Dorothea Kaliwe

Dorothea Kaliwe, die Jüngste von insgesamt elf Kindern einer Gastwirtsfamilie, wurde am 14. Januar 1890 in Tarkowo im heutigen Polen geboren. In ihrer Jugend durfte sie eine Höhere Töchterschule besuchen und ihre Ausbildung zur Kindergärtnerin absolvieren. 1909 lernte sie ihren 15 Jahre älteren zukünftigen Ehemann, den »königlichen Forstaufseher« Ernst Kaliwe kennen. Sie heirateten am 18. August 1910 und lebten in seiner Dienstwohnung auf Schloss Adlig Hammerstein. Ein Jahr später kam der Sohn Günter zur Welt, 15 Monate später die Tochter Ursula. 1914 wurde Ernst zum Militär eingezogen. Nach seiner Rückkehr wurde der Sohn Ernst Kaliwe junior geboren. Ernst übernahm eine Försterei in Heimbuch in der Lüneburger Heide.

Infolge des Heimatverlustes und einer Fehlgeburt von Zwillingen erkrankte Dorothea an Depressionen. 1924 erfolgte die erste Aufnahme in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg. Nach drei Monaten wurde sie wieder entlassen. Ihr Ehemann übernahm die Försterei in Scharnebeck und die Familie zog erneut um. In der darauffolgenden Zeit kam es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu ehelicher Gewalt gegen Dorothea, die sich wehrte. Als angesehener Förster von seiner Frau geschlagen worden zu sein, stellte für Ernst Kaliwe eine schwere Kränkung dar.

Im September 1928 wies er seine Frau ein zweites Mal in die Anstalt ein. 1940 und 1941 starben die Söhne Günter und Ernst im Krieg. Ursula, die 1933 den Förster Theo Zobel heiratete, blieb Dorotheas einzige Bezugsperson. Als Dorothea am 8. September 1943 in die Tötungsanstalt Pfafferode verlegt wurde, informierte Max Bräuner ihren Ehemann Ernst. Es ist davon auszugehen, dass sich die Männer kannten. Dorotheas Tochter Ursula und ihr Schwiegersohn Theo fuhren dem Verlegungstransport hinterher und erzwangen die Herausgabe der Mutter bzw. Schwiegermutter.

Dorothea lebte bis zu ihrem Tod im Januar 1967 bei ihrer Tochter. Theo Zobel überlebte den Krieg nicht. Er wurde 1944 wegen Defätismus denunziert und in ein Strafbataillon versetzt. Als Mitglied der Reserve der 6. Armee stirbt er mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Operation Jassy-Kischinew zwischen 21. und 29. August 1944. Im Jahr 1959 wurde er offiziell für tot erklärt.

Dorothea Kaliwe mit ihren beiden Kindern Günter und Ursula, ca. 1915.

Archiv der »Euthanasie«-Gedenkstätte Lüneburg.

Dieses Bild entstand in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg, als Dorothea von ihrer Tochter Ursula und ihrer neugeborenen Enkelin besucht wurde, Dezember 1934.

Archiv der »Euthanasie«-Gedenkstätte Lüneburg.

In der hinteren Reihe stehen die Brüder Günter und Ernst Kaliwe, Ernst Kaliwe senior, Ursula und Theo Zobel. In der vorderen Reihe stehen die Enkelinnen Gisela und Ursula. Scharnebeck, ca. 1940.

Archiv der »Euthanasie«-Gedenkstätte Lüneburg.

Das ist das Deckblatt der Charakteristik von Dorothea Kaliwe mit dem Stempel »8.9.1943 nach Pfafferode verlegt«.

NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 00946.

Dorothea Kaliwe

Dorothea Kaliwe ist am 14. Januar 1890 geboren.
Sie ist die Jüngste von 11 Kindern.
Sie besucht eine gute Schule.
Danach wird sie Kinder-Gärtnerin.

