»Dezentrale Euthanasie«

Nach dem Ende der »Aktion T4« wurde das Morden von Patient*innen fortgeführt durch Mangel- und Fehlversorgung sowie Medikamentenmissbrauch. Da dieser Patientenmord nicht mehr zentral in fünf Tötungsanstalten und einem Zuchthaus stattfand, sondern prinzipiell in allen Anstalten, Heimen und Kliniken möglich und erwünscht war, wird er in der Forschung als »dezentrale Euthanasie« bezeichnet.

Trotz des »dezentralen« Charakters dieser zweiten Phase der »Euthanasie«, die ab Sommer 1941 und bis in den Sommer 1946 festgestellt werden kann, lassen sich Tötungszentren identifizieren, in die es weiterhin »planwirtschaftliche Verlegungen« zum Zweck der Ermordung gegeben hat. Zu nennen sind etwa die Anstalten Hadamar, Pfafferode und Meseritz-Obrawalde. In diese Anstalten gab es Sammeltransporte mit Patient*innen, die ausschließlich den Zweck verfolgten, die beförderten Menschen am Zielort mit Medikamenten oder durch Nahrungsentzug zu ermorden.

Im Jahr 1944 erfuhr der »dezentral« organisierte und praktizierte Mord eine Ausweitung. Aufgrund des fortschreitenden Bombenkrieges der Alliierten wurden mit dem Mord nicht mehr nur rassenhygienische und ökonomische Ziele verfolgt, wie das Streben nach »Erbgesundheit« und das Einsparen von Pflegekosten, sondern er diente dem Zweck, Nutzungskapazitäten für öffentliche Einrichtungen zu schaffen. Um die Räumlichkeiten der Anstalten, Heime und Kliniken alternativ und vor allem »kriegswichtig« nutzen zu können, wurden provisorische »Ausweichkrankenhäuser« eingerichtet, in denen Menschen mit Behinderungen, Tuberkulose-Erkrankte, Fürsorgezöglinge, Arbeitsinvalid*innen, zwangsverschleppte Ostarbeiter*innen, Geflüchtete, durch Bombenangriff Traumatisierte und kriegsverwundete Soldaten konzentriert und durch Mangel- und Fehlversorgung ermordet wurden.

Insgesamt wurden nach aktuellen Schätzungen bis Sommer 1946 weit über 200.000 Patient*innen Opfer der »dezentrale Euthanasie«. Eine abschließende Feststellung der genauen Opferzahl ist bis auf weiteres unmöglich, da reichsweit in jeder Einrichtung Morde möglich waren und vielerorts auch praktiziert wurden, wenn auch in geringerem Umfang als beispielsweise in den Anstalten in Hadamar, Pfafferode und Meseritz-Obrawalde.