Kriegsgräberstätte

Die 1975 angelegte Kriegsgräberstätte auf dem Friedhof der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg umfasst heute 84 Gräber, davon 80 für Erwachsene und vier für Kinder. Unter den Erwachsenen waren 24 Frauen und 56 Männer im Alter von 17 bis 88 Jahren. Das Durchschnittsalter der Beerdigten betrug 30 Jahre bei den Frauen und 35 Jahre bei den Männern. Mit einer Ausnahme waren alle Toten Patient*innen der Heil- und Pflegeanstalt. Sie starben zwischen 1922 und 1950 und kamen aus Polen (29), Russland (20), Ukraine (10), Lettland (5), Rumänien (2), Serbien (2), Slowenien (2), Belgien (1), Griechenland (1), Italien (1), Niederlande (1), Spanien (1) und Ungarn (1). Die Herkunft von vier Toten ist unbekannt.

Bei den Toten handelt es sich um ausländische Zwangsarbeiter*innen, Kriegsflüchtlinge, »Umsiedler*innen« und solche, deren Staatsbürgerschaft nicht eindeutig geklärt ist. 21 der hier liegenden Toten starben an Hunger und Erschöpfung. In 34 der Gräber wurden Patient*innen bestattet, die an Tuberkulose gestorben waren. In zehn Gräbern ruhen Erkrankte, die aus der Heil- und Pflegeanstalt Oldenburg in Wehnen am 14. Dezember 1944 nach Lüneburg verlegt wurden. Sie wurden kaum untersucht, starben ebenfalls zumeist an Hunger und Erschöpfung. Zur Anlage gehören auch 19 Gräber von Menschen, die an »Altersschwäche«, Lungenentzündung, Mohnvergiftung und infolge von Dauerkrampf oder einer Operation starben.

Die Gräber von Kindern, die in der »Kinderfachabteilung« der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg Patient*innen waren, wurden ab Mitte der 1970erJahre aufgelöst. Nur die Gräber von Dieter Lorenz, Berend – Benni – Hiemstra, Rosa Reinhard und Abraham Kamphuis sind erhalten geblieben. Abweichend vom Kriegsgräbergesetz von 1952, durch das Gräber ausländischer Kinder nicht explizit geschützt wurden, hatte die Friedhofsverwaltung diese und zwei weitere Gräber 1954 bzw. 1957 auf die Kriegsgräberliste gesetzt.

Sieben Kindergräber wurden bei der Anlage der Kriegsgräberstätte 1975 nicht berücksichtigt:

Bernd Sabarosch (1944 – 1945, Holland)
Luba Gorbatschuk (1943 – 1944, unbekannt)
Ilja Matziuk (1944 – 1945, unbekannt)
Elisabeth van Molen (1943 – 1944, Holland)
Johann Peter Wolf (1932 – 1942, Holland)
Uossy bzw. Kossi (… – 1945, unbekannt)
Yvonne Mennen (1938 – 1944, Holland)

Die Gräber von Ilja Matziuk und Luba Gorbatschuk, zwei Mädchen von Zwangsarbeiterinnen, wurden 1975 überbettet, obwohl sie gemäß Ministerialerlass von 1966 geschützt waren. Elisabeth van Molens Grab ist zuletzt in der Kriegsgräberliste von 1958 erwähnt. Johann Peter Wolfs Grab wurde 1975 noch in die Planung der Kriegsgräberstätte einbezogen. Beide wurden nicht umgebettet.

Gedenkanlage

Anlässlich der Bestattung der sterblichen Überreste von Kindern und Jugendlichen, die in der »Kinderfachabteilung« Lüneburg 1941 und 1942 ermordet worden waren, wurde 2013 eine Gedenkanlage errichtet. Sie erinnert an die mit der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg in Verbindung stehenden NS-Opfer. Bereits seit 1983 erinnert ein Gedenkstein auf dem Friedhof an die Opfer der Lüneburger NS-Psychiatrie. Dieser wurde in die neu errichtete Gedenkanlage integriert.

