Günther und Hermann Bruchmüller

Günther Bruchmüller und Hermann gehören zu jenen Brüdern, die zunächst durch eine Verlegung in die Stiftung Eben-Ezer nach Lemgo gerettet zu sein schienen. Günther, geboren am 7. Mai 1933, war der Ältere von beiden. Auch sein eineinhalb Jahre jüngerer Bruder Hermann, geboren am 18. Januar 1935, kam in Lüneburg zur Welt. Die Brüder wurden am 25. November 1942 gemeinsam in der »Kinderfachabteilung« Lüneburg aufgenommen. Sie kamen nicht von zu Hause, sondern waren zunächst Patienten im Kinderhospital in Lüneburg, danach in der Pestalozzi-Stiftung in Burgwedel. Auch das Kinderheim Springe soll eine Station gewesen sein, und schließlich waren sie Fürsorgezöglinge im Provinzial- Jugendheim Wunstorf. Dort wurden sie durch den behandelnden Arzt Willi Baumert für eine Aufnahme in die ebenfalls von ihm geleitete »Kinderfachabteilung« selektiert. Ihre Geschwister Alwine und Helga blieben in Wunstorf.

Die Eltern waren der Kriegsinvalide Ludwig Bruchmüller und seine Frau Anna Marie. Zur Mutter vermerkte Baumert, dass sie aufgrund »Schwachsinns« sterilisiert worden sei und sich zum Zeitpunkt der Aufnahme ihrer beiden Söhne im »Konzentrationslager« befand.

Günther Bruchmüller kehrte am 27. Januar 1944 aus Lemgo zurück nach Lüneburg. Er wurde wie 23 weitere Jungen und Mädchen in die »Kinderfachabteilung« zurückverlegt. Er blieb in der Lüneburger Anstalt bis weit über das Kriegsende hinaus und gehört somit zu den Überlebenden der »Kinderfachabteilung«. Wenige Monate nach der Einrichtung einer neuen Pflegschaft starb er im Alter von 23 Jahren am 2. Dezember 1956 infolge einer Blinddarmoperation.

Erst zwei Wochen vor seinem Tod hatte sein Bruder Hermann den Kontakt zu ihm gesucht. Hermann war inzwischen in einer bäuerlichen Familienpflegestelle untergebracht und ließ über die Stiftung Eben-Ezer in der Lüneburger Anstalt anfragen, wie es seinem Bruder gehe. Er ließ nichts unversucht, die Verbindung zu seinem Bruder zu halten. Da er selbst nicht schreiben konnte, formulierte die Anstalt eine Antwort. Darin erfuhr Hermann, dass Günther inzwischen im Rahmen der Arbeitstherapie im Fahrdienst eingesetzt war. Er sei sehr nützlich, zutraulich und guter Dinge gewesen.

Die Schwester Alwine St. bemühte sich um die Pflegschaft für ihren Bruder Günther. Obwohl seine Schwester diese Pflegschaft ab Oktober 1956 besaß, wurde sie über den Tod ihres Bruders nicht informiert. Sie erfuhr von seinem Tod eher beiläufig durch einen Halbbruder. Auch Hermann erfuhr nichts vom Tod seines Bruders. Deswegen ließ er zwei Jahre später fragen, ob sich die Brüder einmal sehen dürften und dies an Weihnachten möglich sei. Hermann erfuhr daraufhin mit zwei Jahren Verspätung, dass sein Bruder nur wenige Tage nach seiner Kontaktaufnahme verstorben war.

Personalbogen männlicher Fürsorgezöglinge.

NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 3058.

Schreiben der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg an den Herrn Oberpräsidenten vom 29.1.1944.

NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 3058.

Schreiben von Alwine St. vom 30.7.1957.

NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 3058.

Schreiben der Anstalt Eben-Ezer an die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg vom 24.11.1958.

NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 3058.

Erika und Käte

Käte, geboren am 18. August 1938, war die ältere der beiden. Sie war ein Jahr und fünf Monate älter als ihre kleine Schwester Erika, geboren am 18. Januar 1940. Sie kamen beide gebürtig aus Masendorf im Landkreis Uelzen. Ihre Eltern waren der Landarbeiter Karl und seine Frau Martha Frieda.