Im Jahr 1910 heiratet sie den Förster Ernst Kaliwe.
Sie bekommen 3 Kinder:
Ernst, Günther und Ursula.
Ernst Kaliwe wird Förster in Heimbuch.
Das ist ein Ort in der Lüneburger Heide.

Dorothea Kaliwe bekommt Heim-Weh.
Und sie hat eine Fehl-Geburt.
Das ist zu viel für sie.
Sie wird krank.
Sie ist immerzu traurig.

Im Jahr 1924 kommt sie in die Lüneburger Anstalt.
Nach 3 Monaten darf sie wieder nach Hause.
Danach wird Ernst Kaliwe Förster in Scharnebeck.
Das ist in der Nähe von Lüneburg.

Ernst Kaliwe behandelt seine Ehe-Frau schlecht.
Er schlägt sie.
Dorothea Kaliwe wehrt sich.
Darüber ist Ernst Kaliwe sehr wütend.
Er bringt seine Frau Dorothea in die Anstalt zurück.
Das ist im September 1928.
Sie bleibt dort 15 Jahre.

In der Zwischenzeit heiratet ihre Tochter Ursula.
Sie heiratet auch einen Förster: Theo Zobel.
Ursula Zobel und ihr Ehe-Mann besuchen die Mutter.
Sie besuchen sie auch mit ihrem ersten Enkel-Kind.

Am 8. September 1943 wird Dorothea Kaliwe verlegt.
Sie kommt in die Tötungs-Anstalt Pfafferode.

Das hat Max Bräuner entschieden.
Max Bräuner ist der Ärztliche Direktor der Lüneburger Anstalt.
Der Ehe-Mann von Dorothea und Max Bräuner kennen sich.
Max Bräuner erzählt Ernst Kaliwe von der Verlegung seiner Ehe-Frau.

Ernst Kaliwe interessiert das nicht.
Es ist ihm egal.
Aber er erzählt der Tochter Ursula davon.
Sie und ihr Ehe-Mann Theo Zobel fahren Dorothea hinterher.
Sie wollen Dorothea retten.
Sie wollen ihre Ermordung verhindern.
Theo hat ein Gewehr dabei.
Damit droht er: Ich will meine Schwieger-Mutter mitnehmen.
Keiner hindert mich.
Wenn mich jemand daran hindert,
erschieße ich ihn.

Das hat Erfolg.
Ursula und Theo Zobel dürfen Dorothea mitnehmen.
Sie retten Dorothea.
Dorothea überlebt.

Sie wohnt ab dann bei ihrer Tochter Ursula.
Im Jahr 1967 stirbt sie als alte Frau.

Theo Zobel überlebt den Krieg nicht.
Er sagt: Ich finde nicht gut, was die Nazis machen.
Das ist verboten.
Er wird verraten.
Zur Strafe muss er in den Krieg.
Dort stirbt er im August 1944.

Das ist ein Foto von Dorothea Kaliwe.
Auf dem Foto sind die Kinder Günter und Ursula zu sehen.
Das Foto ist über 100 Jahre alt.

Das Foto ist aus dem Jahr 1934.
Es ist in der Anstalt in Lüneburg auf-genommen.
Ursula besucht ihre Mutter Dorothea in der Anstalt.
Sie zeigt ihr Baby.
Es ist die Enkelin von Dorothea Kaliwe.

Das ist ein Familien-Foto.
Es ist etwa aus dem Jahr 1940.
Zu sehen sind: Günther und Ernst Junior.
Daneben steht Ernst Kaliwe.
Neben ihm stehen Ursula und Theo Zobel.
Davor stehen Gisela und Ursula.
Es sind die Enkelinnen von Dorothea Kaliwe.

Das ist ein Blatt aus der Kranken-Akte von Dorothea Kaliwe.
Darauf sind auch Stempel.
Auf einem Stempel steht:
8.9.1943 nach Pfafferode verlegt.
Sie soll ermordet werden.