Die Gedenkanlage besteht aus einem Backsteinband aus gelben und roten Steinen in Anlehnung an die Gebäude der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg, der heutigen Psychiatrischen Klinik. Es wurden 297 rote Steine verlegt, einer für jedes auf dem »Kindergräberfeld« bestattete Kind. Ein Block von 37 gelben Steinen wurde für die Kinder gesetzt, von denen bisher Organ-Abgaben nach Hamburg belegt sind. Die Gedenkanlage ist zugleich das Grab von zwölf Kindern, deren sterbliche Überreste im Rahmen der Einweihung am 25. August 2013 beigesetzt wurden. Für sie ragen zwölf historische Steine von 1901, dem Baujahr der Anstalt, heraus.

An die Gedenkanlage wurden Kirschbäume gepflanzt, die symbolisch für die verschiedenen Opfergruppen und für jedes individuelle Einzelschicksal stehen. Die Gedenkanlage ist allen diesen Opfern gewidmet: Frauen und Männern, die gegen ihren Willen unfruchtbar gemacht wurden oder die aus der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg in die Tötungsanstalten Pirna-Sonnenstein und Hadamar verlegt und dort vergast wurden, Kindern und Jugendlichen, die in der Lüneburger »Kinderfachabteilung« ermordet wurden, ausländischen Patient*innen, die aus Norddeutschland in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg konzentriert und von dort deportiert wurden, sowie allen Patient*innen, die in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg der »dezentralen Euthanasie« zum Opfer fielen und an Mangelernährung bzw. den Folgen von Verwahrlosung starben.

In den Jahren 2006 und 2012 wurden im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Gehirnschnitte von Kindern und Jugendlichen entdeckt, die in der Lüneburger »Kinderfachabteilung« ermordet wurden. Die Präparate wurden im Beisein der Angehörigen dicht an den ursprünglichen Gräbern der Kinder bestattet. Bei den zwölf Kindern handelt es sich um:

Marianne Begemann (1929 – 1941)
Rosemarie Bode (1935 – 1942)
Waldemar Borcholte (1931 – 1942)
Friedrich Daps (1933 – 1942)
Heinrich Herold (1934 – 1942)
Elsa Knust (1928 – 1942)
Herta Ley (1930 – 1942)
Hans-Herbert Niehoff (1933 – 1942)
Helmut Quast (1930 – 1942)
Heinz Schäfer (1937 – 1942)
Eckart Willumeit (1928 – 1942)
Werner Wolters (1938 – 1942)

Friedhof Nord-West

Der heutige Friedhof Nord-West wurde 1922 als Anstaltsfriedhof der 1901 gegründeten (Provinzial-) Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg für die Bestattung von Patient*innen sowie des Anstaltspersonals in Betrieb genommen. Zuvor wurden Patient*innen unter anderem auf dem Lüneburger Michaelisfriedhof beigesetzt. In der Nachkriegszeit blieb der Friedhof in Landesbesitz und wurde von der Anstaltsgärtnerei gepflegt.

Die letzten Patient*innen wurden 1982 bestattet. 1985 ging der Friedhof an die Stadt Lüneburg über. Er wird seitdem als städtischer Friedhof mit dem Namenszusatz »Nord-West« geführt. Seit 2008 finden hier auch Beisetzungen islamischer Glaubensangehöriger statt.

Auf dem Anstaltsfriedhof wurden auch Opfer der Lüneburger »Euthanasie«-Maßnahmen (1941 – 1945) sowie Opfer der Nachkriegspsychiatrie (1945 – 1951) bestattet. Hierzu gehören Kinder und Jugendliche, die in der »Kinderfachabteilung« Lüneburg ermordet wurden, Patient*innen der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg, die der »dezentralen Euthanasie« zum Opfer fielen, sowie an Erschöpfung, Hunger bzw. Mangelversorgung nach Kriegsende Verstorbene. Zu den erwachsenen Opfern der »dezentralen Euthanasie« gehörten insbesondere Patient*innen mit Behinderungen sowie mit ausländischer Herkunft (Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter*innen, Flüchtlinge und Umsiedler*innen). Außerdem wurden auf dem Anstaltsfriedhof auch Opfer des Luftkrieges beerdigt.

Die Kinder und Jugendlichen wurden auf einem »Kindergräberfeld« beigesetzt, die Patient*innen ausländischer Herkunft auf einem »Ausländergräberfeld«. Acht ermordete Kinder und Jugendliche wurden außerhalb des »Kindergräberfeldes« in einem Grab für erwachsene Patient*innen bestattet.

