Trional

Das Medikament mit dem Handelsnamen Trional (Wirkstoff Methylsulfonal) wurde 1888 von dem Chemiker Eugen Baumann hergestellt und von dem Mediziner Alfred Kast als Schlafmittel eingeführt. Trional gehört neben Sulfonal und Tetronal zu den Sulfonalen, die Anfang des 20. Jahrhunderts weitgehend von den Barbituraten abgelöst worden sind.

Die populäre Reihe »Geisteskrankenpflege. Ein Lehr- und Handbuch für Irrenpfleger« verweist 1939 auf die risikoreiche Behandlung mit Trional: »Schlafmittel, wie z.B. Paraldehyd, Trional, werden auch als Mittel zur Erzielung eines Dauerschlafs angewendet. Die Dauerschlafbehandlung wird zur Abkürzung manischer, auch schizophrener Erregungszustände geübt. Dem Pfleger fällt dabei eine verantwortungsvolle Aufgabe zu, da der Dauerschlaf je nach dem angewandten Mittel nicht ungefährlich ist. Peinliche Verfolgung der ärztlichen Anordnungen und aufmerksame Beobachtung der Kranken, insbesondere des Pulses und der Atmung ist Pflicht.«

Trional kam im Rahmen der »Kinder-Euthanasie« zum Einsatz. Für die sächsische Landesanstalt Großschweidnitz ist belegt, dass im Dezember 1940 mindestens 17 Minderjährige durch eine »Trional-Kur« (Dauerschlafbehandlung) ermordet wurden. Ob es auch in der »Kinderfachabteilung« Lüneburg zum Einsatz der »Trional-Kur« kam, ist Gegenstand aktueller Forschung.

Luminal

Das Medikament mit dem Handelsnamen Luminal / Luminaletten (Wirkstoff Phenobarbital) wurde 1912 zugelassen und kam ab 1940 bis 1945 in der »Kinder-Euthanasie« zum Einsatz. Das Morden nach dem »Luminal-Schema« wurde in der »Kinderfachabteilung« Leipzig-Dösen entwickelt.

Gemeinsam mit Morphium und Veronal gehört das Medikament zu den Betäubungsmitteln, den sogenannten Barbituraten. Es wird seit der Zulassung zur Epilepsiebehandlung eingesetzt und wurde lange Zeit als beliebtes Schlafmittel verwendet. In der populären Reihe »Geisteskrankenpflege. Ein Lehr- und Handbuch für Irrenpfleger« heißt es 1937 bezüglich medikamentöser Beruhigungsmittel: »Weiterhin zählen dazu die verschiedenartigen Schlafmittel, die teilweise auch zur Beruhigung gegeben werden oder, wie Luminal und Prominal, sich als anfallsbeschränkende Mittel wirksam erweisen«.

Erwachsene Personen durften als maximale Einzelgabe 0,4 Gramm und als maximale Tagesgabe 0,8 Gramm Luminal erhalten. Kinder durften, je nach Alter, nur zwischen 0,015 – 0,2 Gramm erhalten.

Luminal und weitere Barbiturate wurden den Kindern und Jugendlichen in den »Kinderfachabteilungen« der Anstalten über längere Zeit verabreicht, um eine flache Atmung und dadurch Atemwegserkrankungen wie Lungenentzündungen zu provozieren. Oftmals sind die Kinder eines langwierigen Erstickungstodes gestorben.

Reichte dies nicht aus, um den Tod der Kinder und Jugendlichen zu erwirken, wurden ihnen weitere Dosen verabreicht oder zur Einleitung des Todes zusätzlich Morphin gegeben. Auch ließ man an kalten Tagen die Kinder unbekleidet und öffnete die Zimmerfenster, um Atemwegsinfektionen zu beschleunigen. In vielen Krankenakten ist als offizielle Todesursache »katarrh. Lungenentzündung« angegeben, die Medikamentengabe wurde hingegen in der Regel nicht vermerkt. Neben Lungenentzündung und Bronchitis tauchen auch Tuberkulose und Diphterie als angeblicher Sterbegrund auf.

Luminal / Luminaletten mit dem Wirkstoff Phenobarbital sind bis heute gängige Medikamente zur medizinischen Behandlung von Epilepsie. Der Pharmakonzern Bayer gab 1990 die Herstellungsrechte an den amerikanischen Konzern Desitin ab.

Fläschchen zur Aufbewahrung von Luminaltabletten.

ArEGL, Henning Bendler.

Meldepflicht

Ein zentrales Dokument der »Euthanasie« ist der streng vertrauliche Runderlass des Reichsministeriums des Innern vom 18. August 1939 mit dem Aktenzeichen IVb 3088/39 – 1709. Unter dem Vorwand der »Klärung wissenschaftlicher Fragen auf dem Gebiet der angeborenen Mißbildungen und der geistigen Unterentwicklung« wurden Ärzte, Hebammen, Entbindungsanstalten, geburtshilfliche Abteilungen und Kinderkrankenhäuser verpflichtet, mithilfe eines Meldebogens über Kinder mit Behinderungen Mitteilung an das zuständige Gesundheitsamt zu tätigen. Die Meldung leitete das sogenannte »Reichsausschussverfahren« ein.

