Zwangsarbeit und Psychiatrie

Viele Zwangsarbeiter*innen erkrankten psychisch infolge von schwerer körperlicher Arbeit, Mangelernährung, desolater Unterbringung sowie Gewalterfahrungen. Sofern eine psychische Erkrankung diagnostiziert wurde – etwa durch eine*n Lagerarzt/-ärztin oder durch die*den Amtsarzt/-ärztin, konnten die Patient*innen fachmedizinisch behandelt und in die Psychiatrie eingewiesen werden.

Mit dem rasanten Anstieg der Zahl der Zwangsarbeiter*innen aus West- und Osteuropa 1943 stieg auch die Anzahl der Patient*innen, die eine psychiatrische medizinische Versorgung benötigten.
Um die Zwangsarbeiter*innen von den regulären Anstaltspatient*innen zu separieren, wurden entsprechende Stationen bzw. »Ostarbeiter«-Abteilungen eingerichtet. Diese Separierung hatte mehrere Gründe. Zum einen sollten Infektionsketten unterbrochen werden, da Zwangsarbeiter*innen infolge katastrophaler hygienischer Bedingungen in ihren Unterkünften neben ihrer psychiatrischen Diagnose vermehrt an ansteckenden Erkrankungen litten, etwa Tuberkulose. Zum anderen ermöglichte die Separierung eine strukturell angelegte Mangelversorgung und -ausstattung. Außerdem sollten deutsche Patient*innen vor den Zwangsarbeiter*innen »geschützt« bleiben, somit diente die Separierung auch der Isolierung der als kulturell und rassisch »minderwertig« geltenden osteuropäischen Patient*innen.

1944 entschied das Reichministerium des Innern sogenannte »Ausländersammelstellen« in elf Heil- und Pflegeanstalten auf dem Gebiet des Deutschen Reiches einzurichten. Im September 1944 wurde die Anordnung umgesetzt. Viele Psychiatriepatient*innen ausländischer Herkunft, die in diesen Sammelstellen konzentriert wurden, wurden Opfer der »Euthanasie«.

Wladimir Batutow

Wladimir Batutow wurde am 18. März 1925 in Markejowka in der Ukraine geboren. Bevor er ins Deutsche Reich verschleppt wurde, lebte er in der Großstadt Nikopol im Süden der Ukraine. In Deutschland musste er in Rysum im Kreis Norden für die Niederemsische Deichacht Zwangsarbeit im Wasserbau leisten, davor war er sechs Monate bei einem Bauern eingesetzt. Mit Hilfe eines Dolmetschers erfuhr der Leiter der »Ausländersammelstelle« Dr. Rudolf Redepenning bei der Aufnahme von Wladimir Batutow in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg am 22. Dezember 1944, dass er vorher in das Krankenhaus nach Aurich gekommen war, weil er sich beim Hacken schwer verletzt hatte. Narben an Daumen, Handwurzel und in der Ellenbeuge bestätigten diese Verletzungen.

Weshalb er nach Lüneburg gekommen sei, konnte Wladimir nicht mehr erinnern und er klagte über Kopfschmerzen. Im Krankenhaus in Aurich habe er sein Krankenzimmer zerstört und sei sehr erregt gewesen, geht aus dem Gutachten des Staatlichen Gesundheitsamtes hervor, das ihm am 19. Dezember 1944 attestierte, dass er sofort in die nächstmögliche geschlossene Anstalt zu kommen habe.

In Lüneburg angekommen, gab sich Wladimir Batutow keinesfalls erregt oder gewalttätig, sondern zeigte sich – so notiert es Redepenning –gesprächsfreudig, gab auf Fragen »langatmige Antworten«, die der Dolmetscher wohl nur kurz wiedergab. Auch wollte Wladimir Batutow gerne in den Werkstätten der Anstalt arbeiten. Er sei »ruhig und fügsam«.