Nicht auf diesem Friedhof beigesetzt wurden Patient*innen aus der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg, die Opfer der »Aktion T4« wurden und 1941 in Tötungsanstalten ermordet wurden, sowie all jene Opfer, deren Angehörigen eine Überführung der Leichname veranlassten.

Bei den Beerdigungen trugen Pflegekräfte die Särge. In der Regel waren Geistliche, aber nur selten Angehörige anwesend. Die Toten wurden in Reihengräbern Kopf an Kopf beigesetzt. Die Gräber waren mit einfachen Holzkreuzen versehen, die nur die Namen und die Grabnummern trugen. Ende der 1940er Jahre wurden die Kreuze durch sogenannte Kissensteine ersetzt. Auf diesen rechteckigen, 40 x 30 cm kleinen Granitsteinen waren der Name und die Lebensdaten eingraviert.

Zwischen 1949 und 1957 wurden französische, niederländische und italienische Tote exhumiert und auf Kriegsgräberstätten überführt. Mit Ausnahme von 84 Gräbern wurden alle Gräber von Opfern der NS- und Nachkriegspsychiatrie sowie Gräber von Luftkriegsopfern nach einer Ruhezeit von 25 Jahren überbettet, obwohl sie unter die Kriegsgräbergesetze hätten fallen müssen. Die verbliebenen Gräber wurden 1975 zu einer Kriegsgräberstätte hergerichtet.

Seit 1983 erinnert ein Gedenkstein an die Opfer der Lüneburger NS-Psychiatrie. Im Zusammenhang mit der Beisetzung der sterblichen Überreste von zwölf Kindern, die in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg dem Patientenmord zum Opfer fielen, wurde der Stein 2013 versetzt und Element einer Gedenkanlage. Inzwischen wird auf Geschichts- und Erinnerungstafeln über die Grablagen informiert.

Ehrenhain

1967 wurde der ehemalige Ärztliche Direktor Dr. Rudolf Redepenning am Fuße der »Kindergräberfelder« beigesetzt. Das Grab ist durch ein Hochkreuz gekennzeichnet und erinnert aufgrund seiner zentralen Lage sowie einer Douglasien-Allee, die quer über den Friedhof zu seinem Grab mit Hochkreuz hinführt, an einen Ehrenhain.

Als das Grab errichtet wurde, waren sämtliche Gräber der Opfer der Lüneburger »Euthanasie«-Verbrechen noch vorhanden und nicht überbettet, das »Kindergräberfeld« und das »Ausländergräberfeld« in unmittelbarer Nähe noch voll belegt. Auch existierte noch keine Kriegsgräberstätte oder Gedenkanlage.

Der Ehrenhain mit Grab von Rudolf Redepenning war aufgrund seiner Dimension auf dem Friedhof dominant. Das ihm gewidmete Kreuz und die Allee stachen markant hervor. Das ist insofern bemerkenswert, als dass Rudolf Redepenning in Bezug auf die Lüneburger »Euthanasie«-Verbrechen nicht nur Zuschauer und Mitläufer, sondern auch Tatbeteiligter und Täter war. Während seiner Zuarbeit zur Aufarbeitung der Verbrechen im Zuge zweier Ermittlungsverfahren Ende der 1940er und in den 1960er Jahren konnte er seine eigene Verstrickung geheim halten.

Der Ehrenhain wurde wohl auch dadurch gerechtfertigt, dass er sich für eine Reform der Nachkriegspsychiatrie eingesetzt hatte und dafür das Bundesverdienstkreuz erhielt. Für die Angehörigen der Opfer der »Euthanasie«-Verbrechen ist es ein Hohn, dass sein Grab als Ehrenhain angelegt und gepflegt wurde, während die Gräber hunderter Ermordeter verschwanden.

Gräber außerhalb des Anstaltsfriedhofs

Es kam vor, dass Angehörige die Überstellung bzw. Rückführung der Leiche an den Heimatort veranlassten. Das ist der Grund, weshalb die Zahl der Kinder-Gräber auf dem »Kindergräberfeld« nicht identisch mit der Zahl der in der Anstalt gestorbenen Kinder ist.

Die Lüneburger Familien ließen ihre ermordeten Kinder ausnahmslos auf dem Lüneburger Zentralfriedhof bestatten. Bislang ist nur ein in der Anstalt gestorbenes Kind bekannt, das ebenfalls auf dem Zentralfriedhof Lüneburg beerdigt wurde, obwohl es kein Lüneburger Kind war: Christian Meins. Vermutlich wurde er auf dem Zentralfriedhof beerdigt, weil er offiziell als »Bombenbeschädigter« geführt wurde und für jene auf dem Zentralfriedhof ein Gräberfeld vorgesehen war.

