Christine Sauerbrey

Christine Sauerbrey, geborene Behrens, wurde am 24. September 1889 in Gröpelingen, ein Teil von Bremen, als eines von insgesamt acht Kindern geboren. Ihre Eltern waren der Schneidermeister Johann Dietrich Behrens und Adelheit Behrens, geborene Behnken. Im April 1903 beendete Christine mit 13 Jahren die Volksschule. Sie trat in die Fußstapfen ihres Vaters und erlernte den Beruf der Schneiderin.

Mit 17 Jahren lernte sie ihren Ehemann Johann Sauerbrey kennen – wahrscheinlich bei der Weser AG, wo er als Dreher arbeitete und sie turnte. Als Christine 18 Jahre alt war, heirateten sie gegen den Willen der Eltern. Johann war in ihren Augen nicht standesgemäß und noch dazu im linken Flügel der SPD aktiv. Zwischen 1908 und 1912 bekamen sie vier gemeinsame Töchter. Ab 1916 radikalisierte sich Johann, 1918 beteiligte er sich an der Novemberrevolution. Als die Räterepublik blutig niedergeschlagen wurde, setzte sich Johann nach Moskau ab, um einer Verhaftung zu entgehen.

Weil Johann als »Republikfeind« polizeilich gesucht wurde, wurde Christine mehrfach polizeilich verhört und in Schutzhaft genommen. Zugleich musste sie allein für die vier Töchter sorgen.

1924, ihre Töchter waren zwischen elf und 16 Jahre alt, Johann war mittlerweile aus Moskau geläutert zurückgekehrt, wurde sie erstmals Patientin im St. Jürgens Asyl für Geistes- und Nervenkranke in Ellen bei Bremen. Dort diagnostizierten die Ärzte eine »Schizophrenie«. Mit der Erkrankung zerbrach die Ehe. Im Januar 1929 wurde die Ehe zwischen Christine und Johann geschieden.

Im Mai 1931 wurde Christine in die Lippische Landes- Heil- und Pflegeanstalt Lindenhaus in Lemgo-Brake verlegt. In der Patientenakte steht, im »Lindenhaus« sei es Christine zwar körperlich gut gegangen, jedoch habe sich ihre Grunderkrankung nicht gebessert, sodass sie am 31. Oktober 1933 wieder in die Bremer Nervenklinik in Ellen zurückverlegt wurde. Im November 1938 wurde sie von dort nach Lüneburg verlegt.

Christine Sauerbrey verbrachte nicht einmal drei Jahre in der Landes- Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg. Sie wurde am 30. April 1941 nach Herborn verlegt. Am 16. Juni 1941 wurde sie in die Tötungsanstalt Hadamar weiterverlegt und am gleichen Tag ermordet. Den vier Töchtern teilte die Landes- Heil- und Pflegeanstalt Hadamar mit, Christine sei offiziell am 30. Juni 1941 an einer Typhus-Erkrankung gestorben. Die Familie ließ die Urne mit der vermeintlichen Asche von Christine nach Bremen überführen. Sie wurde auf dem Hauptfriedhof beigesetzt, das Grab sei inzwischen aufgelassen.

Am 11. Oktober 2013 wurde vor dem Wohnhaus von Christine Sauerbrey in der Karl-Bröger-Straße 15 in Bremen, der damaligen Farger Straße 15, ein Stolperstein für Christine Sauerbrey verlegt. Die Initiative ging von den Nachfahren aus. An der kleinen Gedenkstunde nahmen auch drei Ur-Großkinder von Christine teil.

Christine Sauerbrey, hier 17-jährig
im Turnanzug der AG Weser, ca. 1906/1907.

Privatbesitz Traute Konietzko.

Christine Sauerbrey, vor 1914.

Privatbesitz Traute Konietzko.

Erbgesundheitsgericht Lüneburg

Dem Erbgesundheitsgericht saßen neben dem Amtsrichter zwei medizinische Richter vor. Bei den medizinischen Richtern handelte es sich immer um einen niedergelassenen Haus- oder Nervenarzt sowie einen verbeamteten Arzt. Der verbeamtete Arzt war entweder Amtsarzt oder Anstaltsarzt. Es wurde darauf geachtet, dass die Personen, die das medizinische Gutachten erstellten und das richterliche Amt ausübten, nicht identisch waren. So kam es beim Lüneburger Erbgesundheitsgericht vor, dass immer dann der Leiter des Gesundheitsamtes (Hans Rohlfing) das Richteramt vom Anstaltsdirektor (Max Bräuner) übernahm, wenn das Gutachten durch eine*n Mediziner*innen der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg erstellt worden war, etwa durch die Ärzte Baumert, Bräuner, Marx, Redepenning, Winninghoff oder die Ärztin Schmidt. Bei Bedarf wurden Rohlfing und Bräuner von einem Uelzener Kollegen (Sander) vertreten.

