie erfährt es durch Zufall.

Dem Bruder Hermann wird auch nichts gesagt.
Er will seinen Bruder Günther treffen.
Er will Weihnachten mit ihm feiern.
Aber da ist Günther schon 2 Jahre tot.
Niemand hat Hermann Bescheid gesagt.

Das ist ein Formular.
Darin steht wichtiges über eine Person.
Zum Beispiel der Name und das Alter.
Hiermit werden Jugendliche erfasst.
Sie haben keine Eltern.
Oder die Eltern können sich nicht um sie kümmern.
Das ist das Formular zu Günther.

Das ist ein Brief.
Die Anstalt schreibt:
Günther kommt von Lemgo zurück nach Lüneburg.

Das ist ein Brief von der Schwester Alwine.
Alwine ist erwachsen.
Sie ist verheiratet.
Sie darf über Günther bestimmen.
Sie soll sich um Günther kümmern.

Aber niemand erzählt ihr von seinem Tod.
Sie erfährt es durch Zufall.

Das ist ein Brief von Lemgo nach Lüneburg.
Der Bruder Hermann will Günther treffen.
Er will Weihnachten mit ihm feiern.
Aber da ist Günther schon 2 Jahre tot.
Niemand hat Hermann Bescheid gesagt.