Die Familien, die ihre Angehörigen nach Hause überführen ließen, gingen unterschiedlich mit ihrem Tod um. Es gab jene, die eine Trauerfeier ausrichteten, und solche, die nicht einmal eine Erwähnung im Gottesdienst wünschten. Es gab jene, die den Toten im Familiengrab beisetzen ließen, und solche, die genau das vermieden.

Im Fall der »Aktion T4« ließen sich nur verhältnismäßig wenige Familien die Urnen mit der vermeintlichen Asche überstellen. Die Urnen, gefüllt mit einer Misch-Asche der Opfer der »Aktion T4«, wurden dann in der Regel zu bereits bestehenden Gräbern hinzugebettet und gepflegt. Die Asche der übrigen Opfer der »Aktion T4« wurde – je nach Tötungsanstalt – als Dünger auf Feldern verstreut, in Erdhalden gekippt oder in fließendem Wasser entsorgt.

Da die Familien häufig nicht wussten, dass es sich bei ihrem Toten um ein Opfer der »Euthanasie« handelte, sind auch die wenigen bestehenden Gräber von »Euthanasie«-Opfern außerhalb von Anstaltsfriedhöfen nach Ablauf der Liegezeit meist aufgelöst worden.

Bis in die 1980er Jahre zu einem besonderen Stichtag hatten Familien die Möglichkeit, Gräber zu melden, die ab Anerkenntnis als Kriegsgräber öffentlich gepflegt werden konnten. Zu diesem Zeitpunkt gab es bei den Familien von »Euthanasie«-Opfern jedoch oftmals gar kein Wissen um das an ihren Verwandten verübte Verbrechen. Das führte dazu, dass viele Gräber, die sich außerhalb der Anstaltsfriedhöfe und in Familienpflegschaft befanden, nicht gemeldet wurden. Demgemäß wurden sie auch nie als Kriegsgräber erfasst, anerkannt und unter Schutz gestellt.

Bis heute gilt: Seit Ablauf des Stichtages ist eine Unterschutzstellung privat gepflegter Kriegsgräber nicht mehr möglich, auch wenn Forschungen inzwischen zweifelsfrei belegen können, dass es sich um Gräber von »Euthanasie«-Opfern handelt. Der Fortbestand dieser Gräber ist nicht gesichert, da sie nur existieren, solange die Familien bereit und in der Lage sind, die Gräber zu erhalten.

Psychiatrie nach 1945

Während sämtliche Bereiche des politischen Lebens, der Verwaltung und des Alltags nach Kriegsende Umbrüche erfuhren, änderte sich im Alltag der psychiatrischen Versorgung zunächst nur wenig. Die von den Beschäftigten praktizierte Entrechtung und Vernachlässigung von psychisch Erkrankten und Menschen mit Behinderungen wurden nach Kriegsende nahezu nahtlos fortgeführt. Hinsichtlich des Personals (Ärzt*innen und Pfleger*innen) sowie der Behandlungsmethoden und -bedingungen gab es in hohem Maße Kontinuitäten. Vielerorts kam es unvermindert zu Medikamentenerprobungen und -missbrauch. Auch Sterilisationen gegen den Willen Betroffener wurden weiterhin gutachterlich unterstützt und durchgesetzt. Nur das Morden endete spätestens im Laufe des Jahres 1946.

Die schlechte Versorgung, teils gar menschenunwürdige Behandlung besserte sich in den öffentlich und kirchlich getragenen Anstalten erst in den 1980er Jahren. Ein 1975 von der »Psychiatrie-Enquête-Kommission« (ein Gremium aus 200 Expert*innen aus allen Bereichen der Psychiatrie) veröffentlichter Bericht problematisierte diese desolate Situation der Patient*innen, den Mangel an ambulanten Angeboten und das Fehlen alternativer Therapieformen. Dieser Bericht führte zu grundlegenden Reformen, die sich bis heute in Umsetzung befinden. Waren bis dahin Psychiatrien oft noch immer nicht viel mehr als »Verwahranstalten«, hatten die Reformen vor allem ein gleichwertiges Nebeneinander von Ärzt*innen und Patient*innen zum Ziel, sowie die Behandlung und Wertschätzung des ganzen Menschen mittels individueller Psychotherapien und Rehabilitationsangeboten.