Bis 1940 war nahezu ausschließlich Amtsrichter Edzard Stölting der amtsgerichtliche Vorsitzende. Er wurde abgelöst von Börner und Jahn. Die Richter Severin und van Lessen vertraten hin und wieder. Oft saßen auch die niedergelassenen Ärzte Dressler und Vosgerau dem Erbgesundheitsgericht vor. Sie wurden von Bergmann (1940) und Cropp (1944) vertreten. Im Zusammenhang mit dem Erbgesundheitsobergericht werden in den Gerichtsunterlagen häufig die Namen Harten, Josten und Harries genannt.

Das Erbgesundheitsobergericht war in zweiter und letzter Instanz für gerichtliche Entscheidungen über die Anordnung der Unfruchtbarmachung zuständig. Die Betroffenen waren praktisch rechtlos. Anfänglich wurden Fälle ohne Anhörung der Betroffenen und ohne ernsthafte Vorbereitung durch die Beisitzer abschließend beraten und entschieden. Später fanden die Anhörungen in der Regel an den jeweiligen Gerichtsstandorten der Erbgesundheitsgerichte statt.

Besonders unangenehm musste aus richterlicher Sicht berühren, dass die Verfahren häufig ohne Neubegutachtungen und ohne Aktenzugang seitens der Betroffenen durchgeführt wurden, sodass sich selbst der nationalsozialistische Rechtswahrer-Bund veranlasst sah, verfahrensrechtliche Minimalstandards einzufordern. Man erwartete unter anderem zumindest das Recht Betroffener auf eine Akteneinsicht. Erst im Dezember 1936 empfahl das Reichsjustizministerium dem Celler Oberlandesgerichtspräsidenten von Garßen, den Rechtsanwälten der von Verfahren vor dem Erbgesundheitsobergericht Betroffenen bei entsprechender Prüfung und Belehrung Akteneinsicht zu gewähren.

Die Gerichtsverfahren fanden in Bezug auf die Patient*innen der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg in der Regel auf Station statt. Es wäre zu aufwendig gewesen, die Patient*innen ins Gericht zu eskortieren. Nur all jene, die sich nicht in Anstaltspflege befanden, wurden in den Seitentrakt des Amts- und Landgerichtes, Eingang Bardowickerstaße, vorgeladen. Identisch verfuhr man auch mit den Verhandlungen vor dem Erbgesundheitsobergericht. Das Celler Gericht schickte die Richter auf Dienstreise nach Lüneburg, dort wurden gleich mehrere Verfahren gebündelt verhandelt. Sie wurden in der Anstalt bzw. im Amts- und Landgerichtsgebäude geführt.

Zwangssterilisation – Rassenhygiene

Zu Beginn jeder Sterilisation in den 1930er- und 1940er-Jahren stand zunächst ein Mensch, der im Sinne der am Ende des 19. Jahrhunderts Aufschwung erhaltenden »Rassenhygiene« und »Eugenik« als potenziell »erbkrank« angesehen wurde. Eine wesentliche Grundlage der »Rassenhygiene« und »Eugenik« bildeten die »Rassenlehre« von Arthur de Gobineau (ab 1852) und der Sozialdarwinismus nach Herbert Spencer (ab 1864). Spencer unterstützte die These, dass sich die biologische Evolution durch ein »survival of the fittest«, also durch das Überleben des am besten Angepassten bzw. des Geeignetsten vollziehe. Francis Galton begründete die »Eugenik« als Wissenschaft (ab 1883), Alfred Ploetz führte den Begriff der »Rassenhygiene« ein (ab 1895). »Positive Eugenik« oder »positive Rassenhygiene« beabsichtigte fortan eine Verbesserung des Erbgutes beispielsweise durch Förderung von Kinderreichtum gesellschaftlich angesehener und vermeintlich gesunder bzw. erwünschter Familien. »Negative Eugenik« oder »negative Rassenhygiene« umfasste hingegen die Beseitigung sogenannten »schlechten Erbgutes« aus einer Bevölkerung zur Eindämmung sozialer Ausgaben sowie zugunsten erhoffter »erbgesunder« zukünftiger Generationen.

