Nadja Selanska war wahrscheinlich erst 18 Jahre alt, als sie mit dem PKW von Rötgesbüttel im Kreis Gifhorn, wo sie bei dem Bauern Reincke als landwirtschaftliche Gehilfin arbeitete, in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg gebracht wurde. Davor war sie einige Tage im Krankenhaus der Stadt des KdF-Wagens (heute Wolfsburg), sodass die Einweisung in eine Anstalt auf Veranlassung des leitenden Betriebsarztes des Volkswagenwerkes Körbel, vertreten durch Dr. Laubert, erfolgte. Das war am 18. Januar 1944. Noch am selben Tag wurde sie in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg gebracht und in Haus 22 aufgenommen. Sie machte dort einen verwirrten und unruhigen Eindruck, der sich erst nach einer Elektroschockbehandlung allmählich besserte, sodass sie befragt werden konnte.
Selten finden sich in den Krankengeschichten der ausländischen Patient*innen Angaben zur familiären Herkunft und zur Zwangsarbeit. Bei Nadja Selanska ist das anders. Der behandelnde Arzt, dessen Schrift weder Gustav Marx noch Rudolf Redepenning zugeordnet werden kann, war interessiert genug und beauftragte einen Dolmetscher, sie zu befragen. So erfuhr er – und das findet auch Eingang in die Akte – dass Selanskas Wirtin nicht gut zu ihr gewesen sei, dass sie nach Deutschland gebracht worden sei und dass sie zwei Brüder und eine Schwester habe. Diese Angaben sind vom 31. Januar 1944.
Am 2. Februar wurde notiert, sie trete in ihrem Einzelzimmer gegen das Fenster, bis sich Schrauben lockerten, am 18. Februar folgte ein Eintrag von Redepenning: »20h30‘ gestorben.« Die Todesursache lautete »Erschöpfung durch Erregungszustand bei Schizophrenie«. Es ist der einzige Eintrag von Redepenning in der Akte von Nadja Selanska.