Die Mädchen wurden gemeinsam am 15. Februar 1944 in die Lüneburger »Kinderfachabteilung« aufgenommen. Für beide – zum Zeitpunkt der Aufnahme in Lüneburg erst vier und fünfeinhalb Jahre alt – war die Lüneburger Anstalt nicht die erste Einrichtung. Zuvor waren sie in der Pestalozzistiftung in Großburgwedel untergebracht. Beiden wurde attestiert, sie seien nicht erziehungs- und bildungsfähig.

Willi Baumert beurteilte Käte, sie sei ein ruhiges, freundliches und im Grunde genommen sogar altersentsprechend entwickeltes Kind. Sie verstand, was man ihr gesagt habe, habe auf ihre Umgebung Acht gegeben, sich zu beschäftigen gewusst und auch viel mit anderen Kindern gespielt. Zudem habe sie mit ihren fünfeinhalb Jahren schon bis zwanzig zählen können, alle Farben korrekt zugewiesen, einwandfrei zwischen links und rechts unterschieden und auf Bildern dargestellte Dinge und Ereignisse erklären können. Das einzige, was Baumert an ihr aussetzte, war ihr Hang zur Unordnung.

Am 14. Juli 1944 – Käte und ihre Schwester Erika waren inzwischen fünf Monate in seiner Obhut – empfahl Baumert daraufhin: »Für Schule geeignet.«​ Das rettete ihr Leben. Am 2. August 1944 wurde Käte in die Stiftung Eben-Ezer nach Lemgo verlegt. Sie war eines von insgesamt 16 Kindern, die an diesem Tag nach Lemgo aufbrachen.

Käte und Erika wurden nicht getrennt. Sie blieben zusammen, weil auch Erika durch Baumert eine wohlwollende Beurteilung erhielt. Erika war – so lässt es die Beschreibung von Baumert zu – ein vollständig gesundes Kind, deren einziger Makel es war, eine Mutter gehabt zu haben, die sich laut Aktenvermerk der Verwaltung nicht ausreichend gekümmert habe.

Erika war mit ihren viereinhalb Jahren das mit Abstand jüngste Kind, das von Lüneburg in die Stiftung Eben-Ezer verlegt wurde. Da Erika zum Zeitpunkt ihrer Weiterverlegung nach Eben-Ezer noch weit von der Schulreife entfernt war, drängt sich auf, dass es Baumert bei ihrer Verlegung auch darum gegangen war, die Schwestern nicht zu trennen. Eine Entlassung nach Hause zur Mutter oder aber in eine Pflegefamilie war hingegen für ihn – das ist offensichtlich – keine infrage kommende Alternative. Erika wurde trotz mangelnder medizinischer Indikation erst am 6. August 1951 aus Lemgo nach Hause entlassen. Kätes Verbleib ist ungeklärt.

Krankengeschichte Käte.

NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 2912.

»Für Schule geeignet.«
Krankengeschichte Käte.

NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 2912.

Erika und Käte

Käte und Erika sind Schwestern.
Käte ist am 18. August 1938 geboren.
Erika ist am 18. Januar 1940 geboren.
Ihre Eltern sind Karl und Martha.

Käte und Erika kommen in ein Kinder-Heim.
Es ist ein Heim in Groß-Burg-Wedel.
Ein Arzt sagt:
Käte und Erika sind dumm.
Sie können nicht zur Schule gehen.

Darum kommen sie nach Lüneburg.
Sie kommen in die Anstalt.
Sie werden in die Kinder-Fach-Abteilung auf-genommen.
Das ist im Jahr 1944.
Käte und Erika sind vier und fünf Jahre alt.

Der Arzt Willi Baumert sagt:
Käte ist gar nicht dumm.
Sie spielt mit anderen Kindern.
Sie weiß alle Farben.
Sie erkennt viele Sachen.
Sie kann sogar schon bis zwanzig zählen.
Käte ist ein ganz normales Kind.
Sie ist sogar unordentlich.

Käte und Erika dürfen zur Schule.
Das rettet ihr Leben.
Käte und Erika kommen in eine andere Anstalt.
Sie kommen nach Lemgo.
Dort gibt es eine Schule.
Es ist eine besondere Schule.
Es ist eine Schule für Kinder mit Behinderungen.

Käte und Erika bleiben zusammen.
Erika ist zu klein für die Schule.
Aber sie darf trotzdem nach Lemgo.
Damit die Schwestern nicht getrennt werden.