Am 10. Januar 1945 notierte Redepenning, dass Wladimir Batutow nichts leiste, zu schwach sei. Am 7. Februar notierte er »Befundbericht nicht einsatzfähig«, am 17. März »abnorme Reaktion. – Nässt und schmutzt ein. Hinfällig.«, am 22. März 1945 »gestorben«.

Innerhalb nur weniger Wochen hatte der erst 20-jährige Wladimir Batutow, der laut Krankenakte bei seiner Aufnahme in Lüneburg einen stabilen und sortierten Eindruck machte, körperlich derart abgebaut, dass er vollkommen geschwächt starb. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist er in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg verhungert.

Zizlaw Rudzki

Zizlaw Rudzki wurde am 20. Mai 1923 in Tschenstochau (Częstochowa) im Süden Polens geboren. Polen war ab September 1939 durch die Deutschen besetzt. Um den kriegsbedingten Arbeitskräftemangel im Deutschen Reich zu kompensieren, wurden die Menschen im besetzten Gebiet aufgefordert, sich zum Arbeitsdienst zu melden. »Auf Anordnung der Polizei« meldete sich auch Zizlaw Rudzki am 30. Juli 1940 zum Arbeitsdienst ins Deutsche Reich. Da war er erst 17 Jahre alt und es ist davon auszugehen, dass diese Meldung unfreiwillig erfolgte.

Zizlaw Rudzki arbeitete rund drei Jahre als Zwangsarbeiter, zum Schluss in einem Motorenwerk in Varel. Er habe »zur vollsten Zufriedenheit gearbeitet, bis er vor etwa 3 Monaten nach und nach in der Arbeit nachließ, ein bedrücktes Wesen zur Schau trug und ganz allgemein – in auffallend affectiver Weise – stereotyp angab, nicht mehr arbeiten zu können.«, begründete der praktische Arzt Dr. Behrens aus Varel seine Verdachtsdiagnose »Schizophrenie« und stützte sich hierbei offenbar auf die Angaben des Vorgesetzten des Motorenwerkes. Der vor der Aufnahme in die Heil- und Pflegeanstalt Oldenburg in Wehnen hinzugezogene Nervenarzt kam zu dem gleichen Ergebnis. Selbstäußerungen von Rudzki flossen in die ärztlichen Gutachten nicht ein. Auch der Oberarzt in Wehnen, ein Dr. Moor, hielt in seinem Bericht fest: »Nach der eingehenden körperlichen Untersuchung und psychischen Beobachtung handelt es sich bei R.[udzki] um ein Erscheinungsbild, das mit Verstimmungen, Depressionszuständen, Apathie und völliger Abgeschlossenheit von seiner Umwelt einhergeht. Exogene Momente, die die Ursache dieser psychischen Veränderungen sein könnten, sind allem Anschein nach auszuschließen […]«. Der Oberarzt stützte sich ausschließlich auf die Angaben der Kollegen, die sich ihrerseits wiederum auf die Angaben des Vorgesetzten im Motorenwerk Varel stützten.

Am 3. September 1943 kam Zizlaw Rudzki in der Heil- und Pflegeanstalt Oldenburg in Wehnen an. Dort blieb er »verschlossen, stierte völlig verstört auf dem Wachsaal herum, [gab] auch auf eindringliches Fragen keine Antwort.«. Zizlaw Rudzkis körperlicher Zustand verschlechterte sich zudem derart, dass eine später in Erwägung gezogene Elektroschockbehandlung nicht möglich war. Zizlaw Rudzkis Krankengeschichte ist typisch für Patient*innen, die in die »Ausländersammelstelle« eingeliefert wurden: Er kam am 14. Dezember 1944 in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg an und wurde wie viele andere erst am 3. Januar 1945 von dem Leiter Dr. Redepenning begutachtet. Der einzige Eintrag war: »Stuporös wie oben geschildert. nicht arbeitsfähig.« Zwei Wochen später notierte Redepenning: »Nässt ein. Stuporös. Elend & abgemagert. [Unterstreichung im Original]«. Am 7. Februar folgte der Eintrag: »Unverändert: nicht arb.[eits]eins.[atz]fähig. Bef. [und]-Bericht.« Am 25. März folgte: »An Erschöpfung gestorben [Unterstreichung im Original]. Mutter kann nicht in Tschenstochau benachrichtigt werden.« Zizlaw Rudzki wurde nur 21 Jahre alt.

