Kurt Heine

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Beschluss des Erbgesundheitsgerichtes Lüneburg vom 31. Juli 1934 über die Sterilisation von Kurt Heine.

Archiv der »Euthanasie«-Gedenkstätte Lüneburg.

Schreiben des Bodenamtes für Böhmen und Mähren vom 29. September 1943.

Archiv der »Euthanasie«-Gedenkstätte Lüneburg.

Kurt Heine

Kurt Heine wurde am 20. Oktober 1897 als Sohn des Revierförsters in Garlstorf im
Kreis Winsen/Luhe geboren. Er ging am 1. April 1917 zur Marine und wurde dort zum Techniker ausgebildet. 1922/23 wurde bei Kurt Heine wohl erstmals eine psychische Erkrankung festgestellt, eine sogenannte Psychopathie.

Kurt Heine ist kein typisches Opfer der »NS-Psychiatrie« und Zwangssterilisation. Er wurde Opfer der Kriegsfolgen des Ersten Weltkrieges und seiner eigenen ideologischen Überzeugung. In Zeiten ökonomischer und finanzpolitischer Krisen erlebte er immer wieder berufliche Misserfolge, die möglicherweise zu seiner Erkrankung beitrugen. Schwer erkrankt und ohne Selbstwertgefühl ließ er sich vermutlich freiwillig unfruchtbar operieren.

Ein Förderer gab ihm nach zehn Jahren NS-Psychiatrie im Jahr 1943 die Chance, ein neues Leben außerhalb der Psychiatrie zu beginnen. Es handelte sich um W. Otte aus Prag, der für Kurt Heine dort einen beruflichen Neuanfang ermöglichte. Er vermittelte ihm eine Anstellung im Bodenamt für Böhmen und Mähren, sodass Kurt Heine nach 15 Jahren Anstaltspsychiatrie eine Zukunftsperspektive erhielt. Er musste sich lediglich bewerben und bezüglich seiner Psychiatrieerfahrung bedeckt bleiben. Der weitere Verlauf seines Lebens ist unbekannt.

Beschluss des Erbgesundheitsgerichtes Lüneburg vom 31. Juli 1934 über die Sterilisation von Kurt Heine.

Archiv der »Euthanasie«-Gedenkstätte Lüneburg.

Schreiben des Bodenamtes für Böhmen und Mähren vom 29. September 1943.

Archiv der »Euthanasie«-Gedenkstätte Lüneburg.

Marie Wege und Wilhelm Saul

Wilhelm Saul sen. und seine Frau Wilhelmine betrieben einen kleinen Hof in Scharnebeck, Im Fuchsloch 13, mit einigen Schweinen und Kühen und einer Scheune mit Getreide, Stroh und Heu. Das Leben auf dem Hof war geprägt von harter Arbeit und der Zugehörigkeit zu einer selbstständigen evangelischen Kirche (SELK). Es war eine Gemeinschaft, die unter sich blieb. Das Ehepaar hatte fünf Kinder: Marie, Minna, Wilhelm jun., Anna und Emma. Weil es keine Angestellten gab, mussten die Kinder früh mit anpacken.

Die Töchter arbeiteten nach Beendigung der Schule auf verschiedenen Höfen als Haushaltshilfen und lernten dort meist ihre späteren Ehemänner kennen. Minna heiratete 1930 den Landwirt Johannes Schmidt aus Stelle. Die jüngste Tochter Emma heiratete den Stellmacher Wilhelm Schlichting aus Südergellersen. Anna heiratete 1938 Hermann Tiedge. Die älteste Tochter Marie heiratete 1931 den sechs Jahre jüngeren Brunnenbauer Hans Wege. Maries Vater Wilhelm sen. erwarb für Marie und ihren Mann eine kleine Hofstelle in Brietlingen, wo die Familie Wege fortan lebte und arbeitete.