Während die Anstalten nach dem Zweiten Weltkrieg lange von Kontinuitäten der NS-Psychiatrie geprägt waren, gab es in der modernen Psychotherapie in den 1950er Jahren mit der Entdeckung von Psychopharmaka eine Zäsur. Die Arbeitstherapie wurde von der psychopharmakologischen bzw. biochemischen Therapie abgelöst – bis heute begleitet von wissenschaftlichen Debatten über ein für und wider.

Ein weiteres Novum nach dem zweiten Weltkrieg war die Festlegung von Kriterien für psychische Erkrankungen und ihre weltweite Standardisierung im 1948 von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebenen »International Code of Deseases« (ICD), der seither stets aktualisiert wird und inzwischen in der elften Auflage vorliegt (ICD-11). Der ICD orientiert sich am »Diagnostical Statistical Manual of Mental Deseases«. Auch diese allgemeingültigen Kataloge der psychischen Störungen steht in der Kritik, da die Kriterien für die Kategorisierung von Störungen kontinuierlich ausgeweitet werden und so die Gefahr besteht, dass der Kreis der pathologisch auffälligen Menschen immer größer wird.

Seit etwa der 1990er Jahre gibt es eine »Antipsychiatrische Bewegung«. Anhänger dieser Strömung stellen die moderne klinische Psychiatrie und ihre Diagnostik grundsätzlich infrage und folgen Diversity-Ansätzen.

Psychiatrie vor 1933

Die Errichtung von Psychiatrien bzw. (Kranken-)häusern für psychisch Erkrankte und Menschen mit Behinderungen ist eine vergleichsweise junge Entwicklung. Im deutschsprachigen Raum wurde zunächst nicht unterschieden zwischen körperlichen Behinderungen und seelischen Krankheiten – im Mittelalter wurde jede »Abnormität« religiös begründet. Eine Therapie der Erkrankten fand nicht statt – gleichwohl hatten sie eine feste Rolle innerhalb der Gemeinschaft: Indem man sie in der Familie pflegte, sie mit Nahrung oder Geld versorgte, also seine »Caritas« (christliche Nächstenliebe) zeigte, bewies man seine Gottgefälligkeit.

Erst seit der Frühen Neuzeit, etwa ab Mitte des 15. Jahrhunderts, wurden durch Erkenntnisse auf den Gebieten der Naturwissenschaften und der Medizin Verhaltensauffälligkeiten und körperliche Abnormitäten nicht mehr als gottgegeben angesehen, sondern organische Ursachen gesucht und Therapien entwickelt. Mit der Pathologisierung wurden die »Irren« aus der Gemeinschaft verdrängt. kamen in Armenhäusern oder Leprosorien unter, besonders Unruhige oder gar Straffällige, also »Tolle« sperrte man in Zuchthäuser oder »Dorenkisten« bzw. in »Narrenkäfige« (Holzkisten, die an den Stadttoren installiert waren, in Lüneburg gab es sie an drei Stellen).

Etwa im 17. und 18. Jahrhundert veränderte sich das Bild vom psychisch Erkrankten. Der Berliner Mediziner Georg Ernst Stahl (1659 – 1734) erforschte das »Unbewusste«, die Bedeutung der »Seele« und ihre Leiden, in denen er die Ursache sämtlicher Erkrankungen sah. Seine Ansätze begründeten bis zum Ende des 18. Jahrhunderts eine frühe Form der klinischen Psychiatrie. Ab 1810 gab es zur Behandlung der geistig Erkrankten erste »Irrenanstalten«. Diese Einrichtungen waren zunächst reine »Verwahranstalten«, in denen »Geisteskranke« »zur Vernunft« gebracht werden sollten, überwiegend mittels Zwang, Züchtigung, Fesselung, Auspeitschen und Schlägen, Schock- und Wassertherapien.

Parallel wurden bereits Stimmen laut, die die katastrophalen Zustände in den »Verwahranstalten« anprangerten. In Deutschland äußerte der philosophisch geprägte Mediziner Johann Christian Reil erstmals 1803 scharfe Kritik. Er setzte sich für eine individualisierte und respektvolle Behandlung ein, wodurch er ein Wegbereiter der reformerischen Psychiatrie wurde.