Irmgard Ruschenbusch

Irmgard Ruschenbusch wurde am 5. März 1896 in Hermannsburg im Landkreis Celle geboren. Ihre Eltern waren Bertha Ruschenbusch, geborene Harms, und der Landarzt Dr. Ernst Friedrich Ruschenbusch. Die Familie der Mutter war fest verankert in Hermannsburg und freikirchlich orientiert, es gingen Missionare und Pastoren aus ihr hervor.

Irmgard war das erste Kind des Ehepaares. Es folgte noch die Schwester Elsa. Die beiden Mädchen hatten eine sorglose, ungetrübte Kindheit. Sie endete, als der Vater im Januar 1911 im Alter von 45 Jahren an einer Hals-Krebserkrankung starb.

Irmgard schloss die Schule nach dem Volksschulabschluss ab und ging nach Hamburg. Im sogenannten »Froebel-Seminar« begann sie eine Ausbildung als Erzieherin. Wegen Anzeichen eines »jugendlichen Irreseins« musste sie ihre Ausbildung jedoch abbrechen und zu ihrer Mutter zurückkehren. Im Herbst 1918 ging es ihr dort schlechter, sodass sie erstmals in die Lüneburger Heil- und Pflegeanstalt aufgenommen wurde. Ein halbes Jahr später wurde sie wieder »gebessert« nach Hause entlassen. Fünf Jahre später erkrankte Irmgard erneut und wurde ein zweites Mal Patientin in der Anstalt. Diesmal wurde die Diagnose »Schizophrenie« gestellt und sie blieb Anstaltspatientin.

Irmgard soll in den ersten Jahren regelmäßig Besuch von ihrer Mutter und ihrer Schwester Elsa bekommen haben. Elsa, die ab 1926 zu ihrem Ehemann gezogen war, habe hierfür sogar den Weg aus Hannover auf sich genommen. Auch mit Briefen und Paketen hielten Mutter und Schwester Kontakt.
Die Besuche endeten jedoch 1940, als Elsa nach Potsdam zog.

Irmgard wurde am 30. April 1941 in die Zwischenanstalt Herborn verlegt. Von dort wurde sie am 16. Juni 1941 in die Tötungsanstalt Hadamar gebracht und ermordet. Ihre Mutter erfuhr von der »planwirtschaftlichen Verlegung« erst Mitte Juni 1941. Da Bertha nicht wusste, dass ihre Tochter zu diesem Zeitpunkt bereits getötet worden war, schickte sie ihr ein Paket nach Hadamar. Auf dieses Paket folgte keine Reaktion.

Wenige Wochen später erhielt Irmgards Mutter stattdessen einen »Trostbrief«. Mit der Vermutung, dass ihre Tochter ermordet worden war, zerriss sie ihn. Danach organisierte sie eine kirchliche Trauerfeier, damit die Familie sich in Würde von ihr verabschieden konnte.

Am 3. November 2011 wurde im Beisein von Familienangehörigen ein Stolperstein für Irmgard Ruschenbusch verlegt. Zweimal im Jahr fährt ein Nachfahre nach Hermannsburg, putzt den Stein und stellt eine Grabkerze auf. »Da müssen die Menschen dann drüber steigen«, erzählt Michael Schade mit einem Schmunzeln.

Irmgard Ruschenbusch und Elsa ca. 1901.

Quelle?