Gertrud, Gerhard und Herbert Glass

Gertrud Glass ist im Jahr 1916 geboren.
Sie hat zwei jüngere Brüder.
Herbert ist im Jahr 1919 geboren.
Gerhard ist im Jahr 1921 geboren.
Die Familie wohnt in der Nähe von Lüneburg.
Sie haben wenig Kontakt zu anderen.

Ein Arzt aus Lüneburg sagt:
Die drei Geschwister sind schwach-sinnig.
Das ist im Jahr 1934.
Da ist Gertrud acht-zehn Jahre alt.
Herbert ist fünf-zehn und Gerhard ist drei-zehn Jahre alt.

In allen drei Arzt-Briefen steht fast das gleiche.
Der Arzt schreibt die Briefe am gleichen Tag.
Das ist im November 1937.

Eine Woche später macht das Gesundheits-Amt eine Anzeige.
Die drei Geschwister sollen zwangs-sterilisiert werden.
Sie sollen un-fruchtbar gemacht werden.
Und keine Kinder bekommen.
Danach bestimmt das Gesundheits-Gericht:
Alle drei sollen operiert werden.
Das ist im Januar 1938.

Der Vater macht eine Beschwerde.
Er sagt:
Nein!
Aber das Gericht sagt Nein zu der Beschwerde.
Im Urteil steht:
Alle müssen operiert werden.
Gegen ihren Willen.

Die drei Geschwister werden zwangs-sterilisiert.
Das passiert im Juli 1938.
Sie werden im Lüneburger Kranken-Haus operiert.

Zwei Monate später wird der Vater krank.
Er kommt in die Lüneburger Anstalt.
Ein Jahr später stirbt er.

Die Mutter ist alleine mit den drei Kindern.
Alle sind jetzt erwachsen.
Im April 1942 kommt der Amts-Arzt zu der Familie.
Er sagt:
Alle drei Geschwister sollen in eine Anstalt.

Die drei Geschwister kommen in eine Anstalt.
Das ist am 13. Mai 1942.
Die Polizei bringt sie dort hin.

Die Mutter besucht ihre Kinder.
Sie kommt im Juni 1942.
Und im November 1942.
Und im Mai 1943.

Im September 1943 werden die Geschwister verlegt.
Sie kommen in eine andere Anstalt.
Sie kommen nach Pfafferode.

Dort bekommen die Patienten zu wenig zu essen.
Sie sollen sterben.
Sie werden ermordet.

Gerhard stirbt am 7. März 1944.
Einen Monat später stirbt Herbert.
Ein Arzt schreibt:
Herbert ist verhungert.
Es ist kein Geheimnis mehr.
Aber niemand interessiert sich dafür.
Obwohl es Mord ist.
Bis heute.
Auch Gertrud stirbt.

Das ist ein Arzt-Brief.
Über eine Zwangs-Sterilisation.
Darin steht:
Gertrud ist dumm.
Auch ihre Geschwister sind dumm.
Auf den Fotos ist Gertrud.

Das ist ein Foto von Gerhard Glass.
Es ist aus einem Arzt-Brief.
Über eine Zwangs-Sterilisation von 1937.

Das ist ein Sterbe-Bericht.
Es ist der Sterbe-Bericht über Herbert Glass.
Darin steht:
Herbert ist dumm.
Er stirbt an Hunger.

De-Zentrale Euthanasie

De-Zentrale Euthanasie heißt also der Mord an Psychiatrie-Patienten.
Egal in welchem Heim.
Und egal in welchem besonderen Kranken-Haus.

Das fängt nach der Aktion T4 an.
Und es geht bis weit nach dem Krieg.
Der Krieg endet im Mai 1945.
Aber die De-Zentrale Euthanasie geht noch 1 Jahr länger.
1 Jahr länger werden Patienten ermordet.
Obwohl der Krieg aus ist.