»Erbbiologische Bestandsaufnahme«

Die sogenannte flächendeckende und lückenlose »erbbiologische Bestandsaufnahme« und Überprüfung war die grundlegende Voraussetzung für die Durchführung des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«. Hierbei wurde nahezu jede*r durch das Gesundheitsamt hinsichtlich seines bzw. ihres »Erbwertes« erfasst und überprüft. Die Erfassung konnte über verschiedenste Wege erfolgen und in kaum einen Lebensbereich wirkten die »erbbiologische Bestandsaufnahme« und die Prüfung der »Erbtauglichkeit« nicht hinein. Systematisch erfasst und überprüft wurden alle:

• Patient*innen der Heil- und Pflegeanstalten, der örtlichen Kinderheime und Fürsorgeheime,

• Hilfsschüler*innen (Schülerinnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf ) sowie Schüler*innen, die aufgrund schlechter Noten / Sitzenbleibens bei Schuluntersuchungen der Amtsärzt*innen und bei Lehrkräften auffielen,

• Heiratswilligen (bei der Ehetauglichkeitsprüfung),

• Wehrpflichtigen (bei Feststellung der Wehrtauglichkeit),

• Ehepaare, die ein Ehestandsdarlehen beantragten,

• Eltern, die Kinderbeihilfe beantragten,

• Eltern ohne Trauschein,

• Mütter mit Kindern verschiedener Väter,

• Untersuchungshäftlinge, die sich im Gerichtsgefängnis befanden,

• Opfer von Missbrauch und Vergewaltigung,

• Sinti*zze und Rom*nja,

• Sexarbeiter*innen,

• »Landstreicher*innen« bzw. wohnungslos Gemeldete,

sowie all jene, aus deren Familie Suizid, eine psychische bzw. neurologische Erkrankung, Bettnässen, Alkoholismus, Inzest, Langzeitarbeitslosigkeit oder »Bummelantentum« bekannt war und all jene, die aufgrund laufender Sterilisationsverfahren von Angehörigen oder Verlobten für das Lüneburger Gesundheitsamt identifizierbar waren.

Zwangssterilisation in Lüneburg

Zwischen 1934 und 1945 gingen beim Gesundheitsamt Lüneburg mindestens 3.771 Anzeigen für eine Sterilisation ein, bei denen es in mindestens 2.358 Fällen auch zu Gerichtsverhandlungen am Erbgesundheitsgericht Lüneburg kam. Das Erbgesundheitsgericht Lüneburg hatte seinen Sitz beim örtlichen Amts- und Landgericht Am Markt/Bardowicker Straße. Das Erbgesundheitsobergericht war in Celle und dem dortigen Oberlandesgericht angegliedert.

Neben dem Amtsrichter saß dem Lüneburger Erbgesundheitsgericht unter anderem auch der Ärztliche Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg Max Bräuner vor, der zugleich Kreisbeauftragter für das Rassenpolitische Amt der NSDAP Lüneburg-Stadt war.

Im Unterschied zu anderen Gerichtsbezirken blieb etwa die Hälfte der Lüneburger Akten zu den in Lüneburg und Celle verhandelten Gerichtsfällen erhalten. Darüber hinaus gibt es acht Sterilisationsbücher der Landesfrauenklinik Celle, in denen rund 250 weitere Frauen identifiziert werden können, die über das Lüneburger Gericht verhandelt wurden. Hinzu kommen Frauen und Männer, über deren Unfruchtbarmachung es in anderen Unterlagen Belege gibt. Da die Akten unvollständig sind, kann nach der derzeitigen Quellenlage insgesamt von über 800 belegten Einzelfällen vollstreckter Sterilisationen ausgegangen werden.

Der Erste, der nachweislich nach dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« durch einen Gerichtsbeschluss des Lüneburger Erbgesundheitsgerichtes vom 4. Mai 1934 sterilisiert wurde, war der Lüneburger Tapezierer Wilhelm Klatt. Das letzte überlieferte Sterilisationsdatum aus der Zeit des Nationalsozialismus ist der 7. März 1945. Betroffen war die 21-jährige landwirtschaftliche Gehilfin Anni Korn. Die meisten Opfer (über 550) wurden aufgrund »angeborenen Schwachsinns« sterilisiert. Rund 100 aufgrund von »Schizophrenie/Irresein«. Es gab jedoch auch über 50 Sterilisationen aufgrund »moralischen Schwachsinns«.