Etwa zeitgleich löste der Tod eines Patienten in einer Zwangsjacke in einer englischen Anstalt die »non-restraint-Bewegung« aus, ein Behandlungskonzept, das jede Zwangsmaßnahme ablehnte und rasch in weiten Teilen Europas umgesetzt wurde. Waren 1830 mehr als ein Drittel aller Patient*innen gefesselt, waren es 1837 nur noch weniger als zwei Prozent.

Es begann ein Umdenken, das humane und reformpsychiatrische Behandlungen nach sich zog, zum Beispiel die Etablierung sinnvoller Tages- und Freizeitgestaltungen der Patient*innen mit Arbeitstherapie und Unterhaltung. Dies beeinflusste auch die Anstalts-Architektur, sodass moderne, oft parkähnliche Anlagen entstanden, mit integrierten und angegliederten landwirtschaftlichen Betrieben und Werkstätten. Die am 29. Juni 1901 eröffnete Provinzial- Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg ist ein Beispiel diese Entwicklung.

Parallel zu dieser Philanthropie zu Beginn des 20. Jahrhunderts infiltrierten Eugenik und Rassenhygiene schon vor Ausbruch des 1. Weltkrieges Zweige der Psychiatrie. In den 1920er Jahren gewannen rassenhygienische Theorien mehr und mehr Einfluss. Einschlägig war die Publikation »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens« des Freiburger Arztes Alfred Erich Hoche und des Leipziger Strafrechtsprofessors Karl Binding. Sie plädierten für die Tötung unheilbar Erkrankter und sogenannter »Ballastexistenzen«. Ein Großteil der Ärzteschaft lehnte diesen Vorstoß zu Beginn der 1920er Jahre noch entschieden ab. Rechtswissenschaftler äußerten sich zurückhaltend.

Am Vorabend des Nationalsozialismus waren rassenhygienische Einflüsse in der psychiatrischen Forschung und Lehre jedoch etabliert. Erblehre, Volksgesundheit, Reinheit der Rasse, Aufartung und die »Auslese« sogenannter »Erbkranker« galten in der Psychiatrie bereits vor Machtübernahme der Nationalsozialisten als modern und fortschrittlich. Eugenik und Rassenhygiene galten als zeitgemäß, die Psychiatrie setzte sich an die Spitze der Bewegung und rückte hierdurch vom medizinwissenschaftlichen »Rand« ins Zentrum medizinischer Forschung.

Rudolf Hagedorn

Rudolf Hagedorn (Rudi) wurde am 2. September 1929 in Pommern geboren und kam mit seinen jüngeren Geschwistern Kurt und Ingrid sowie seiner Mutter infolge ihrer Flucht nach Soltau. Gemeinsam wurden sie in einem rund 10 m² großen Zimmer bei einer Familie Schenk untergebracht. Rudis Vater wurde bereits mit Kriegsausbruch als Soldat eingezogen. Nachdem der Vater weg war, übernahm Rudi eine wichtige und verantwortungsvolle Rolle als ältester Sohn. Die Arbeitsbedingungen der Mutter erforderten von ihm zudem die Übernahme häuslicher Aufgaben sowie die Versorgung und Betreuung seiner jüngeren Geschwister Kurt und Ingrid. Er pflegte einen liebevollen und fürsorglichen Umgang mit ihnen.

Der Hausherr in Soltau war grob zu den Geflüchteten. Die Kinder durften nicht auf dem Hof spielen. Äpfel, die auf dem Boden lagen, durften sie nicht essen. Um in ihr Zimmer zu gelangen, mussten die drei Kinder und die Mutter ein Zimmer des Hausherrn passieren, in dem er Korn lagerte und in dem es vor Mäusen wimmelte. Die Initiative, Rudi wegen hin und wieder auftretender epileptischer Anfälle als »anstaltsbedürftiges Kind« bei der Polizei zu melden, ging mutmaßlich von ihm aus. Die Meldung führte zur amtsärztlichen Begutachtung und schließlich zur Zwangseinweisung.

Am 2. März 1945 wurde Rudi gegen den Willen seiner Mutter von der Schutzpolizei von zu Hause abgeholt und in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg eingewiesen, obwohl er medikamentös eingestellt war und rechtzeitig Bescheid gab, wenn sich ein Anfall anbahnte.