Die Patienten werden mit Medikamenten ermordet.
Sie bekommen zu viel von dem Medikament.
Sie werden vergiftet.
Sie sterben an einer Über-Dosis von dem Medikament.

Oder die Patienten sterben an Hunger.
Die Ärzte und Pfleger geben ihnen nichts zu essen.
Und auch nichts zu trinken.

Oder die Patienten sterben an einer Lungen-Tuberkulose.
Das ist eine tödliche Krankheit.
Sie ist sehr ansteckend.
Die Patienten stecken sich in den Anstalten und Kliniken an.
Das darf eigentlich gar nicht sein.
Wegen der notwendigen Sauberkeit und Hygiene in Kranken-Häusern.
Und es stecken sich auch nicht alle an.
Nur die die die National-Sozialisten nicht haben wollen.
Nur die die sterben sollen stecken sich an.
Vielleicht passiert das mit Absicht?
Das wird gerade erforscht.

Im Jahr 1944 werden besonders viele Patienten ermordet.
Der Grund ist:
Die Krankenzimmer werden gebraucht.
Zum Beispiel als Schule.
Oder als Amt.
Weil die eigentliche Schule durch eine Bombe zerstört ist.
Und das Amt auch.

Insgesamt werden über 2 hundert Tausend Patienten ermordet.
Sie sind Opfer der de-zentralen Euthanasie.
Die genaue Zahl ist nicht bekannt.
Weil fast in jedem Heim und in jeder Anstalt gemordet wird.
Im National-Sozialismus.
Am meisten in den Anstalten
Hadamar
Pfafferode
Und Meseritz-Obra-Walde.
Da sterben viele Tausend Menschen mit Behinderungen und seelischen Erkrankungen.
An zu viel Medikamenten.
An Hunger.
An Tuberkulose.

De-Zentrale Euthanasie Lüneburg

Auch in Lüneburg gibt es De-Zentrale Euthanasie.
Auch in der Anstalt in Lüneburg werden Patienten ermordet.
Mit Medikamenten.
Und durch Hunger.
Und durch Tuberkulose.

Diese Gruppen waren in Lüneburg:

Patienten aus einer Anstalt aus Hamburg.
Sie kommen nach Lüneburg.
Und viele werden ermordet.

Patienten aus dem Ausland.
In der Ausländer-Sammel-Stelle.

Erwachsene Patienten mit Behinderungen.

Jeder vierte Patient stirbt in der Lüneburger Anstalt.
Das ist sehr viel.
Das ist viel mehr als vor dem Krieg.
Der Mord hört auch nach dem Krieg nicht auf.
Die De-Zentrale Euthanasie hört erst im Sommer 1946 auf.
Da ist der Krieg schon über 1 Jahr vorbei.

Viele 100 Patienten aus Lüneburg werden plan-wirtschaftlich verlegt.
Das heißt:
Man braucht Platz in der Anstalt.
Darum müssen viele Patienten weg.
Nachdem die Aktion T4 schon vorbei ist.
Jetzt werden sie verlegt.
In die De-Zentrale Euthanasie.

Sie kommen wieder in die Anstalt Hadamar.
Die ist in Hessen.
Oder in das Konzentrations-Lager Neuen-Gamme.
Das ist in Hamburg.
Oder in die Anstalt Pfafferode.
Das ist in Thüringen.
Oder nach Meseritz-Obra-Walde?
Das ist in Polen.
Bei der letzten Anstalt ist das nicht sicher.
Aber Hadamar, Neuen-Gamme und Pfafferode sind sicher.
Viele Patienten werden dort ermordet.
Diesmal nicht mit Gas.
Sondern mit Medikamenten.
Und durch Verhungern.
In Neuen-Gamme auch durch Zwangs-Arbeit.

Wir wissen nicht wie viele ermordet sind.
Das finden wir gerade heraus.