Die meisten Sterilisationen wurden in den ersten vier Jahren nach der Machtübernahme durchgeführt. Kriegsbedingt ging die Zahl ab 1939 stark zurück. In diesem Zeitraum wurden zunächst nur noch »dringliche Fälle« behandelt. 65 Prozent der Betroffenen waren Frauen. Sie waren mit durchschnittlich 25 Jahren zudem deutlich jünger als die Männer, die im Durchschnitt 28 Jahre alt waren. Das jüngste Opfer der Zwangssterilisation war Inge Wernitz mit gerade einmal 14 Jahren. Das älteste Opfer war Gustav Lindenau. Er wurde im Alter von 63 Jahren aufgrund »schweren Alkoholismus« unfruchtbar gemacht. Zum Zeitpunkt des Urteils befand er sich noch im Konzentrationslager Sachsenhausen.

Mehr als ein Drittel aller Betroffenen lebte im Lüneburger Stadtgebiet. Die Betroffenen der Zwangssterilisation lebten überwiegend in den Stadtteilen Altstadt, Goseburg-Zeltberg und Hagen. Oft traf es gleich mehrere Nachbar*innen einer Straße und ganze Straßenzüge: Salzbrückerstraße, Auf dem Meere, Auf der Altstadt, Hinter der Sülzmauer, Schrangenstraße, Bardowicker Straße, Bardowicker Wasserweg, Sternkamp, Gellersstraße, Wedekindstraße.

»Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«

Das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« wurde am 14. Juli 1933 verabschiedet und trat am 1. Januar 1934 in Kraft. Es lieferte die gesetzliche Grundlage für hundertausendfache Zwangssterilisationen.

Die gesetzliche Regelung der Sterilisation war keine deutsche Erfindung und auch in Deutschland keine alleinige Erfindung der Nationalsozialisten. Bereits 1907 führte der Bundesstaat Indiana in den U.S.A. ein Gesetz ein, das die Sterilisation von Anstaltsinsassen ermöglichte. Bis 1921 führten 15 weitere Bundesstaaten der U.S.A. ebensolche gesetzlichen Regelungen ein, bis 1933 waren es bereits 30 Bundesstaaten. In 41 U.S.-Bundesstaaten gab es zudem »Eheverbote« für sogenannte Geisteskranke. Die erste Sterilisation gegen den Willen eines*r Betroffenen wurde 1927 durch den Supreme Court, dem US-amerikanischen höchsten Gerichtshof, entschieden.

Auch in einzelnen europäischen Ländern wurden Sterilisationsgesetzte erlassen. 1929 führte Dänemark ein solches Gesetz ein. Ab 1938 wurde das Ehegesetz verschärft und 1939 wurden rassenhygienisch begründete Schwangerschaftsabbrüche legitimiert. Schweden und Norwegen führten parallel zum Deutschen Reich Sterilisationsgesetze ein. Finnland folgte 1935, Lettland 1937 und Island 1938.

Dem deutschen Gesetz ging eine Entwicklung voraus. Bereits 1923 wurde von Gustav Boeters ein erster Gesetzentwurf vorgelegt. Der Landesgesundheitsrat beschäftigte sich ebenfalls mit dieser Fragestellung und legte 1932 einen zweiten Gesetzentwurf vor. Schließlich setzte sich die Überarbeitung des dritten Gesetzesentwurfs von Arthur Gütt, Alfred Ploetz und Ernst Rüdin durch.

Das Gesetz regelte, dass Menschen mit »1.) angeborenem Schwachsinn, 2.) Schizophrenie, 3.) Zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein, 4.) erblicher Fallsucht, 5.) erblichem Veitstanz (Huntingtonsche Chorea), 6.) erblicher Blindheit, 7.) erblicher Taubheit, 8.) schwerer erblicher körperlicher Mißbildung« zu sterilisieren seien, wobei bei die »Erblichkeit« in Bezug auf nahezu alle dieser Erkrankungs- bzw. Störungsbilder wissenschaftlich noch nicht bewiesen war. Auch »schwerer Alkoholismus« wurde als Sterilisationsgrund aufgeführt.