Maries Ehemann Hans Wege brachte eine voreheliche Tochter mit in die Ehe, es folgten drei weitere gemeinsame Kinder: Hans-Heinrich, Marianne und Hildegard. Am 8. April 1938 stellte Hans Wege bei der Gemeinde Brietlingen einen Antrag auf einmalige Kinderbeihilfe. Von diesem Moment an gerieten die Familien Wege und Saul in den Fokus der nationalsozialistischen »Eugenik«. Obwohl Marie zwischen August und Dezember 1928 Patientin der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg gewesen war, bescheinigte das Gesundheitsamt, dass bezüglich des Antrags auf Gewährung einer einmaligen Kinderbeihilfe keine »schwerwiegenden gesundheitlichen Bedenken« bestehen.

Der Antrag auf Kinderbeihilfe blieb dennoch nicht folgenlos. Eine ein Jahr zuvor gestellte Sterilisationsanzeige über Wilhelm Saul jun. wurde nun zum Anlass, auch ihn ins Gesundheitsamt vorzuladen und zu überprüfen. Es wurde eine »Sippentafel« erstellt. Begleitet von seinem Vater, nahm Wilhelm jun. den Termin wahr. Trotz gegenläufiger Bemühungen wurde die Familie Saul in der Folgezeit als »erbkrank« eingestuft. Infolgedessen wurde Wilhelmine Saul das sogenannte »Ehrenkreuz der Deutschen Mutter« verwehrt und ein Erbgesundheitsgerichtsverfahren über die Unfruchtbarmachung von Wilhelm Saul jun. eingeleitet.

Fünf Jahre nach der Geburt ihrer jüngsten Tochter erkrankte Marie Wege erneut. Am 8. Februar 1943 wurde sie von einem Hausarzt aus Scharnebeck wegen »manisch-depressiven Irreseins« in die Lüneburger Anstalt eingewiesen. Sie war sehr unruhig, verweigerte das Essen. Ein Versuch, sie künstlich zu ernähren, misslang – sie kollabierte. Sie starb kaum zwei Wochen nach ihrer Einweisung am 19. Februar 1943. Als Todesursache wurde »Herzmuskelentzündung« angegeben. Obwohl Marie vor ihrem Tod nur wenige Tage Patientin der Lüneburger Anstalt gewesen war, bekam sie Besuch von ihren Eltern, ihrem Ehemann und anderen Verwandten. Der Klinik gelang es nicht, ihr Leben zu retten. Inwiefern sie ein Opfer mangelnder Versorgung ist, bleibt offen. Nach Maries Tod habe die Familie gesagt »Na, vielleicht ist da nachgeholfen worden«, berichtet Lisa Michaelis, die Nichte von Marie und Wilhelm Saul.

Weil Wilhelm jun. nicht in der Lage war, den elterlichen Hof zu übernehmen, wurde er 1946 an seine Schwester Anna überschrieben. Als Bruder erhielt er ein lebenslanges Wohnrecht, bekam freies Essen und Trinken sowie ein Taschengeld. Im Jahr 1958 bemühte sich Anna um eine Entschädigung und Wiedergutmachung für die erlittene Zwangssterilisation ihres Bruders. Sie erhielt dabei Unterstützung von einem Vetter. Sie reichten bei der Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg Klage ein. Die Klage wurde am 19. September 1959 abgewiesen.