Ein Jahr später ist der Krieg aus.
Erika und Käte bleiben in Lemgo.
Nach sechs Jahren kommt Erika aus der Anstalt raus.
Sie kann endlich nach Hause.
Käte bleibt.
Es ist nicht bekannt wie lange.

Das ist ein Arzt-Bericht.
Darin steht:
Käte ist ein ganz normales Kind.

Das ist ein Arzt-Bericht.
Darin steht:
Käte und Erika dürfen zur Schule gehen.

Geschwister Eilers

Zu den Geschwister-Kindern, die in die »Kinderfachabteilung« Lüneburg aufgenommen wurden, gehören auch die vier Geschwister der Familie Eilers: Siegfried (geboren 1929), Hannelore (geboren 1937), Irmgard (geboren 1938) und Ernst (geboren 1939). Ihre Lebenswege verkörpern das gesamte Spektrum der Verfolgung von Kindern und Jugendlichen in der »NS-Psychiatrie«. Es reicht von Tötung bis hin zu lebenslangem Anstaltsaufenthalt. Zunächst wurde nur der elfjährige Siegfried, ältester Sohn des Arbeiters Wilhelm Heinrich Eilers und seiner Ehefrau Luise, geb. Schomburg, in die Rotenburger Anstalten der Inneren Mission eingewiesen. Mit der Aufnahme verband sich der Wunsch, ihn adäquat zu beschulen. Siegfried war gehörlos, da er jedoch fröhlich war und für praktische Dinge Aufmerksamkeit zeigte, bestand Optimismus.

Am 9. Oktober 1941 erfolgte Siegfrieds Verlegung in die »Kinderfachabteilung« Lüneburg. Doch er entkam einer Aufnahme, da seine Mutter ihn am gleichen Tag in Lüneburg abholte und nach Hause holte. Es gibt Hinweise darauf, dass sie über kirchliche Kontakte vor einer Aufnahme in die »Kinderfachabteilung« gewarnt worden war. Ein Jahr später wurde Siegfried Eilers auf Initiative des Fürsorgeverbandes erneut in die »Kinderfachabteilung« Lüneburg eingewiesen. Maßgeblich war nun, dass die Familie aufgrund einer inzwischen zerrütteten Ehe jetzt als »kinderreich, asozial« galt. Ein Versuch, ihn im Jahr 1943 in die Fürsorgeerziehung nach Wunstorf zu entlassen, scheiterte am Gutachten des Willi Baumert: »der Jugendliche kommt aus einer erblich belasteten, asozialen Großfamilie. […] In intellektueller Hinsicht zeigt er erhebliche Ausfälle, die nicht durch seine Taubstummheit verursacht sind.«

Willi Baumert war nicht nur hinsichtlich der anhaltenden Anstaltsunterbringung von Siegfried die Schlüsselfigur, sondern auch in Bezug auf dessen Geschwister. Sie wurden am 22. Januar 1943 der Mutter weggenommen und ins Provinzial-Jugendheim Wunstorf eingewiesen. Als ärztlicher Fachberater des Provinzial-Jugendheimes Wunstorf verfasste Baumert infolgedessen auch über Siegfrieds Geschwister Hannelore, Irmgard und Ernst identische Gutachten, die schlussendlich nicht in ein herkömmliches Heim, sondern zu ihrer gemeinsamen Einweisung in die von ihm geleitete »Kinderfachabteilung« führten. Am 28. Juni 1943 kamen die drei Kinder in Lüneburg an, begleitet von einer DRK-Schwester.

Die Schwestern seien am Anfang sehr anhänglich gewesen, auch hätten sich die Mädchen sehr über Begegnungen mit dem älteren und jüngeren Bruder gefreut, ist der Krankenakte zu entnehmen. Weil sich Irmgard und Hannelore allmählich interessiert zeigten, mit anderen Kindern sprachen, verstanden, was man ihnen auftrug, zielgerichtet spielten, dabei ausgelassen und fröhlich waren, sich selbständig zurechtfanden und sauber hielten, kam Willi Baumert nach einer mehrwöchigen Beobachtungszeit im Juli bzw. August 1943 zu der Beurteilung, dass bei den Schwestern Irmgard und Hannelore nun doch eine gewisse Bildungsfähigkeit vorläge. Am 26. Januar 1944 wurden die Schwestern gemeinsam nach Eben-Ezer (Lemgo) verlegt. Von dort wurden sie erst 1960 bzw. 1962 entlassen.

