Martha Ossmer

Martha Ossmer ist am 22. Mai 1924 geboren.
Sie lebt in Bremen.
Ihre Eltern sind Christian und Bertha.
Sie hat zwei Schwestern.
Sie heißen Elfriede und Käthe.

Die Geburt von Martha ist schwer.
Sie muss mit einer Zange geholt werden.
Dabei passiert ein Unfall.
Darum hat Martha eine Behinderung.

Martha kann nicht sprechen.
Sie kann keine Treppen gehen.
Sie braucht viel Hilfe.
Die Schwestern helfen ihr.

Die Familie von Martha hilft gerne.
Sie halten zusammen.
Martha geht nicht zur Schule.
Martha ist immer bei ihrer Familie.
Sie ist über-all dabei.
Es ist Krieg.
Viele Bomben fallen auf Bremen.
Martha muss in einen Keller.
Dort ist sie sicher.
Da ist Martha 20 Jahre alt.
Marthas Mutter sagt:
Ich kann Martha nicht mehr helfen.
Ich kann sie nicht in den Keller tragen.
Ich habe keine Kraft.

Ein Arzt sagt:
Martha muss in ein besonderes Kranken-Haus.
Da ist sie sicher.
Da hilft man ihr.
Das Kranken-Haus in Bremen ist voll.
Martha muss nach Lüneburg.
Dort hat das besondere Kranken-Haus ein Bett frei.

In Lüneburg bekommt Martha Besuch.
Es ist ihr Vater Christian.
Er bringt Kuchen mit.
Martha isst den ganz Kuchen alleine auf.
Sie hat Hunger.
Sie bekommt sehr wenig zu essen.
Und sie bekommt Medikamente.
Die Medikamente helfen ihr nicht.
Sie wird damit vergiftet.

Sie stirbt am 18. April 1945.
An dem Tag hört der Krieg in Lüneburg auf.

Das ist ein Foto von Martha Ossmer.
Sie sitzt auf dem Schoss von ihrem Vater.
Das ist im Jahr 1928.
Martha ist etwa vier Jahre alt.

Das ist ein Foto von Elfriede und Käthe.
Sie stehen im Wohn-Zimmer.
Es ist Weihnachten.
Das ist im Jahr 1933.

Das ist ein Foto vom Grab von Martha.
Das Grab ist auf einem Fried-Hof in Lüneburg.
Es hat ein Holz-Kreuz.
Darauf steht ihr Name und eine Nummer.

Gedenk-Anlage

Auf dem Fried-Hof Nord-West.
Es ist ein Denk-Mal.
Hier wird an die Opfer vom Patienten-Mord erinnert.
Es ist wie ein Ersatz-Grab.
Viele Familien haben kein Grab mehr von ihrem Opfer.
Sie können an der Gedenk-Anlage trauern.

Schon im Jahr 1983 gibt es einen Gedenk-Stein.
Aber er reicht nicht.
Und er steht am falschen Ort.
Auf dem Fried-Hof.

Dann finden 2 Forscher Teile von Gehirnen.
Sie gehören 12 Kinder-Opfern vom Patienten-Mord.
Diese Gehirn-Teile sollen beerdigt werden.
Aber nicht irgend-wo.
Sondern da wo die toten Kinder beerdigt sind.

Also entscheiden die Mitarbeiter der Gedenk-Stätte:
Wir brauchen eine Gedenk-Anlage.
Da sollen die Gehirn-Teile beerdigt werden.
Sie entscheiden auch:
So soll die Gedenk-Anlage aussehen.

Es gibt 297 rote Steine.
Jeder rote Stein steht für ein totes Kind.

Es gibt 37 gelbe Steine.
Jeder gelbe Stein steht für ein Kind.
Dem man das Gehirn raus-genommen hat.

Es gibt 12 ganz alte Steine von der Anstalt.
Sie stehen für die 12 Kinder mit den Gehirn-Teilen.
Sie heißen:

Marianne Begemann
Rosemarie Bode
Waldemar Borcholte
Friedrich Daps
Heinrich Herold
Elsa Knust
Herta Ley
Hans-Herbert Niehoff
Helmut Quast
Heinz Schäfer
Eckart Willumeit
Werner Wolters

Es werden 4 Kirsch-Bäume gepflanzt.
Jeder Baum steht für eine Opfer-Gruppe.
Die ermordeten Kinder und Jugendlichen.
Die Opfer der Aktion T4.
Die Opfer der De-Zentralen Euthanasie.
Die Opfer der Aus-Länder-Sammel-Stelle.