Darüber hinaus regelte das deutsche Gesetz in §12 im Unterschied zu den Gesetzen anderer Ländern die Sterilisation wider Willen, in dem es hieß: »Hat das Gericht die Unfruchtbarmachung endgültig beschlossen, so ist sie auch gegen den Willen des Unfruchtbarzumachenden auszuführen, sofern nicht dieser allein den Antrag gestellt hat. Der beamtete Arzt hat bei der Polizeibehörde die erforderlichen Maßnahmen zu beantragen. Soweit andere Maßnahmen nicht ausreichen, ist die Anwendung unmittelbaren Zwanges zulässig.«

Ab 1936 konnte auch ein »moralischer Schwachsinn« oder »sozialer Schwachsinn« als Urteilsbegründung herangezogen werden. Obwohl das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« sogenannte »Asozialität« und »Kriminalität« nicht explizit als Gründe für eine Sterilisation benannte, wurden Personen mit wechselnden Geschlechtspartner*innen, die sich angeblich »unsittlich verhielten« oder »leicht sexuell erregbar« gewesen seien sowie Homosexuelle zwangssterilisiert.

Wilhelm Güthling

Wilhelm Güthling wurde am 3. April 1886 in Lüneburg geboren. Er war ein »doppeltes Opfer« der Eugenik und »Euthanasie«-Maßnahmen.

Am 21. Mai 1907 wurde er mit 21 Jahren das erste Mal in der Heil-und Pflegeanstalt Lüneburg aufgenommen. Seine Diagnose lautete zunächst »angeborener Schwachsinn«. Als einziger Angehöriger war sein Vater benannt, mit dem er in der Straße Vor dem Neuen Tore in Lüneburg lebte. In der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre zog der Vater in die Gellersstraße um und verstarb kurze Zeit später.

Wilhelm Güthling wurde immer wieder für längere Zeit Patient in der Anstalt. Zu seinen Aufenthalten außerhalb der Anstalt gibt es unterschiedliche Angaben über seinen Lebensunterhalt. In der Akte des Gesundheitsamtes wird er als Arbeiter bezeichnet. Auch habe er in einer Fassfabrik und als Knecht gearbeitet. Doch Versuche der Eltern, ihn dauerhaft in eine Anstellung zu bringen, scheiterten wohl aufgrund seines Müßiggangs. So verbrachte er sogar eine Zeit im Armenhaus und aufgrund von Bettelei sei er zudem drei Tage im Gefängnis gewesen.

Die letzte dokumentierte Aufnahme in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg erfolgte am 18. Dezember 1933. Danach scheint er nicht wieder entlassen worden zu sein.

Wilhelm Güthling zählt zu den ersten Opfern der Zwangssterilisation. Das Erbgesundheitsgericht Lüneburg beschloss seine Sterilisation am 26. Juni 1934, obwohl aufgrund des dauerhaften geschlossenen Anstaltsaufenthaltes von ihm gar keine »rassenhygienische Gefahr« ausging. Am 20. September 1934 wurde er mit hoher Wahrscheinlichkeit im Städtischen Krankenhaus Lüneburg operiert. Seine frühe Sterilisation ist Ausdruck der Akribie, mit der insbesondere zu Beginn der Einführung des Gesetzes vorgegangen wurde.

Nach der Sterilisation erfolgten nur noch wenige Einträge in Wilhelm Güthlings Krankenakte. Der letzte Eintrag erfolgte durch den Arzt Rudolf Redepenning am 22. April 1941 und lautete: »Nach Herborn«. Zur gleichen Zeit wurde auch seine Diagnose handschriftlich in »Pfropfschizophrenie« geändert. So wurde seine Deportation in eine der Tötungseinrichtungen gerechtfertigt. Wilhelm Güthling wurde am 23. April 1941 mit rund 120 weiteren Patient*innen im Zuge der »Aktion T4« in die Zwischenanstalt Herborn und von dort in die Tötungsanstalt Hadamar deportiert. Dort wurde er am 21. Mai 1941 ermordet.

Deckblatt des Charakteristik-Bogens von Wilhelm Güthling.


NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 2004/66 Nr. 7855.