Zur Begründung heißt es: »Gemäß §189 Abs. 1 BEG waren Entschädigungsanträge bis zum 1.4.1958 bei der zuständigen Entschädigungsbehörde zu erstellen. Durch den erst am 17.4.1958 eingegangenen formlosen Antrag ist diese Frist nicht gewahrt. […] Aber auch sachlich würde ein Entschädigungsanspruch nicht zu begründen sein. Wie sich aus den beigezogenen Erbgesundheitsakten des Staatlichen Gesundheitsamtes Lüneburg ergibt, erfolgte die Sterilisation des Antragstellers […] wegen ›Schwachsinns mit aufgepfropfter Schizophrenie‹. Der Eingriff verlief regelgerecht. Irgendwelche Anhaltspunkte dafür, daß diese Maßnahme – wie es §1 BEG [Bundesentschädigungsgesetz] voraussetzt, aus Gründen der Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus, der Rasse, des Glaubens, oder der Weltanschauung gegen den Antragsteller gerichtet wurde, sind weder aus den beigezogenen Akten noch aus dem Vortrag des Antragstellers zu ersehen. Da die […] vorgenommene Sterilisation aufgrund des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14.7.1933 […] angeordnet wurde, muß vielmehr angenommen werden, daß hierfür eugenische Gründe maßgebend gewesen sind. Der Antrag war daher zurückzuweisen.«

Wilhelms Schwester Anna legte Rechtsmittel gegen den Ablehnungsbescheid ein und klagte. Eine Woche vor dem Verhandlungstermin am 12. Februar 1960 zogen sie und ihr Vetter »im Einvernehmen« mit Wilhelm Saul jun. die Klage zurück. Die Gründe sind bis heute unbekannt. Wilhelm Saul jun. lebte bis zwei Jahre vor seinem Tod mit seiner Schwester Anna und ihrer Familie auf dem elterlichen Hof. Ab 1973 übernahm seine Nichte Lisa die Pflegschaft für ihn. Er starb 1976 im Niedersächsischen Landeskrankenhaus Lüneburg. Erst in seinen letzten Lebensjahren, als die Familie allmählich mit seiner Pflege überfordert war, wurde Wilhelm Psychiatriepatient. Nach seinem Tod ließ ihn die Familie nach Scharnebeck überführen, sodass er daheim seine letzte Ruhe fand.

Familienfoto der Familie Saul.
Vorne in der Mitte: Wilhelmine und Wilhelm Saul sen. Hinter ihnen steht Wilhelm jun. Minna sitzt links von der Mutter, rechts neben Wilhelm senior sitzt Marie. Hinter ihr steht die jüngste Schwester Emma. Links neben Wilhelm jun. steht Anna Saul.

Privatbesitz Anne Krause-Rick.

Wilhelm Saul jun.
liegt auf dem Heuwagen, davor stehen Marie und Emma, ca. 1927. Der elterliche Hof in Scharnebeck ist noch immer im Familienbesitz.

Privatbesitz Lisa Michaelis, geb. Tiedge.

Auf dem Hochzeitsfoto von Emma und Wilhelm Schlichting ist die Familie Saul wiederzufinden. Wilhelm jun. steht in der dritten Reihe, sechster von links, Marie steht in der zweiten Reihe und ist die dritte von rechts. Schräg hinter ihr mit Brille steht ihr Ehemann Hans Wege. Links neben ihr steht Minna. Hinter beiden Schwestern steht Anna.

Hochzeitsfoto Emma und Wilhelm Schlichting, Südergellersen, 6.10.1933.

Privatbesitz Anne Krause-Rick.

»[…] bei 2 Kindern der Antragstellerin sind Erbkrankheiten im Sinne des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses festgestellt, sodaß die Familie nicht als erbgesund angesehen werden kann.«

Amtsärztliche Bescheinigung
des Gesundheitsamtes Lüneburg vom 3.8.1939.

NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1719.

Porträt von Marie Wege, ca. 1930er Jahre.

Privatbesitz Anne Krause-Rick.

Am 4. April 1940 wurde das Urteil über die Sterilisation von Wilhelm Saul jun. rechtskräftig. Zwei Wochen später wurde Wilhelm Saul jun. im Städtischen Krankenhaus Lüneburg aufgenommen und am 18. April 1940 zwangssterilisiert.

Beschluss des Lüneburger Erbgesundheitsgerichts über die Unfruchtbarmachung von Wilhelm Saul vom 5.3.1940.

NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1719.

Klage gegen den Ablehnungsbescheid über den Antrag auf Entschädigungsrente vom 19.9.1959.

NLA Hannover Nds. 720 Lüneburg Acc. 139/90 Nr. 107.

Marie Wege und Wilhelm Saul

Wilhelm Saul und Marie sind Geschwister.
Sie haben noch drei weitere Geschwister.
Sie leben in Scharnebeck.
Sie haben einen Bauern-Hof.
Sie müssen hart arbeiten.

Die Schwestern heiraten.
Marie heiratet im Jahr 1931.
Sie heiratet Hans Wege.
Er baut Brunnen.
Der Vater von Marie kauft ihnen einen Bauern-Hof.
Der Bauern-Hof ist in Brietlingen.

Hans Wege hat schon eine Tochter.
Marie und Hans Wege bekommen drei gemeinsame Kinder.
Sie brauchen Geld für ihre Kinder.
Die Nazis sagen:
Nur gesunde Menschen sollen Kinder-Geld bekommen.
Marie und Hans haben Glück.
Sie bekommen Kinder-Geld.

Aber sie werden auch unter-sucht.
Genauso wie der Bruder von Marie – Wilhelm.
Der Arzt sagt:
Wilhelm ist schwach-sinnig.
Er muss un-fruchtbar gemacht werden.
Er darf keine Kinder bekommen.

Marie wird krank.
Sie isst nicht.
Sie schläft nicht.

Ihr Arzt entscheidet:
Marie muss in eine Anstalt.

In der Anstalt will sie nichts essen.
Sie will keine Hilfe.
Sie stirbt.
Das ist am 19. Februar 1943.
Ihr Bruder Wilhelm bleibt zu Hause wohnen.

Dann ist der Krieg aus.
Wilhelm sagt:
Ich bin ein Opfer der Nazis.
Sie haben mich gegen meinen Willen un-fruchtbar gemacht.
Dafür will ich jetzt Wieder-Gut-Machung.
Dafür will ich als Trost ein wenig Geld.

Aber das Gericht sagt:
Nein.
Die Operation war richtig.
Wilhelm soll niemals Kinder bekommen.
Wilhelm hat kein Recht auf Wieder-Gut-Machung.
Der Grund ist:
Sein Brief kommt 2 Wochen zu spät.
Die Zeit ist ab-gelaufen.

Wilhelm bekommt keine Wieder-Gut-Machung.
Das findet seine Familie falsch.
Sie beschweren sich.
Sie sagen:
Moment mal!
Die Nazis waren im Un-Recht.
Aber sie haben keinen Erfolg.

Wilhelm wird alt.
Das Zusammen-Leben ist immer schwieriger mit ihm.
Er kommt in die Anstalt.
Er stirbt im Jahr 1976.
Es ist eine Folge eines Unfalls.
Seine Familie holt seine Leiche nach Scharnebek.
Er wird dort begraben.

Das ist ein Foto von der Familie Saul.
Wilhelm steht hinten in der Mitte.
Marie sitzt rechts auf einem Stuhl.
Das Foto ist etwa von 1925.

Das ist ein Foto.
Es zeigt Wilhelm und Marie.
Wilhelm liegt auf dem Heu-Wagen.
Marie steht links.
Ihre Schwester Emma steht rechts.
Das Foto ist aus dem Jahr 1927.

Das ist ein Foto.
Es zeigt die ganze Familie.
Die Schwester Emma heiratet im Jahr 1933.
Es ist eine große Hoch-Zeit.
Auf dem Foto sind alle Gäste der Hoch-Zeit.
Auch Wilhelm und Marie.
Wilhelm steht in der dritten Reihe.
Marie steht in der zweiten Reihe.

Das ist ein Zeugnis.
Darin steht:
Die Familie Saul ist krank.
Sie dürfen keine Kinder bekommen.