Das Foto zeigt die Familie Ruschenbusch, Irmgard und ihre Schwester Elsa (sitzend) als Kinder, daneben die Eltern Ernst und Bertha, ca. 1902.

Privatbesitz Michael Schade.

Dieses Bild zeigt Irmgard Ruschenbusch
vor ihrer Erkrankung, ca. 1917.

Privatbesitz Michael Schade.

Seit 3. November 2011 erinnert in Hermannsburg im Kreis Celle ein Stolperstein an die Ermordung
von Irmgard Ruschenbusch.

Frieda Pogoda

Frieda Pogoda, geborene Kempin, wurde am 24. August 1883 in Stade geboren. Ein halbes Jahr nach Friedas Geburt eröffnete Friedas Vater am 28. Februar 1884 in der Flutstraße in Stade eine Glaserei, die in den folgenden Jahrzehnten von Friedas Brüdern bzw. ihren Neffen weitergeführt wurde.

Frieda heiratete am 2. April 1907 den Schneidermeister Eugen Pogoda und das Ehepaar lebte ebenfalls in der Flutstraße. Gemeinsam hatten sie vier Kinder. Da die einzige Tochter im Alter von nur vier Monaten starb, zog das Ehepaar Pogoda drei Jungen groß.

Frieda wurde am 31. Juli 1918 im Alter von 34 Jahren das erste Mal in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg aufgenommen. Bei ihrer ersten Aufnahme waren ihre drei Kinder elf und fünf
Jahre sowie zehn Monate alt. Während des Aufenthaltes in Lüneburg schien sie sich schnell wieder zu beruhigen und konnte fünf Monate später wieder »gebessert entlassen« werden.

Vier Monate später wurde Frieda ein zweites Mal aufgenommen. Diesmal blieb sie zehn Monate lang Patientin. Bemerkenswert ist, dass Frieda sich nach ihrer zweiten Entlassung stabilisierte und 14 aufeinanderfolgende Jahre gesund blieb. 1927 erkrankte ihr Ehemann Eugen so schwer an
»progressiver Paralyse«, sodass auch er in die Lüneburger Heil- und Pflegeanstalt aufgenommen werden musste. Er starb ein Jahr später am 6. Juni 1928.

Friedas dritte und letzte Aufnahme erfolgte am 10. Februar 1934. Ihre Familie hatte sie zunächst in das Krankenhaus Stade eingewiesen. Nachts stieg sie aus dem Fenster und wandelte auf dem Friedhof umher. Frieda blieb acht Tage im Krankenhaus Stade und wurde von dort in Begleitung einer Krankenschwester nach Lüneburg gebracht.

Im Laufe ihres Aufenthaltes wurde sie »erbbiologisch erfasst«, eine Sippentafel angelegt und ihre Diagnose »Dementia praecox« um »progressive Paralyse« erweitert. Frieda blieb bis zu ihrer Verlegung nach Herborn am 30. April 1941. Am 16. Juni 1941 wurde sie von dort in die Tötungsanstalt Hadamar gebracht und ermordet. Sie starb im Alter von 57 Jahren.

Inzwischen wurde Frieda Pogoda in der Flutstraße in Stade ein Stolperstein verlegt, dort, wo das Wohnhaus mit der Schneiderei einst gestanden hat.

Das Geschäft von Schneidereimeister Eugen Pogoda in Stade auf einer Postkarte. Zu sehen ist das Ehepaar Pogoda mit Sohn Franz auf dem Arm, ca. 1909.

Privatbesitz Heiko Malicki.

Für Frieda Pogoda verlegter Stolperstein in der Flutstraße in Stade.

ArEgl.

Georg Marienberg

Mehrere Mitglieder der Lüneburger Familie Marienberg sympathisierten mit der kommunistischen Partei. Aus diesem Grund wurde die gesamte Familie erbbiologisch erfasst und vier Familienmitglieder gegen ihren Willen sterilisiert.