Die Gedenk-Anlage erinnert an alle Opfer.

Kriegs-Gräber-Stätte

Die Kriegs-Gräber-Stätte besteht aus vielen Gräbern.
Von Opfern des Zweiten Welt-Krieges.
Die Kriegs-Gräber-Stätte auf dem Fried-Hof Nord-West gehört zur Anstalt.
Es sind 79 Gräber von erwachsenen Patienten.
Nur einer ist kein Patient.
Und es sind 4 Gräber von Kindern aus der Kinder-Fach-Abteilung.
Viele sind Opfer vom Patienten-Mord.
In der Zeit des National-Sozialismus.

Die Toten kommen aus ganz Europa.
Aus Polen und Russland kommen die meisten.
Und aus der Ukraine.
Von 4 Toten weiß man nicht woher sie kommen.

Viele der Toten sind Zwangs-Arbeiter.
Oder Flüchtlinge.
Viele sterben vor Hunger.
Oder weil sie keine Kraft mehr haben.
Oder sie haben eine tödliche Lungen-Erkrankung.
Ärzte helfen ihnen nicht.
Darum sterben sie.

Jedes zweite Grab gehört zum Aus-Länder-Gräber-Feld.
Die Kinder-Gräber kommen vom Kinder-Gräber-Feld.
Sie gehören zu:
Dieter Lorenz
Berend Hiemstra
Rosa Reinhard
Abraham Kamphuis

Eigentlich sollen alle Gräber von Opfern dableiben.
Ein Kriegs-Gräber-Gesetz schützt sie.
Darin steht:
Alle Gräber von Opfern von Krieg und Gewalt müssen erhalten bleiben.
Für immer.

Aber das passiert nicht.
Alle Gräber werden auf-gelöst.
Bis auf die der Kriegs-Gräber-Stätte.
Weil das Fried-Hofs-Amt denkt:
Das sind Gräber von Aus-Ländern.
Aus-Länder waren Opfer von Krieg und Gewalt.
Darum müssen sie Teil der Kriegs-Gräber-Stätte sein.

Dabei vergisst das Fried-Hofs-Amt 7 Kinder-Gräber.
Es sind die Gräber von:

Bernd Sabarosch
Luba Gorbatschuk
Iljia Matziuk
Elisabeth van Molen
Johann Peter Wolf
Uossy bzw. Kossi
Yvonne Mennen.

Kinder-Gräber-Feld

Es gibt 425 tote Kinder und Jugendliche.
In der Zeit des National-Sozialismus.
In der Anstalt in Lüneburg
Fast alle sind ermordet.
Sie sind Opfer vom Patienten-Mord.

Sie werden beerdigt.
Auf einem Fried-Hof.
Das ist der Fried-Hof Nord-West.

Die Gräber sind auf einem besonderen Teil.
Da werden nur Kinder begraben.
Deswegen heißt es Kinder-Gräber-Feld.

Dort werden fast 300 Kinder und Jugendliche begraben.
Das jüngste tote Kind ist erst 3 Monate alt.
Das älteste tote Kind ist 16 Jahre alt.
Das passiert zwischen den Jahren 1941 und 1950.

Jedes Kind bekommt einen Kinder-Sarg.
Er ist kleiner als der für Erwachsene.
Und jedes Kind bekommt ein eigenes Grab.
Ein Kinder-Grab.
Es ist auch kleiner als das für Erwachsene.

Manchmal gibt es keinen Kinder-Sarg.
Dann nimmt man einen großen Sarg für Erwachsene.
Dann muss das Kind auch in ein großes Grab.
Denn der große Sarg passt nicht in das kleine Kinder-Grab.
Darum gibt auch Kinder-Gräber außerhalb vom Kinder-Gräber-Feld.
Insgesamt 24.
8 sind Gräber von Opfern vom Patienten-Mord.

Die Familien sind bei der Beerdigung nicht dabei.
Sie müssen sich nicht um das Grab kümmern.
Das macht der Fried-Hofs-Gärtner.
Trotzdem kommen viele Familien.
Sie pflanzen Blumen auf das Grab.
Sie setzen einen Grab-Stein.
Sie kommen und gießen die Blumen.
Die anderen Gräber sind nur Rasen und Efeu.

Ab 1975 werden die Gräber weg gemacht.
Die Familien erfahren das nicht.
Niemand sagt ihnen:
Das Grab kommt weg.

Nur 4 Kinder-Gräber bleiben erhalten.
Sie werden Teil einer Kriegs-Gräber-Stätte.