Das ist ein Foto von Marie Wege.
Es ist aus den dreißiger Jahren.

Das ist ein Beschluss.
Ein Beschluss ist eine Entscheidung von einem Gericht.
Es hat entschieden:
Wilhelm ist un-fruchtbar zu machen.

Am 18. April 1940 wird Wilhelm operiert.
Gegen seinen Willen.

Das ist ein Brief an das Gericht.
Die Familie kämpft.
Dafür dass Wilhelm als Opfer der Nazis gesehen wird.

Emmi Nielson

Emmi Nielson wurde am 5. Dezember 1921 geboren. Sie war die Halbschwester von Karl und Georg Marienberg. Am 7. April 1938 brachte Emmi ihr erstes Kind zur Welt. Es starb. Drei Jahre später, am 12. Mai 1941 wurde ihr zweites Kind Peter Nielson geboren. Kurz nach der Entbindung stellte die Lüneburger Hilfsschule eine Anzeige für eine Sterilisation mit der Begründung, Emmi Nielson sei undiszipliniert, könne keine Berufsschule besuchen und sei mit ihrem Kind überfordert.

Am 11. November 1941 beschloss das Gericht, Emmi Nielson in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg zu beobachten. Von 24. Februar bis 4. März 1942 musste sie die gleiche Untersuchung über sich ergehen lassen wie ihre Cousine Thea Marienberg. Nachdem das psychiatrische Gutachten mit der Diagnose »angeborener Schwachsinn« vorlag, beschloss das Erbgesundheitsgericht Lüneburg am 14. April 1942 ihre Sterilisation. Geübt im Beschweren, legte Emmi Nielson am 6. Mai 1942 Einspruch ein. Dieser wurde jedoch mit Gerichtsbeschluss des Erbgesundheitsobergerichtes in Celle am 1. Juni 1942 zurückgewiesen. Weil Emmi Nielson im weiteren Verlauf untertauchte und nicht zu der angesetzten Operation erschien, wurde sie sodann polizeilich gesucht. Am 15. September 1942 wurde sie von der Polizei aufgegriffen und im Lüneburger Gerichtsgefängnis untergebracht. Wegen »Arbeitsvertragsbruch« wurde sie zu einer sechsmonatigen Haftstrafe verurteilt. Am 13. November 1942 trat sie die Haftstrafe im Frauenjugendgefängnis Vechta an, wohin sie von Lüneburg aus überwiesen worden war.

Am 15. März 1943, am Tag ihrer Haftentlassung, wurde Emmi Nielson direkt in das Friedrich-Ludwig-Hospital Oldenburg eingewiesen und dort gegen ihren Willen zwangssterilisiert. Wie ihr Halbbruder Georg Marienberg stellte auch Emmi 1951 einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens, um eine Entschädigung zu erhalten und ihr widerfahrenes Unrecht wiedergutzumachen. Mit Beschluss vom 25. Mai 1951 folgte das Lüneburger Amtsgericht der Argumentation des Beschlusses des Erbgesundheitsgerichtes und lehnte auch in ihrem Fall die Wiederaufnahme des Verfahrens ab.

Schreiben des Gesundheitsamtes Lüneburg an das Erbgesundheitsgericht Lüneburg vom 10.9.1942.

NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 2472.

Anna Stange

Anna Stange wurde am 29. Januar 1901 in Harmstorf im Kreis Rendsburg geboren. 1928 zog sie in den Raum Lüneburg. Sie arbeitete dort in mehreren landwirtschaftlichen Betrieben. Bereits 1920 hatte sie ihr erstes Kind bekommen, das kurz nach seiner Geburt an einer Erkältung starb. Es folgten vier weitere Kinder von unterschiedlichen Vätern. Für jedes wurde ihr das Sorgerecht entzogen, da sie in ärmlichen Verhältnissen lebte und man ihr die alleinige Sorge nicht zutraute. 1934 und 1935 erlitt Anna Stange zudem zwei Fehlgeburten.