Mit der Räumung von Haus 23 wurde der jüngere Bruder Ernst im Herbst/Winter 1944/1945 in das Haus 24 verlegt. Im Januar 1945 notierte Frau Kleim, Sekretärin des Ärztlichen Direktors, Ernst sei ein »nettes, anhängliches Kind. Interessiert an allen Vorgängen seiner Umgebung. Versucht durch Zeichen verständlich zu machen, was er will. Spielt sehr nett mit anderen Kindern zusammen mit Häusern und Bauklötzen.« Dass er zu den beliebten Kindern auf Station gehörte, rettete sein Leben nicht. Mit fast sechs Jahren wog er nur 16 Kilo und war unterernährt. Am 11. April 1945 starb Ernst. Die offizielle Todesursache lautete »Lungenentzündung« und »akute Nephritis«, also Nierenentzündung. Mit hoher Wahrscheinlichkeit starb er infolge einer Mangelernährung.

Nach Ernsts Tod blieb Siegfried alleine in der »Kinderfachabteilung« zurück. Er hatte eine besonders vertraute Person verloren, seinen jüngeren Bruder, der wie er gehörlos gewesen war. Siegfried überlebte die »Kinderfachabteilung«, blieb jedoch Anstaltspatient. Einer Urlaubsmeldung vom 10. Juli 1947 kann entnommen werden, dass Siegfried aus der Anstaltsfürsorge offenbar nur ein einziges Mal nach Hause geholt wurde. 1955 bat seine Schwester Waltraut – es ist unklar, ob es sich bei ihr um die älteste Schwester handelt – Siegfried möge zu Weihnachten beurlaubt werden. Aus Fragen bzw. Zweifeln der Schwester Waltraut, ob Siegfried überhaupt in der Lage sei, eine Stellung anzunehmen, wie er wohl aussehen würde und wie sie sich ihn vorzustellen habe, wird deutlich, wie stark Siegfried von seiner Familie isoliert geblieben war und welch geringes Interesse ihm während seiner Zeit in der Anstalt entgegengebracht wurde.

In der Psychiatrie war Siegfried wohl schon mehrere Jahre im Rahmen der Arbeitstherapie in der Landwirtschaft eingesetzt gewesen und somit durchaus in der Lage, leichte Tätigkeiten auszuüben. Auch deswegen bot man der Schwester an, Siegfried gänzlich aus der Anstaltspflege zu entlassen. Aber es kam anders: Einen Tag, bevor Siegfried eigentlich beurlaubt und nach Hause abgeholt werden sollte, sagte Waltrauts Ehemann die Abholung ab. Weitere Versuche, Siegfried zu beurlauben bzw. zu sich zu holen, sind in der ansonsten relativ vollständigen Akte nicht dokumentiert. Siegfrieds Zeit in der Lüneburger Anstalt endete erst im Januar 1969. Mit elf Jahren als Kind aufgenommen, wurde er nach 29 Jahren ununterbrochener »Anstaltspflege« in Lüneburg als fast 40-jähriger Mann aus Haus 19 in die Außenstelle des Landeskrankenhauses Königslutter, nach Schloss Ringelheim in Salzgitter verlegt. Dort starb er im Jahr 1976.

Krankengeschichte von Hannelore.

NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 1531.

Schreiben der Heil-und Pflegeanstalt Lüneburg an das Kreiswohlfahrtsamt Hameln-Pyrmont vom 15.10.1941.

NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2012/64 Nr. 1603.

Schreiben von Waltraut G. an das Landeskrankenhaus Lüneburg vom 19.11.1955.

NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2012/64 Nr. 1603.

Waltraut G. bemühte sich, ihren jüngeren Bruder Siegfried zu beurlauben. Sie hoffte, er könne im landwirtschaftlichen Betrieb mithelfen. Nachdem sie erfuhr, dass ihr gehörloser und sprachbeeinträchtigter Bruder nur Hilfsarbeiten unter Aufsicht ausführen könne, wurde der Urlaubsantrag zurückgezogen.


