»Kindergräberfeld«

Unter den 737 Kindern und Jugendlichen, die in die »Kinderfachabteilung« aufgenommen wurden, lassen sich nach derzeitigem Forschungsstand 425 Todesfälle identifizieren. Bis auf Einzelfälle ist davon auszugehen, dass die Kinder und Jugendlichen keines natürlichen Todes gestorben sind, sondern ermordet wurden, also Opfer der »Kinder-Euthanasie« sind.

Für die auf dem Anstaltsfriedhof beerdigten Kinder und Jugendlichen gab es zwei »Kindergräberfelder« (a und b), die später zu einem Gräberfeld zusammengefasst wurden. Auf ihnen wurden zwischen dem 20. Oktober 1941 und dem 3. Januar 1950 insgesamt 297 Kinder, davon 175 Jungen, 121 Mädchen und ein unbekanntes Kind begraben. Das jüngste Kind war bei seinem Tod drei Monate, das älteste 16 Jahre alt.

Bis Kriegsende wurden 260 Kinder, bis Jahresende 1945 weitere 23 Kinder bestattet. Ab 1946 nahm die Zahl der Bestattungen rasch ab. 1946 gab es sechs, 1947 nur vier, 1948 zwei und 1949 sowie 1950 jeweils nur eine Bestattung.

Die Bestattungen erfolgten in Särgen, als Einzelgräber in Reihe. Gab es keine Kindersärge, mussten die Kinder und Jugendlichen in Särgen für erwachsene Leichen bestattet werden. Da diese nicht in die kleiner bemessenen Kindergräber passten, wurden sie nicht auf dem »Kindergräberfeld« bestattet, sondern in Streulage zwischen den anderen Patient*innen-Gräbern. Infolgedessen konnten außerhalb des »Kindergräberfeldes« mindestens acht weitere Gräber von Opfern der »Kinder-Euthanasie« identifiziert werden. Insgesamt gab es 24 Gräber von Kindern und Jugendlichen außerhalb des »Kindergräberfeldes«.

Bei der Bestattung waren nur in seltenen Fällen Angehörige zugegen. Obwohl die Grabpflege aus öffentlichen Mitteln finanziert wurde, gab es Angehörige, die die Gräber pflegten, sobald es ihnen möglich war nach Lüneburg zu reisen. Die öffentlich gepflegten Gräber blieben mit Rasen und Efeu bepflanzt.

Fast alle Kindergräber wurden ab Mitte der 1970er Jahre aufgelöst und überbettet. Die Angehörigen wurden darüber nicht informiert. Nur vier Gräber wurden umgebettet und blieben auf der 1975 errichteten Kriegsgräberstätte erhalten.

Kriegsgräberstätte

Die 1975 angelegte Kriegsgräberstätte auf dem Friedhof der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg umfasst heute 84 Gräber, davon 80 für Erwachsene und vier für Kinder. Unter den Erwachsenen waren 24 Frauen und 56 Männer im Alter von 17 bis 88 Jahren. Das Durchschnittsalter der Beerdigten betrug 30 Jahre bei den Frauen und 35 Jahre bei den Männern. Mit einer Ausnahme waren alle Toten Patient*innen der Heil- und Pflegeanstalt. Sie starben zwischen 1922 und 1950 und kamen aus Polen (29), Russland (20), Ukraine (10), Lettland (5), Rumänien (2), Serbien (2), Slowenien (2), Belgien (1), Griechenland (1), Italien (1), Niederlande (1), Spanien (1) und Ungarn (1). Die Herkunft von vier Toten ist unbekannt.

Bei den Toten handelt es sich um ausländische Zwangsarbeiter*innen, Kriegsflüchtlinge, »Umsiedler*innen« und solche, deren Staatsbürgerschaft nicht eindeutig geklärt ist. 21 der hier liegenden Toten starben an Hunger und Erschöpfung. In 34 der Gräber wurden Patient*innen bestattet, die an Tuberkulose gestorben waren. In zehn Gräbern ruhen Erkrankte, die aus der Heil- und Pflegeanstalt Oldenburg in Wehnen am 14. Dezember 1944 nach Lüneburg verlegt wurden. Sie wurden kaum untersucht, starben ebenfalls zumeist an Hunger und Erschöpfung. Zur Anlage gehören auch 19 Gräber von Menschen, die an »Altersschwäche«, Lungenentzündung, Mohnvergiftung und infolge von Dauerkrampf oder einer Operation starben.

Die Gräber von Kindern, die in der »Kinderfachabteilung« der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg Patient*innen waren, wurden ab Mitte der 1970erJahre aufgelöst. Nur die Gräber von Dieter Lorenz, Berend – Benni – Hiemstra, Rosa Reinhard und Abraham Kamphuis sind erhalten geblieben. Abweichend vom Kriegsgräbergesetz von 1952, durch das Gräber ausländischer Kinder nicht explizit geschützt wurden, hatte die Friedhofsverwaltung diese und zwei weitere Gräber 1954 bzw. 1957 auf die Kriegsgräberliste gesetzt.