1937 wendete sich das Blatt, denn sie lernte ihren späteren Verlobten kennen, von dem sie im Frühjahr 1938 erneut schwanger wurde. Dem Paar wurde die 1935 eingeführte «Ehetauglichkeitsprüfung» zum Verhängnis. Da Anna Stanges Kinder in Pflegefamilien bzw. beim Vater lebten und ihr zudem eine sogenannte »asoziale Lebensweise« unterstellt wurde, untersagte man ihr die Ehe. Hinzu kam, dass ihr Verlobter ein »kommunistischer Funktionär« gewesen sei, sodass beide offenbar auch aufgrund dessen diskriminiert wurden.

Da Anna Stange weder »minderintelligent« war noch eine andere erbliche Erkrankung vorwies und bei der gerichtlichen Anhörung am 30. Mai 1938 Festlegungen zu ihrer Person, ihrem sozialen Stand und ihrer Lebensweise nicht akzeptierte, ordnete das Erbgesundheitsgericht Lüneburg eine stationäre Beobachtung in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg an. Am 23. Juli 1938, im zweiten Monat schwanger, wurde sie unter Anwendung von Polizeigewalt für vier Wochen aufgenommen. Dort wurde ihre Intelligenz getestet und ihr Verhalten beobachtet. Trotz bestehender medizinischer Unauffälligkeit, wurde eine Sterilisation von Anna Stange befürwortet.

Am 8. November 1938 wurde sie im Städtischen Krankenhaus Lüneburg gegen ihren Willen sterilisiert. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wurde dabei auch ihre letzte Schwangerschaft kurz vor dem 6. Schwangerschaftsmonat gewaltsam abgebrochen.

Auszug aus der Abschrift des Intelligenzprüfungsbogens von Anna Stange im Ärztlichen Gutachten von Bernhard Winninghoff vom 22. August 1938: Seiten 20–23.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 2004/066 Nr. 09527.

Auszug aus der Abschrift des Intelligenzprüfungsbogens von Anna Stange im Ärztlichen Gutachten von Bernhard Winninghoff vom 22. August 1938: Seiten 20–23.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 2004/066 Nr. 09527.

Anna Stange

Anna Stange wird am 29. Januar 1901 geboren.
1928 zieht sie nach Lüneburg.
Sie arbeitet in der Land-Wirtschaft.
1920 bekommt sie ihr erstes Kind.
Das Kind stirbt kurz nach der Geburt.

Anna bekommt noch vier Kinder.
Alle Kinder haben einen anderen Vater.
Alle Kinder werden ihr weg-genommen.
Weil sie arm ist.
Anna hat auch noch zwei Fehl-Geburten.

1937 lernt Anna einen neuen Mann kennen.
Sie verlieben sich.
1938 ist Anna wieder schwanger.
Anna und ihr Verlobter stellen einen Antrag.
Sie wollen heiraten.
Dazu braucht man eine Erlaubnis.
Aber Anna bekommt die Erlaubnis nicht.
Die Richter am Erb-Gesundheits-Gericht sagen:
Anna ist keine gute Mutter.
Sie ist asozial.
Sie darf nicht heiraten.
Sie soll auch keine Kinder mehr bekommen.

Anna ist nicht einverstanden.
Sie legt Ein-Spruch ein.
Deshalb kommt sie in die Lüneburger Anstalt.
Dort soll sie weiter untersucht werden.
Die Polizei bringt Anna in die Anstalt.

Dort wird sie untersucht.
Der Arzt in der Anstalt sagt:
Anna kann Bücher lesen.
Sie kann sich gut unterhalten.
Sie kann in der Anstalt arbeiten.

Aber er sagt auch:
Anna ist trotzdem schwach-sinnig.
Sie ist asozial.
Auch ihre Familie ist asozial.
Darum soll Anna sterilisiert werden.