Schreiben von Waltraut G. an das Niedersächsische Landeskrankenhaus Lüneburg vom 28.11.1955.

NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2012/64 Nr. 1603.

Geschwister Eilers

Waltraut, Siegfried, Hannelore, Irmgard und Ernst Eilers sind fünf Geschwister.
Siegfried, Hannelore, Irmgard und Ernst sind zwischen 1929 und 1939 geboren.
Siegfried ist der älteste Bruder.
Ernst ist der Jüngste.
Die Eltern sind Heinrich und Luise.
Der Vater ist Arbeiter.

Alle vier kommen in die Kinder-Fach-Abteilung nach Lüneburg.
Erst kommt nur Siegfried in die Anstalt.
Es ist eine Anstalt in Roten-Burg.
Die hat eine Schule für Kinder mit Behinderungen.

In Roten-Burg geht Siegfried zur Schule.
Siegfried kann nicht hören.
Er ist gehör-los.

Die Anstalt in Roten-Burg wird geschlossen.
Siegfried kommt in die Anstalt nach Lüneburg.
Das ist am 9. Oktober 1941.

Er kommt in die Kinder-Fach-Abteilung.
Dort gibt es keine Schule.
Die Mutter von Siegfried bekommt eine Nachricht.
Ein Pastor sagt ihr:
Siegfried ist in Lüneburg.

Seine Mutter findet das nicht gut.
Sie holt ihn ab.
Sie holt ihn nach Hause.
Das ist auch am 9. Oktober 1941.

Ein Jahr vergeht.
Die Eltern von Siegfried trennen sich.
Die Mutter ist mit den vier Kindern alleine.
Andere sagen:
Die Familie Eilers ist anders.
Die benehmen sich anders.
Die sollen so nicht sein.

Darum muss Siegfried wieder in die Anstalt.
Er muss wieder in die Kinder-Fach-Abteilung.
Er kommt am 9. Oktober 1942 an.
1943 entscheidet der Arzt Willi Baumert:
Siegfried muss in der Anstalt bleiben.

Der Arzt entscheidet:
Die drei Geschwister von Siegfried sollen auch in die Anstalt.
Der Arzt untersucht Hannelore, Irmgard und Ernst.
Er sagt:
Hannelore ist dumm.
Sie kann nichts.
Irmgard ist dumm.
Sie kann nichts.
Ernst ist dumm.
Er kann nichts.

Danach müssen alle Kinder auch in die Kinder-Fach-Abteilung.
Sie kommen nach Lüneburg.
Sie kommen zu Siegfried.

Die Schwestern freuen sich.
Sie sehen ihren Bruder Siegfried wieder.
Das tut ihnen gut.
Sie sind fröhlich.
Sie spielen.
Sie können sich waschen.
Sie machen alles richtig.

Deswegen entscheidet der Arzt:
Hannelore und Irmgard sollen doch zur Schule gehen.
Hannelore und Irmgard kommen in eine andere Anstalt.
Sie kommen nach Lemgo.
Da gibt es eine Schule.
Sie bleiben in Lemgo.
Auch als der Krieg aus ist.
1960 und 1962 dürfen sie nach Hause.
Da sind sie keine Kinder mehr.
Da sind sie erwachsene Frauen.

Ernst und Siegfried bleiben in der Anstalt.
Die Brüder bleiben zusammen.
Im Januar 1945 ändert sich das.
Ernst muss auf eine andere Station.

Ernst ist beliebt.
Alle mögen ihn.

Aber Ernst bekommt zu wenig zu essen.
Er wird ganz dünn.
Er wird auch krank.
Er verhungert.
Er stirbt im April 1945.

Sein Bruder Siegfried ist bei ihm.
Siegfried bekommt den Tod von Ernst mit.
Er ist sehr traurig.
Eine Woche später ist der Krieg aus.

Siegfried ist jetzt alleine.
Er bleibt in der Anstalt.
Er darf nur für ein paar Tage nach Hause.
Seine Schwester Waltraut will mit ihm Weihnachten feiern.
Das ist im Jahr 1955.

Waltraut will Siegfried wieder-sehen.
Sie hat ihn drei-zehn Jahre lang nicht gesehen.
Sie fragt:
Was kann mein Bruder Siegfried?
Kann er arbeiten?