Meldepflicht bestand für Kinder mit sogenannter Idiotie, »Mongolismus«, Mikrocephalie (Kleinwüchsigkeit des Hirnschädels), Hydrocephalus (Wasserkopf), Missbildungen, Lähmungen (einschließlich Littlescher Erkrankung). Hebammen bekamen »für ihre Mühewaltung« eine Entschädigung bzw. ein Kopfgeld in Höhe von 2 Reichsmark.

Zunächst galt der Runderlass nur für Kinder bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres. Ab 1941 wurde die Meldepflicht ausgeweitet auf Kinder und Jugendliche bis zur Vollendung des 15. Lebensjahres.

Im Oktober 1939 ermächtigte Adolf Hitler seinen Leiter der Reichskanzlei, Philipp Bouhler sowie seinen chirurgischen Leibarzt Karl Brandt, »Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.« Dieses Schreiben wurde auf den 1. September 1939 zurückdatiert. Es scheinlegitimierte die »Euthanasie« und war Grundlage für die Ausweitung der Meldepflicht auf erwachsene Patient*innen.

Ab 9. Oktober 1939 wurden nunmehr reichsweit Meldebögen an sämtliche Heil- und Pflegeanstalten, Nervenkliniken, Heilerziehungsstätten und Heime verschickt. Neben der Erfassung von persönlichen Daten und Informationen zum Gesundheitszustand, wurde mit diesen Bögen auch abgefragt, ob die Person regelmäßig Besuch erhielt, seit wann sie anstaltsbedürftig war, ob mit der Erkrankung Straftaten einhergegangen waren, ob ein Romno- oder jüdischer Hintergrund vorlag und ob bzw. welcher Art Beschäftigung nachgegangen wurde. Die ausgefüllten Meldebögen mussten an die »Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten« in die Tiergartenstraße 4 in Berlin geschickt werden, die für die Erfassung der Patient*innen zuständig war.

Die Meldepflicht war wesentliche Voraussetzung für die Planung und Durchführung der »Euthanasie«.

»Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden«

Um den Patient*innenmord bzw. die »Euthanasie« strukturiert umzusetzen, stellte Reichskanzler Adolf Hitler ein Gremium von Verwaltungsbeamten (Viktor Brack, Herbert Linden, Hans Hefelmann, Richard von Hegener) sowie Ärzten (Prof. Dr. Werner Catel, Prof. Dr. Hans Heinze, Dr. Hellmuth Unger und Dr. Ernst Wentzler) zusammen. Sie etablierten binnen weniger Wochen eine Tarnorganisation, den »Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden« (»Reichsausschuss«). Er nahm im Herbst 1939 seine Arbeit auf.

Der »Reichsausschuss« war mit der Erfassung und Begutachtung von Kindern und Jugendlichen beauftragt, die seiner Auffassung nach für die »Euthanasie« in Frage kamen. Hans Hefelmann und Richard von Hegener vom Hauptamt IIb der Kanzlei des Führers sowie Herbert Linden vom Reichsministerium des Innern standen dem »Reichsausschuss« vor und vertraten ihn. Hefelmann und Hegener (beide vom Amt IIb »Kraft durch Freude« bzw. »KdF«) traten hierbei nicht nach außen in Erscheinung. Tatsächlich blieb der »Reichsausschuss« eine Art Briefkastenfirma. Der Schriftverkehr verlief über das Schließfach Berlin W9, Postschließfach 101 in die Neue Reichskanzlei, wo das Amt IIb der »KdF« ansässig war.

Die ausgefüllten Meldebögen wurden über die Amtsärzte an den »Reichsausschuss« weitergeleitet. Von den bis 1945 etwa 100.000 eingegangenen Meldebögen wurden rund 80.000 aussortiert. Die übrigen rund 20.000 wurden von Verwaltungsbeamten des Amtes IIb der »KdF« an die medizinischen Hauptgutachter des »Reichsausschusses« weitergeleitet.

Hauptgutachter des »Reichsausschusses« waren bis Sommer 1945 Werner Catel, Hans Heinze und Ernst Wentzler. Dieses Dreiergespann entschied auf Basis ausgefüllter Meldebögen im sogenannten Umlaufverfahren über die Zwangseinweisungen in die reichsweit eingerichteten »Kinderfachabteilungen« sowie über Leben und Tod der sich dort befindenden Kinder und Jugendlichen.

Rechtliche Grundlage hierfür war der Runderlass vom 18. August 1939, der die Meldepflicht, Erfassung und Einweisung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen regelte.

Nicht alle in der »Kinder-Euthanasie« ermordeten Kinder und Jugendlichen durchliefen dieses Verfahren und waren sogenannte »Reichsausschusskinder«. Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen 1940 und 1945 rund 3.000 – 5.000 Kinder und Jugendliche durch Behandlungsermächtigungen des »Reichsausschusses« ermordet wurden.