Georg Marienberg erging es wie seiner Cousine Thea und seinem jüngeren Bruder Karl. Er war Hilfsschüler gewesen, arbeitete zunächst als Hilfsarbeiter, dann als Knecht. Zum Zeitpunkt der Anzeige des Gesundheitsamtes über seine Unfruchtbarmachung war er gemeinsam mit seinem Bruder Karl beim Kohlehändler Lindemann beschäftigt. Sein Sterilisationsverfahren stand in direktem Zusammenhang mit dem Verfahren seines Bruders. Durch das Heiratsgesuch seines Bruders und die damit verbundene »Ehetauglichkeitsprüfung« wurde das Gesundheitsamt auch auf ihn aufmerksam.

Am 26. Juni 1938 ging die Anzeige des Gesundheitsamtes beim Erbgesundheitsgericht Lüneburg ein, drei Monate später beschloss es bereits, dass Georg Marienberg zu sterilisieren sei. Er wurde acht Wochen nach seinem Bruder Karl sterilisiert.

Trotz vorliegender Unfruchtbarkeit lehnte das Gesundheitsamt Lüneburg zwei Jahre später Georgs Eheschließung ab. Georg Marienberg beschwerte sich daraufhin beim Reichminister des Innern, der der Vermählung schließlich zustimmte.

Sechs Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus bemühte sich Georg Marienberg um Wiederaufnahme seiner Erbgesundheitssache und hoffte auf eine Entschädigung. In der Sitzung vom 12. Oktober 1951 kamen Amtsgerichtsdirektor Dr. Jahn, der ab 1940 der Nachfolger von Richter Stölting und bis Kriegsende der vorsitzende Richter am Erbgesundheitsgericht Lüneburg gewesen war, sowie Medizinalrat Dr. Schaeper – der Nachfolger von Amtsarzt Dr. Rohlfing beim Gesundheitsamt Lüneburg – zu dem Ergebnis, dass der Beschluss des ehemaligen Erbgesundheitsgerichtes aufrechterhalten werde. Georg Marienberg starb am 7. April 1979 in Lauenburg. Er hinterließ keine Kinder.

Foto von Georg Marienberg aus seiner Sterilisationsakte.

NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1324.

Bescheinigung des Gesundheitsamtes Lüneburg
für Georg Marienberg vom 17.8.1940.

NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1324.

Karl Marienberg

Mehrere Mitglieder der Lüneburger Familie Marienberg sympathisierten mit der kommunistischen Partei. Aufgrund dessen wurde die ganze Familie »erbbiologisch erfasst« und vier Familienmitglieder gegen ihren Willen sterilisiert.

Karl Marienberg wurde am 5. Februar 1913 in Lüneburg geboren. Er besuchte eine Hilfsschule, arbeitete dann als Landarbeiter und schließlich als Arbeiter bei der Kohlehandlung Lindemann, ebenso wie sein Bruder Georg. In dieser Zeit lernte er Berta Habenicht kennen. Die beiden wollten heiraten. Ihrem Antrag auf »Ehetauglichkeit« wurde jedoch nicht stattgegeben, stattdessen wurde eine Anzeige zur Sterilisation gestellt. Berta wurde »Prostitution« unterstellt, obwohl sie lediglich zwei uneheliche Kinder hatte. Karl Marienberg wiederum wurde für eine Sterilisation angezeigt, da sein Vater Otto im kommunistischen Widerstand aktiv war.

Der Richter Edzard Stölting sowie die beiden Mediziner Dr. Max Bräuner und Dr. Wilhelm Vosgerau, die dem Erbgesundheitsgerichtsverfahren von Karl Marienberg vorsaßen, lehnten am 7. Juli 1938 eine Sterilisation von Karl Marienberg zunächst ab. Dagegen legte der anzeigende Amtsarzt Dr. Hans Rohlfing vom Lüneburger Gesundheitsamt erfolgreich Beschwerde ein. Das Verfahren ging in die nächst höhere Instanz zum Erbgesundheitsobergericht nach Celle.