Ein Arzt in der Anstalt antwortet:
Siegfried kann arbeiten.
Er kann auf einem Bauern-Hof helfen.
Er muss nicht in der Anstalt bleiben.
Er kann zu Waltraut.
Er kann auf ihrem Bauern-Hof arbeiten.

Aber:
Waltraut bekommt Angst.
Sie ist sich unsicher.
Sie holt ihn nicht ab.
Sie entscheidet:
Siegfried muss in der Anstalt bleiben.

Viele Jahre vergehen.
Siegfried ist kein Kind mehr.
Er ist ein Mann.
Er ist fast vierzig Jahre alt.
Er kommt in eine andere Anstalt.
Er kommt von Lüneburg nach Königs-Lutter.
Das ist im Jahr 1969.

Sieben Jahre später stirbt Siegfried.
Er ist nie wieder aus der Anstalt raus-gekommen.
Er hat die Kinder-Fach-Abteilung überlebt.
Er ist aber nie frei und immer alleine.

Das ist ein Bericht über Hannelore.
Darin steht:
Hannelore ist schlau.
Sie darf auf eine Schule gehen.
Sie kommt nach Lemgo.

Das ist ein Brief.
Darin steht:
Die Mutter hat Siegfried aus der Anstalt ab-geholt.
Er ist nicht mehr in Lüneburg.
Er ist wieder zu Hause.

Das ist ein Brief.
Der Brief ist an die Anstalt.
Er ist von seiner Schwester Waltraut.
Sie will Siegfried nach Hause holen.
Sie will Weihnachten mit ihm feiern.
Sie hat Siegfried drei-zehn Jahre lang nicht gesehen.

Das ist ein Brief.
Es ist ein Brief von Waltraut.
Sie fragt:
Was kann mein Bruder Siegfried?
Kann er arbeiten?
Sie schreibt:
Ich werde Siegfried ab-holen.

Melde-Pflicht

Im National-Sozialismus gibt es einen Befehl.
Er ist streng geheim.
Niemand darf davon wissen.
Nur Ärzte und Geburts-Helfer.

In dem Befehl steht:
Kinder mit Behinderungen müssen gemeldet werden.
Von Ärzten.
Von Geburts-Helfern.
Von Kranken-Häusern.
Von Geburts-Häusern.

Für die Meldung gibt es einem Melde-Bogen.
Das ist ein Zettel.
Darauf steht wie das Kind heißt.
Wo es wohnt.
Wieso es gemeldet wird.
Ob es sprechen und laufen kann.
Ob es auf Klo gehen kann.
Ob es schon einmal in einem Kranken-Haus war.
Wie lange es leben wird.
Ob es wieder gesund wird.
Oder nicht.

Diese Kinder müssen die Ärzte und Geburts -Helfer melden:
Kinder mit Anfällen.
Kinder mit Down-Syndrom.
Kinder mit geistiger Behinderung.
Kinder mit körperlicher Behinderung.
Kinder mit einem »Wasserkopf«.
Kinder mit Lern-Schwierigkeiten.

Es gibt eine Belohnung für die Meldung.
Geburts-Helfer bekommen 2 Mark.
Das sind heute 80 Euro.
Das ist viel Geld.
Deswegen melden sie viele Kinder.
Besonders als es den Geburts-Helfern schlecht geht.
Wegen dem Krieg.

Erst gilt die Melde-Pflicht nur für Kinder unter 3 Jahre.
Im Jahr 1941 gilt der Befehl für auch für ältere Kinder.
Für alle Kinder unter 16 Jahre.

Im Oktober 1939 gilt die Melde-Pflicht für alle Patienten.
Jeder Patient in einer Anstalt muss gemeldet werden.
Es gibt einen neuen Melde-Bogen.
Darauf wird gefragt:
Bekommt der Patient Besuch?
Hat der Patient gegen das Gesetz verstoßen?
Ist der Patient Jude?
Oder Roma oder Sinti?
Arbeitet der Patient?

Der fertige Melde-Bogen wird nach Berlin geschickt.
In die Tiergarten-Straße 4.
Da ist ein Amt.
Es plant und organisiert den Patienten-Mord.
Das geht nur mit den Melde-Bögen.

Ohne Melde-Pflicht klappt der Mord nicht.
Durch die Melde-Pflicht können Ärzte entscheiden:
Der Mensch darf leben und der muss sterben.