Sieben Kindergräber wurden bei der Anlage der Kriegsgräberstätte 1975 nicht berücksichtigt:

Bernd Sabarosch (1944 – 1945, Holland)
Luba Gorbatschuk (1943 – 1944, unbekannt)
Ilja Matziuk (1944 – 1945, unbekannt)
Elisabeth van Molen (1943 – 1944, Holland)
Johann Peter Wolf (1932 – 1942, Holland)
Uossy bzw. Kossi (… – 1945, unbekannt)
Yvonne Mennen (1938 – 1944, Holland)

Die Gräber von Ilja Matziuk und Luba Gorbatschuk, zwei Mädchen von Zwangsarbeiterinnen, wurden 1975 überbettet, obwohl sie gemäß Ministerialerlass von 1966 geschützt waren. Elisabeth van Molens Grab ist zuletzt in der Kriegsgräberliste von 1958 erwähnt. Johann Peter Wolfs Grab wurde 1975 noch in die Planung der Kriegsgräberstätte einbezogen. Beide wurden nicht umgebettet.

Gedenkanlage

Anlässlich der Bestattung der sterblichen Überreste von Kindern und Jugendlichen, die in der »Kinderfachabteilung« Lüneburg 1941 und 1942 ermordet worden waren, wurde 2013 eine Gedenkanlage errichtet. Sie erinnert an die mit der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg in Verbindung stehenden NS-Opfer. Bereits seit 1983 erinnert ein Gedenkstein auf dem Friedhof an die Opfer der Lüneburger NS-Psychiatrie. Dieser wurde in die neu errichtete Gedenkanlage integriert.

Die Gedenkanlage besteht aus einem Backsteinband aus gelben und roten Steinen in Anlehnung an die Gebäude der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg, der heutigen Psychiatrischen Klinik. Es wurden 297 rote Steine verlegt, einer für jedes auf dem »Kindergräberfeld« bestattete Kind. Ein Block von 37 gelben Steinen wurde für die Kinder gesetzt, von denen bisher Organ-Abgaben nach Hamburg belegt sind. Die Gedenkanlage ist zugleich das Grab von zwölf Kindern, deren sterbliche Überreste im Rahmen der Einweihung am 25. August 2013 beigesetzt wurden. Für sie ragen zwölf historische Steine von 1901, dem Baujahr der Anstalt, heraus.

An die Gedenkanlage wurden Kirschbäume gepflanzt, die symbolisch für die verschiedenen Opfergruppen und für jedes individuelle Einzelschicksal stehen. Die Gedenkanlage ist allen diesen Opfern gewidmet: Frauen und Männern, die gegen ihren Willen unfruchtbar gemacht wurden oder die aus der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg in die Tötungsanstalten Pirna-Sonnenstein und Hadamar verlegt und dort vergast wurden, Kindern und Jugendlichen, die in der Lüneburger »Kinderfachabteilung« ermordet wurden, ausländischen Patient*innen, die aus Norddeutschland in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg konzentriert und von dort deportiert wurden, sowie allen Patient*innen, die in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg der »dezentralen Euthanasie« zum Opfer fielen und an Mangelernährung bzw. den Folgen von Verwahrlosung starben.

In den Jahren 2006 und 2012 wurden im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Gehirnschnitte von Kindern und Jugendlichen entdeckt, die in der Lüneburger »Kinderfachabteilung« ermordet wurden. Die Präparate wurden im Beisein der Angehörigen dicht an den ursprünglichen Gräbern der Kinder bestattet. Bei den zwölf Kindern handelt es sich um:

Marianne Begemann (1929 – 1941)
Rosemarie Bode (1935 – 1942)
Waldemar Borcholte (1931 – 1942)
Friedrich Daps (1933 – 1942)
Heinrich Herold (1934 – 1942)
Elsa Knust (1928 – 1942)
Herta Ley (1930 – 1942)
Hans-Herbert Niehoff (1933 – 1942)
Helmut Quast (1930 – 1942)
Heinz Schäfer (1937 – 1942)
Eckart Willumeit (1928 – 1942)
Werner Wolters (1938 – 1942)

Ehrenhain

1967 wurde der ehemalige Ärztliche Direktor Dr. Rudolf Redepenning am Fuße der »Kindergräberfelder« beigesetzt. Das Grab ist durch ein Hochkreuz gekennzeichnet und erinnert aufgrund seiner zentralen Lage sowie einer Douglasien-Allee, die quer über den Friedhof zu seinem Grab mit Hochkreuz hinführt, an einen Ehrenhain.

Als das Grab errichtet wurde, waren sämtliche Gräber der Opfer der Lüneburger »Euthanasie«-Verbrechen noch vorhanden und nicht überbettet, das »Kindergräberfeld« und das »Ausländergräberfeld« in unmittelbarer Nähe noch voll belegt. Auch existierte noch keine Kriegsgräberstätte oder Gedenkanlage.

Der Ehrenhain mit Grab von Rudolf Redepenning war aufgrund seiner Dimension auf dem Friedhof dominant. Das ihm gewidmete Kreuz und die Allee stachen markant hervor. Das ist insofern bemerkenswert, als dass Rudolf Redepenning in Bezug auf die Lüneburger »Euthanasie«-Verbrechen nicht nur Zuschauer und Mitläufer, sondern auch Tatbeteiligter und Täter war. Während seiner Zuarbeit zur Aufarbeitung der Verbrechen im Zuge zweier Ermittlungsverfahren Ende der 1940er und in den 1960er Jahren konnte er seine eigene Verstrickung geheim halten.

Der Ehrenhain wurde wohl auch dadurch gerechtfertigt, dass er sich für eine Reform der Nachkriegspsychiatrie eingesetzt hatte und dafür das Bundesverdienstkreuz erhielt. Für die Angehörigen der Opfer der »Euthanasie«-Verbrechen ist es ein Hohn, dass sein Grab als Ehrenhain angelegt und gepflegt wurde, während die Gräber hunderter Ermordeter verschwanden.