»Kinder-Euthanasie«

Die Ermordung von Kindern und Jugendlichen unter dem Deckmantel des »Gnadentodes« ab 1939 war der Beginn der »Euthanasie«-Maßnahmen. Monate bevor erwachsene Psychiatrie- und Heiminsassen gemeldet und erfasst, selektiert und ermordet wurden, ordnete das Reichsministerium des Innern in seinem Erlass vom 18. August 1939 das sogenannte »Reichsausschussverfahren« an, das zunächst lediglich die Meldung und Zwangsunterbringung von unter Dreijährigen zum Zwecke der Selektion und Ermordung regelte. Die erste im Frühjahr 1940 hierfür eingerichtete »Kinderfachabteilung« befand sich in der Landesanstalt Görden in Brandenburg an der Havel. Mit der Ausweitung des Erlasses auf Jugendliche bis 16 Jahre kamen ab Herbst 1941 in einer zweiten Phase weitere Einrichtungen hinzu, so dass bis Kriegsende – wenn auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten – nachweislich 31 »Kinderfachabteilungen« existierten. Die »Kinderfachabteilung« Lüneburg ist eine von ihnen.

Der »Kinder-Euthanasie« fielen mindestens 5.000 Kinder und Jugendliche zum Opfer. Der Mord begann 1938 / 1939 und fand auch außerhalb der ab 1940 eingerichteten »Kinderfachabteilungen« statt. So gab es auch im Rahmen der »Aktion T4« und der »dezentralen Euthanasie« Morde an Kindern und Jugendlichen. Die jüngsten Opfer waren wenige Tage alt, die ältesten standen kurz vor ihrem 16. Geburtstag.

Nicht alle Einweisungen und Morde an den Kindern und Jugendlichen lassen sich mit dem sogenannten »Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden« in Verbindung bringen. Hierbei handelte es sich um ein Gutachtergremium bestehend aus den Medizinern Dr. Werner Catel, Prof. Dr. Hans Heinze und Dr. Ernst Wentzler. Sie hatten anhand der Melde-Unterlagen der Gesundheitsämter zu entscheiden, ob eine Anstalts- oder Heimunterbringung in eine »Kinderfachabteilung« und eine sogenannte »Behandlungsermächtigung« – quasi eine Berechtigung, medizinische Experimente durchzuführen und zu morden – zu befürworten waren. Die Unterlagen der Gesundheitsämter, auf die sich die Gutachter bezogen, stammten aus Meldungen von Hebammen, Frauen- und Kinderärzten, Fürsorger*innen, Lehrkräften etc. Unter die Meldepflicht fielen Kinder mit geistigen und körperlichen Behinderungen und Beeinträchtigungen (etwa Autismus-Spektrum, Syndrome / Trisomien), Epilepsie (»Anfälle«), Mikrocephalie (»zu kleines Gehirn«), Hydrocephalus (»Wasserkopf«) und nicht weiter spezifiziertes normenabweichendes Verhalten.

Oft wurde dieses Auswahlverfahren umgangen und es kam durch Eltern, Hebammen und Ärzte zu direkten Einweisungen. Auch mordeten die Ärzte oft, ohne die Behandlungsempfehlung des »Reichsausschusses« abzuwarten. Einziges Selektionskriterium war die Bildungs- und Entwicklungsfähigkeit eines Kindes bzw. Jugendlichen.

Ermordet wurden die Kinder mit überdosierten Medikamenten. Häufig wurden Barbiturate mit den Handelsnamen Luminal, Veronal, Trional bzw. Morphin eingesetzt. Sie wurden sowohl in Tablettenform (zerkleinert) dem Essen beigemengt als auch gespritzt, manchmal wurden sie auch kombiniert verabreicht. Die Überdosierung führte zu Atemlähmungen, Flachatmung, Kreislauf- und Nierenversagen. Durch die Medikamentengabe wurden in der Regel eine Lungenentzündung oder eine Bronchitis provoziert. Diese wurden dann als offizieller Sterbegrund angegeben. Ab 1943 kam es verstärkt auch zu Hungersterben.

Nach der Ermordung wurde den Kindern meistens das Gehirn entnommen. Die Hirnentnahme und untersuchung sollte der sogenannten »Erbforschung« dienen. Es galt festzustellen, was für die Behinderung ursächlich war. Zudem erhofften sich Ärzte in Universitätskliniken, die mit diesen Gehirn-Präparaten beliefert wurden, neurologische Erkenntnisse.

Etwa fünf Prozent der im Rahmen der »Euthanasie« ermordeten Kinder waren Geschwister. So kam es vor, dass die Geschwister Zeug*innen des Mordes an ihrer Schwester oder ihrem Bruder wurden.

Es gibt nur wenige Kinder und Jugendliche, die der »Euthanasie« entkamen. In Einzelfällen gelang es den Angehörigen, die Kinder mit Behinderungen sogar zu retten. Die als bildungs- und entwicklungsfähig beurteilten Kinder und Jugendlichen überlebten zwar, blieben jedoch oft selbst nach Kriegsende noch Jahrzehnte unfreiwillig in der Obhut von Psychiatrien und Heimen.