Im Zuge der letzten Kriegswirren und der Kapitulation war es Rudis Mutter Margarete Hagedorn nicht möglich, ihren Sohn während seines Aufenthalts zu besuchen, sie erhielt keine Fahrerlaubnis. Rudis Versuche, während der erzwungenen, schweren Feldarbeit wegzulaufen, scheiterten. Den Aufzeichnungen der Anstalt ist ein zunehmender Gewichtsverlust zu entnehmen. Vermutlich infolge einer Mangelernährung entstanden starke Wassereinlagerungen. Epileptische Anfälle oder andere psychiatrisch zu behandelnde Auffälligkeiten hingegen blieben aus. Daher kam der Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Dr. Max Bräuner nur sechs Tage vor Rudis Tod zu der Einschätzung: »Wenn er erst wieder hergestellt ist, könnte m.E. dem Gedanken seiner Entlassung nähergetreten werden.«

Weitere sechs Tage nach seinem Hungertod am 27. Juni 1945 erkundigte sich Rudis Mutter besorgt nach seinem Gesundheitszustand. Niemand hatte sie über seinen Tod informiert. Weder sie, noch seine Geschwister konnten an Rudis Beerdigung teilnehmen und sich angemessen verabschieden. Margarete berichtete Rudis kleiner Schwester Ingrid später über ihren einzigen Besuch in der Heil- und Pflegeanstalt, dass man ihr die dreckige Kleidung ihres Sohnes übergeben und ihr mitgeteilt habe, sie könne ihren Sohn auf dem Friedhof besuchen.

Martha Ossmer

Martha Ossmer wurde am 22. Mai 1924 in Bremen geboren. Marthas Vater Christian war Arbeiter in einer Holzfabrik. Marthas Mutter Bertha war Hausfrau. Später bekam Martha noch zwei jüngere Schwestern, Elfriede und Käthe. Marthas Geburt war sehr schwer, es traten Komplikationen auf und sie musste mit der Geburtszange geholt werden. Weil der Schädelknochen durch die Zange deformiert worden war, drückte der Arzt den Schädel gewaltsam wieder zurück. Hierbei wurde wahrscheinlich Marthas Gehirn stark beschädigt. Die Folge war, dass Martha eine geistige Behinderung hatte. Sie konnte nicht sprechen, lernte erst spät laufen, konnte keine Treppen steigen. Bei vielen alltäglichen Dingen, wie beim Essen und dem Toilettengang, brauchte Martha Hilfe. Diese bekam sie auch von ihren Schwestern.

Ärzte rieten den Eltern immer wieder, Martha in ein Heim zu geben. Aber die Eltern wollten das nicht. Die Familie half sich gegenseitig, z. B. bei der Betreuung der Kinder und feierte gemeinsam Feste, wie Weihnachten. Martha war immer mit dabei. Sie ging nie auf eine Hilfsschule, sondern wurde immer von der Familie betreut.

Manchmal war Bertha mit der Pflege ihrer Tochter stark überlastet, hin und wieder schämte sie sich wohl auch für Marthas Behinderung. Dennoch blieb Martha bis ins 21. Lebensjahr auch durch die Unterstützung der Schwestern zu Hause. Erst durch die Bombardierungen durch die Alliierten entstand für die Familie eine Überforderung. Am 18. Juli 1944 wurde Martha in eine Nervenklinik in Bremen eingewiesen. Da dort kein Bett mehr frei war, wurde Martha am 23. Juli 1944 in die Lüneburger Heil- und Pflegeanstalt gebracht.

Der Vater besuchte Martha mindestens zweimal. Er brachte ihr einen Kuchen mit, den sie ganz schnell aufgegessen haben soll. Die Familie hatte da schon das Gefühl, dass Martha zu wenig zu essen bekam. Sie bekam über viele Monate hinweg zu wenig Nahrung. Am 18. April 1945, am Tag der Befreiung Lüneburgs durch die britischen Soldaten, starb Martha in der Anstalt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wurde sie durch Medikamente getötet. Die offizielle Todesursache lautete: »Grundleiden: Idiotie. Nachfolgendes Leiden: Erschöpfung.«

Martha Ossmer im Alter von vier Jahren auf dem Schoß ihres Vaters Christian, 1928.

Privatbesitz Elfriede Thölken, geb. Ossmer.