Am 8. November 1938 wird Anna im Lüneburger Kranken-Haus sterilisiert.
Gegen ihren Willen.
Da ist sie im 6. Monat schwanger.
Bei der Operation stirbt auch ihr Kind.
Anna hat eine Zwangs-Sterilisation.
Und sie hat eine Zwangs-Abtreibung.

Das ist ein Teil von Annas Patienten-Akte.
Ein Arzt aus der Anstalt stellt Anna viele Fragen.
Er will wissen:
Wie schlau ist Anna.
Manche Fragen kann Anna beantworten.
Manche Antworten weiß sie nicht.
Der Arzt schreibt dann einen Bericht.
Der Bericht ist vom 22. August 1938.

Anna ist nicht krank.
Sie verhält sich richtig.
Sie fällt in der Anstalt nicht auf.
Es gibt kein Problem in der Anstalt.
Trotzdem entscheidet der Arzt:
Anna muss operiert werden.
Sie darf keine weiteren Kinder bekommen.
Der Arzt findet:
Anna ist keine gute Mutter.
Anna ist asozial.

Heinrich Röhrup

Heinrich Friedrich Ludwig Röhrup wurde am 30. Januar 1914 in Wulfstorf im Landkreis Lüneburg geboren. Nach seiner Schulentlassung arbeitete er zunächst als Laufbursche, später als Helfer bei Gartenarbeiten, schließlich als Arbeiter im Kalkabbruch, inzwischen lebte die Familie in der Straße Auf dem Meere in Lüneburg.

Im Oktober 1936 wurde Heinrich Röhrup zum Wehrdienst einberufen und ging als Schütze zur Marine nach Kiel. Da er dort dem Unterricht wohl nicht immer folgen konnte und zweimal Befehle von Vorgesetzten ignorierte, bekam er eine 10-tägige Arreststrafe. Seine Vorgesetzten wiesen ihn zwecks Überprüfung einer »Geisteskrankheit« ins Marinelazarett ein. Dortige Ärzte stellten eine »Anstaltsbedürftigkeit« fest. Daraufhin wurde Heinrich am 6. August 1937 vom Marinelazarett Kiel-Wik in die Landes-Heilanstalt Neustadt (Holstein) überwiesen. Dort stellten die Ärzte den Antrag auf die Unfruchtbarmachung.

Bereits acht Wochen später wurde die Sterilisation des damals 23-Jährigen beschlossen. Weil Heinrichs Vater eine Verlegung von der Landes-Heilanstalt Neustadt in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg veranlasste, wurde Heinrich Röhrup am 21. Februar 1938 im Städtischen Krankenhaus Lüneburg sterilisiert. Am 1. März 1938 wurde er aus der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg entlassen.

Im Folgejahr folgten zwei weitere Anstaltsaufenthalte wegen »Tobsuchtsanfällen«. Neben der Diagnose »angeborener Schwachsinn« fügte der Psychiater Gustav Marx nun die Diagnose »Schizophrenie« hinzu, und ab dann verließ Heinrich Röhrup die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg nicht mehr. Nach der dritten Einweisung meldeten die Lüneburger Ärzte ihn in der Berliner Tiergartenstraße 4, wo die planmäßige Ermordung von Psychiatriepatienten organisiert wurde. So kam Heinrich Röhrup als »gemeingefährlich« eingestufter »Schizophrenie-Erkrankter« auf die Deportationsliste.

Am 7. März 1941 wurde Heinrich Röhrup im Rahmen der »Aktion T4« von Lüneburg in die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenschein »planwirtschaftlich verlegt« und dort direkt nach der Ankunft in einer Gaskammer ermordet.

Abschrift des Beschlusses des Erbgesundheitsgerichtes Lübeck über die Sterilisation von Heinrich Röhrup vom 29.12.1937.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 2004/066 Nr. 8376.