Das Celler Gericht beschloss am 25. Oktober 1938 die Unfruchtbarmachung von Karl Marienberg. Er wurde am 18. November 1938 im Städtischen Krankenhaus Lüneburg operiert. Allerdings wurde Berta schon vorher von Karl schwanger. Erst nach der Operation wurde die Eheschließung bewilligt. Karl Marienberg und Berta Habenicht heirateten zehn Tage vor der Geburt der gemeinsamen Tochter Silvia an Silvester 1938. Zweieinhalb Jahre später, am 13. Juni 1941, starb Karl »nach längerem Leiden« an Tuberkulose.

Foto von Karl Marienberg aus seiner
Sterilisationsakte.

NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1298.

Beschwerde des Gesundheitsamtes Lüneburg über Beschluss zu Karl Marienberg vom 27.7.1937.

NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1298.


Thea Marienberg

Thea Marienberg wurde am 7. April 1921 geboren. Sie war die Tochter des Fuhrunternehmers Otto Marienberg und dessen Frau Alwine, wohnhaft Am Berge 35. Ottos Bruder Albert war am 10. Juli 1931 wegen seiner kommunistischen Parteizugehörigkeit erschossen worden. Nach der Machtübernahme der NSDAP war Otto Marienberg Mitglied im kommunistischen Widerstand, weshalb er 1934 eine Gefängnisstrafe wegen »Hochverrat« absaß.

1939 lernte Thea ihren zukünftigen Ehemann Erich Harenburg – Unteroffizier im Fliegerhorst Lüneburg – kennen und wurde schwanger. Um heiraten zu können, mussten sich beide zur Bescheinigung der Ehetauglichkeit an das Lüneburger Gesundheitsamt wenden. Aufgrund der politischen Aktivitäten ihres Vaters und angeblichen »Schwachsinns« in der Familie wurde Thea für »eheuntauglich« erklärt, und es wurde ein Verfahren zur Unfruchtbarmachung eingeleitet. Um trotzdem bald heiraten zu können und der Sterilisation zu entgehen, versuchte sie, die Lüneburger Ämter auszutricksen.

Sie ging zum Gesundheitsamt Hamburg, um sich dort die Ehetauglichkeit bescheinigen zu lassen. Am 27. Februar 1940, demselben Tag, an dem das Lüneburger Erbgesundheitsgericht das Urteil über ihre Zwangssterilisation fällte, kam das Hamburger Gesundheitsamt zum gegenteiligen Ergebnis: »Schwachsinn wurde hier nicht festgestellt und daher das Gesundheitszeugnis ausgestellt.« Damit stand der Eheschließung nichts mehr im Wege. Weil Thea aber in Lüneburg gemeldet war und die Hamburger Behörde die Lüneburger Amtskollegen über das Zeugnis informierte, flog alles auf, und das Hamburger Zeugnis wurde für ungültig erklärt.

Daraufhin wurde das Gerichtsverfahren mit dem Urteil über eine Zwangssterilisation abgeschlossen. Doch Theas Vater Otto Marienberg legte eine Beschwerde gegen den Gerichtsbeschluss ein, und ihr Fall ging an die nächsthöhere Instanz. Gleichzeitig ordnete das Gericht einen Anstaltsaufenthalt an, um dort feststellen zu lassen, ob Thea Marienberg »erbkrank« sei.

Nachdem Thea am 13. März 1940 eine Tochter zur Welt gebracht hatte, wurde sie am 7. Mai 1940 zusammen mit ihrem Kind in Haus 18 der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg aufgenommen. Dort traf sie auf die Ärztin Clara Schmidt, die der ärztlichen Einschätzung ihres Vorgesetzten und Ärztlichen Direktors Max Bräuner, der zuvor als einer der Richter über Theas Sterilisation geurteilt hatte, nicht widersprach. Das Erbgesundheitsobergericht bestätigte auf dieser gutachterlichen Basis das Urteil des Lüneburger Gerichts. Und auch Erich Harenburgs Versuch, die Operation seiner zukünftigen Frau durch eine Eingabe bei der Kanzlei des Führers zu verhindern, blieb erfolglos.