»Kinder-Euthanasie«

Euthanasie heißt Patienten-Mord.
Kinder-Euthanasie heißt Kinder-Mord.

Im National-Sozialismus werden Kinder ermordet.
Es sind Kinder mit Behinderungen.
Und Kinder die sich anders verhalten.
Der Mord fängt im Jahr 1938 oder 1939 an.

Ab dem Jahr 1939 müssen alle Kinder mit Behinderung gemeldet werden.
Kinder die nicht laufen.
Kinder die nicht sprechen.
Kinder die nicht sehen.
Kinder die nicht hören.
Kinder die langsam im Lernen sind.
Kinder die langsam im Denken sind.

Ärzte und Pfleger und Geburts-Helfer melden.
Sie sagen dem Gesundheits-Amt:
Dieses Kind ist krank.
Es hat eine Behinderung.
Es muss in ein besonderes Kranken-Haus.
Es muss in eine Kinder-Fach-Abteilung.
Das ist eine Kinder-Station.
Da werden die Kinder untersucht.
Ein Arzt sagt dann:
Das Kind ist krank.
Das Kind muss sterben.

Der Arzt sagt das nicht immer alleine.
Er bekommt Hilfe von 3 anderen Ärzten in Berlin.
Sie nennen sich Reichs-Aus-Schuss.

Die Kinder werden mit einem Medikament ermordet.
Sie bekommen viel zu viel von dem Medikament.
Sie sterben oft an einer Lungen-Entzündung.
Das kommt durch das Medikament.

Es werden mehr als 5 Tausend Kinder ermordet.
Viele in einer Kinder-Fach-Abteilung.
Die jüngsten sind nur wenige Tage alt.
Die ältesten sind fast 16 Jahre alt.

Manchmal machen die Ärzte mit den Kindern Versuche.
Sie geben ihnen nicht erlaubte Medikamente.
Sie geben ihnen nicht das Medikamente das sie brauchen.
Sie geben ihnen nichts zu essen.
Viele Kinder sterben auch an Hunger.

Man nimmt den toten Kindern das Gehirn raus.
Es wird untersucht.
Die Ärzte wollen wissen:
Warum hat das Kind eine Behinderung?
Das Gehirn wird auch zu anderen Ärzten geschickt.
Zum Beispiel an eine Hoch-Schule.
Da lernen Menschen den Arzt – Beruf.
Da forschen sie an den Gehirnen.

Manchmal melden die Ärzte, Pfleger oder Geburts- Helfer auch
mehrere Kinder aus einer Familie.
Brüder und Schwestern kommen zusammen in die Kinder-Fach-Abteilung.
Sie werden alle ermordet.
Oder einzelne über – leben.
Dann beobachten sie den Mord an der Schwester oder dem Bruder.

Nur wenige Kinder über – leben.
Ihre Familien retten sie.
Oder sie bleiben viele Jahre in der Anstalt.
Oft gegen ihren Willen.
Auch nachdem der National-Sozialismus vorbei ist.

Veronal

Das Medikament mit dem Handelsnamen Veronal (Wirkstoff Barbitursäure) wurde 1903 zugelassen und kommerziell sehr erfolgreich vertrieben. Es galt in kleinen Dosen als schlaffördernd und in größeren Dosen narkotisierend. Ab 1908 war Veronal allerdings nur noch rezeptpflichtig in den Apotheken erhältlich. Das Medikament führte schnell zu Abhängigkeit, beeinflusste die Stoffwechselprozesse im Körper und konnte bei einer Überdosierung zur Vergiftung führen.
In psychiatrischen Anstalten kam es an Patient*innen zu Medikamentenerprobungen. Hierbei zeigte sich, dass das Medikament eine lange Wirkdauer im Körper hatte und die Einnahme mit etlichen Nebenwirkungen einhergehen konnte. In der »Kinderfachabteilung« Lüneburg wurde Veronal im Rahmen der »Kinder-Euthanasie« zur Ermordung eingesetzt. Durch ärztliche Anweisung wurde eine bestimmte Dosis des Schlafmittels verabreicht, das konnte neben Veronal auch Luminal, Morphium-Scopalamin oder Chloral-Hydrat sein. Die Pflegerin Dora Vollbrecht sagte in einem gegen sie geführten Ermittlungsverfahren aus, dass die Kinder innerhalb von ein bis zwei Tagen an diesen Gaben verstorben seien.

Veronaltabletten.

ArEGL, Henning Bendler.