Käthe und Elfriede Ossmer, Weihnachten 1933.

Privatbesitz Elfriede Thölken, geb. Ossmer.

Martha Ossmers Grab, August 1945.

Privatbesitz Elfriede Thölken, geb. Ossmer.

Heinz Knorr

Heinz Knorr, geboren am 4. März 1932 in Artlenburg, war Sohn des Landwirts Heinrich Knorr und dessen Frau Frieda, geborene Rühmann. Sie heirateten am 22. April 1927. Wegen seiner geistigen Behinderung und eingeschränkten Sprache war es Heinz nicht möglich, die Dorfschule in Artlenburg zu besuchen. Der Hof war sein Lebensraum.

Um die Bewohner Artlenburgs vor Kriegshandlungen zu schützen, wurden am 21. April 1945 alle Bauernhöfe evakuiert. Die Familie Knorr wurde weitere vier Monate lang zunächst in einer Scheune, dann in einem Pferdestall in Vrestorf bei Bardowick untergebracht. Die heftigen Bombardements am Tag vor der Evakuierung überforderten Heinz, sodass er am Abend des 20. April 1945 weglief. Seine Mutter habe ihn tagelang gesucht, eine Vermisstenanzeige aufgegeben und in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg nach ihm gefragt.

Heinz Knorr wurde zwei Tage nach seinem Verschwinden von Polizeibeamten aufgegriffen und direkt in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg gebracht. Dort wurde er trotz seines jungen Alters von erst 13 Jahren von Arzt Gustav Marx in Haus 21 aufgenommen, einer Erwachsenenstation für Männer. Seine Identität blieb unbekannt, da er bis auf seinen Vornamen nur undeutliche Äußerungen von sich geben konnte. Die Ärzte und Pflegekräfte gingen davon aus, dass Heinz ein orientierungsloser Geflüchteter war.

Bis zum 8. Oktober 1945 hatte sich Heinz‘ Zustand so stark verschlechtert, dass er auf eine Pflegeintensivstation verlegt werden musste. Er war abgemagert und schwach. Zwei Tage später erlitt er Krampfanfälle. Seiner Krankenakte sind keine Maßnahmen zur Verbesserung oder gar Stabilisierung seines Gesundheitszustands zu entnehmen.

Heinz Knorr starb am 2. November 1945 in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg im Alter von 13 ½ Jahren. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhungerte er. Als Todesursache notierte der Arzt Rudolf Redepenning eine »abnorme organische Epilepsie«.

Am 6. November 1945 wurde Heinz anonym und ohne Beisein seiner Eltern auf dem Anstaltsfriedhof beerdigt, da sich der Arzt Rudolf Redepenning erst nach seinem Tod darum bemühte, Heinz‘ Identität zu klären. Ziel war es, Angehörige zu finden, die die entstandenen Pflegekosten bezahlen sollten. Zunächst wurde daher die Kriminalpolizei beauftragt, die Identität festzustellen. Dann wurden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Klinik befragt, ob jemand den jungen Mann kennen würde. Tatsächlich gab es einen Gärtnerlehrling, der Heinz wiedererkannte.

Die Kripo Lüneburg besuchte daraufhin Heinz‘ Eltern und zeigte ihnen ein Foto der Leiche. Sie erkannten Heinz und erhielten wenige Tage später die Rechnung für den Aufenthalt in der Heil- und Pflegeanstalt. Man versäumte dabei, den Eltern die genauen Umstände seines Todes und den Ort mitzuteilen, an dem er begraben worden war. Heinz‘ Schwester Thea gab sich damit nicht zufrieden. Bis zu ihrem Tod im Jahr 2015 versuchte sie herauszufinden, was wirklich mit Heinz geschehen war und wo sein Grab liegt, jedoch ohne Erfolg. Eine Lokalisierung des überbetteten Grabes gelang erst ein Jahr später. Im Gedenken an Heinz Knorr wurde am 4. September 2016 im Beisein der Angehörigen eine Geschichts- und Erinnerungstafel enthüllt.

Der Rühmannsche Hof im Stremel 7, wo Heinz aufwuchs, existiert noch. Heinz‘ Schwester Thea verkaufte ihn im Jahr 1978, seitdem wird er vermietet.

Heinz Knorr, ca. 1943.

Privatbesitz Anneliese Twesten.