Am 10. Dezember 1940 wurden Thea im Städtischen Krankenhaus Lüneburg beide Eileiter entfernt. Erst danach stimmte Amtsarzt Rohlfing einer Eheschließung zu. Thea Marienberg und Erich Harenburg heirateten sechs Wochen nach ihrer Sterilisation am 28. Februar 1941.

Hochzeitsfoto von Thea und Erich Harenburg vom 28.2.1941.

Privatbesitz Uwe Marienberg.

Ärztlicher Bericht des Städtischen Krankenhauses Lüneburg
über die Sterilisation von Thea Marienberg vom 2.1.1940.

NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 208.


Elsa Spartz

Elsa Spartz, geborene Mehling wurde am 8. Juni 1889 in Würzburg geboren. Sie wuchs mit drei jüngeren Brüdern auf. Über ihre ersten 18 Lebensjahre ist nichts bekannt. Elsa lernte zwischen 1907 und 1911 ihren späteren Ehemann Heinrich Spartz kennen. Er kam ursprünglich aus Lahr in der Eifel, hatte an den Universitäten Berlin, München und Würzburg studiert und promovierte im Jahr 1913 zum Doktor der Medizin. Sie verlobten sich 1911, wollten aber erst nach seiner Approbation (1912) und nach Abschluss seiner Promotion (1913) heiraten. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs durchkreuzte diese Pläne. Nach Heinrich Spartz Entlassung aus dem Kriegsdienst im März 1919 fand er eine Anstellung als Oberarzt im Hamburger Marienkrankenhaus. Elsa folgte ihm nach Hamburg und sie heirateten. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor, Karl Heinz (geboren 1920) und Felicitas (geboren 1922).

Sechs Jahre später erkrankte Elsa, ihr Mann war inzwischen Ärztlicher Direktor am katholischen Mariahilf-Krankenhaus in Hamburg-Harburg. Am 12. Mai 1928 wies Heinrich Spartz sie erstmals in das Sanatorium Rockwinkel bei Bremen ein. Anlass waren eine innere Unruhe, Halluzinationen und das Hören von Stimmen. Es wurde eine »Schizophrenie« diagnostiziert. Den spärlichen Unterlagen ihrer Krankenakte ist zu entnehmen, dass ihr erster Aufenthalt von Ängsten geprägt war.

Am 19. September 1930 floh Elsa Spartz während eines Spaziergangs und kehrte nach Hause zu Heinrich und ihren Kindern zurück. Sie verkaufte ihre Haarnadel, um an Geld für eine Fahrt nach Hause zu kommen. Heinrich Spartz ließ sie jedoch per Taxi direkt wieder zurückbringen. Nach vier Jahren Sanatoriums-Aufenthalt wurde Elsa im Jahr 1932 in ein Tochterhaus verlegt. Auf ihren Wunsch hin wurde sie nach zehn Tagen probeweise zu ihrem Mann und den Kindern entlassen. Drei Tage später wies Heinrich Spartz Elsa ein zweites Mal ins Sanatorium Rockwinkel ein. Nach ihrer Wiederaufnahme ins Sanatorium besuchte Heinrich seine Frau nur ein einziges Mal.

Für die Folgejahre finden sich kaum Einträge in Elsas Patientenakte. Am 29. August 1934 wurde sie wegen ihres unveränderten Zustands in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg verlegt. Dort war sie weitere sieben Jahre Patientin. Es gibt nur wenige Aufzeichnungen über ihren Aufenthalt in Lüneburg.

Am 13. April 1941 wurde Elsa Spartz im Rahmen der »Aktion T4« in die Zwischenanstalt Herborn verlegt. Dass ihr Ehemann die Hintergründe dieser »planwirtschaftlichen Verlegung« kannte, ist wahrscheinlich. Doch er rettete sie nicht. Am 16. Juni 1941 wurde Elsa Spartz in der Tötungsanstalt Hadamar vergast. Auch Heinrich Spartz überlebte den Krieg nicht. Er starb am 25. Oktober 1944 bei der Bergung von Bombengeschädigten.

Auf diesem Gruppenbild stehen Elsa und ihr Mann Heinrich im Zentrum. Sie sind umringt u. a. von ihren Angehörigen der Familien
Spartz, Mehling und Schmalen. Das Bild wurde etwa 1911 aufgenommen. Es ist das einzige Foto von Elsa Spartz, das in der Familie erhalten ist.

Privatbesitz Maria Kiemen/Matthias Spartz.

Paul Hausen

Paul Hausen wurde am 27. Juni 1917 in Lüneburg geboren. Im Alter von 17 Jahren soll er sich sexuell an einem jüngeren Mädchen versucht haben. Wegen sogenanntem »abnormen Sexualtrieb« kam er daraufhin in das Erziehungsheim Gut Kronsberg bei Hannover-Wülfel. Von dort wurde 1938 das Verfahren zur Zwangssterilisation eingeleitet.

Am 28. Mai 1938 beschloss das Erbgesundheitsgericht Lüneburg über Paul Hausens Sterilisation. Nur einen Monat später, drei Tage vor seinem 21. Geburtstag, erfolgte zudem die Aufnahme in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg. Wegen angeblichen »angeborenen Schwachsinns« und »Sittlichkeitsverbrechen« wurde er nach dem »Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung« vom 24. November 1933 (»Gewohnheitsverbrechergesetz«) fortan als sogenannter »Sittlichkeitsverbrecher« in der Lüneburger Anstalt sicherheitsverwahrt.

Diese Unterbringung verhinderte jedoch keineswegs die Sterilisation, im Gegenteil. Das »Gewohnheitsverbrechergesetz« bot in §§ 42a die Möglichkeit der Zwangskastration. Durch die Entfernung von Geschlechtsorganen ging diese Operation weit über die Zwangssterilisation hinaus. Das Gesetz fand auch bei Paul Hausen Anwendung. Er wurde deshalb nicht wie andere Lüneburger Zwangssterilisierte im Städtischen Krankenhaus Lüneburg operiert, sondern am 30. März 1939 im Henriettenstift in Hannover. Hierbei verstümmelten die Ärzte seine Geschlechtsorgane.

Im Zeitraum 1939 bis zu seiner Verlegung nach Herborn in die »Aktion T4« bekam Paul Hausen zusätzlich die Diagnose »Schizophrenie« gestellt. Ob die »Schizophrenie« erst durch die Zwangskastration ausgelöst wurde bzw. Folge der Totaloperation war oder doch eher einer davon unabhängigen Symptomatik entsprach, kann nicht mehr nachvollzogen werden. Auch ist nicht klar, ob sie im Fall von Paul Hausen tatsächlich vorgelegen hat. Die Diagnose »Schizophrenie« kombiniert mit seiner Sicherheitsverwahrung war jedoch ausschlaggebend dafür, dass Paul Hausen für eine »planwirtschaftliche Verlegung« selektiert wurde. Er wurde am 23. April 1941 in die Durchgangsanstalt Herborn und von dort in die Tötungsanstalt Hadamar verlegt. Er starb dort am 21. Mai 1941 in der Gaskammer einen qualvollen Erstickungstod. Paul Hausen wurde nur 23 Jahre alt.

Charakteristik-Bogen von Paul Hausen, ca. 1938.

NLA Hannover 155 Lüneburg Acc. 2004/066 Nr. 7888.