Zwangssterilisation

Nach der Machtübernahme der NSDAP im Januar 1933 wurde in Deutschland zügig ein Sterilisationsgesetz eingeführt, das im Unterschied zu den internationalen Vorbildern die ungehinderte Zwangssterilisation ermöglichte, d. h. eine Unfruchtbarmachung auch gegen den Willen Betroffener. Das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« wurde am 14. Juli 1933 verabschiedet und trat am 1. Januar 1934 in Kraft.

Zur Anwendung des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« wurden an den Gerichtsstandorten der Amtsgerichte eigens für die Sterilisationsverfahren zuständige »Erbgesundheitsgerichte« geschaffen. Für die Sterilisation infrage kommende Personen wurden dem zuständigen Gesundheitsamt angezeigt. Ging aus der Anzeige hervor, dass die Kriterien des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« gegebenenfalls zutrafen, wurde ein Gerichtsverfahren am Erbgesundheitsgericht eingeleitet. Bestandteile des Gerichtsverfahrens waren eine ärztliche Begutachtung, die Intelligenzprüfung sowie eine Anhörung der betroffenen Person. Dem Gericht saßen ein Amtsrichter und zwei Ärzte vor.

Auf Basis der Gutachten, der Intelligenzprüfung sowie der Anhörung fällte das Erbgesundheitsgericht das Urteil. Binnen zwei Wochen nach Urteilsverkündung konnten die Betroffenen Einspruch erheben. Dann ging das Verfahren in die zweite Gerichtsinstanz an das zuständige Erbgesundheitsobergericht. Wurde das Urteil durch die Verurteilten angenommen bzw. in zweiter Instanz bestätigt, wurden sie in ein Krankenhaus einbestellt und dort operiert. Im Anschluss meldeten die Krankenhäuser die durchgeführten Sterilisationen an das Erbgesundheitsgericht sowie an das Gesundheitsamt zurück.

In den Grenzen des Deutschen Reiches wurden in den Jahren 1934 bis 1945 insgesamt 400.000 Frauen und Männer sterilisiert. Rund 5.000 starben infolge des Eingriffs.

Lüneburger Beteiligung an der »Aktion T4«

Anfang 1941 waren in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg insgesamt rund 1.200 Patientinnen untergebracht. Die Anstalt war in eine Heil- und in eine Pflegeanstalt geteilt. Nahezu jede*r zweite*r Patient*in der Pflegeanstalt wurde Opfer der »Aktion T4«.

Am 7. März 1941 wurden mindestens 123 männliche Patienten aus der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg in die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein »planwirtschaftlich verlegt«. Die Verlegung erfolgte ohne eine Unterbringung in einer Zwischenanstalt. Die Patienten wurden sofort nach ihrer Ankunft ermordet.

Am 9., 23. und 30. April 1941 wurden mindestens 352 Patient*innen aus der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg über die Zwischenanstalt Herborn in die Tötungsanstalt Hadamar verlegt. Die Verlegung am 9. April 1941 betraf nur Frauen, es waren 131.

Die erste Verlegung wurde von Personal der »T4«-Zentrale begleitet. Die folgenden Verlegungen wurden mit Personal der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg durchgeführt. Die Patient*innen wurden zu Fuß durch die Stadt zum Lüneburger Bahnhof geführt. Dort wurden ihnen zwei Waggons zugewiesen, die man zu diesem Zweck an die regulären Personenzüge angekoppelt hatte. Am Zielbahnhof angekommen, wurden die Patientinnen mit Bussen weiterbefördert.

Insgesamt wurden 475 Lüneburger Patient*innen auf diese Weise in die »Aktion T4« verlegt. Es gab nach aktuellem Forschungsstand nur zwei Überlebende.

Die hohe Opferzahl stand in direktem Zusammenhang mit 475 Patient*innen, die ab März aus der Hamburger Anstalt-Langenhorn nach Lüneburg verlegt wurden. Um für sie die geforderten Bettenkapazitäten zu schaffen, wurden die Verlegungslisten der »T4«-Zentrale nach oben korrigiert. Hierfür wurden die Verweildauer in einer Anstalt ignoriert und Diagnosen in den Krankengeschichten und Charakteristiken gefälscht, sodass die Kriterien für eine »planwirtschaftliche Verlegung« offiziell erfüllt wurden. Verantwortlich hierfür waren sowohl der Ärztliche Direktor Dr. Max Bräuner als auch sein Stellvertreter Dr. Rudolf Redepenning.

Die Lüneburger Patient*innen wurden am 7. / 8. März, am 12. Mai, am 21. Mai, am 28. Mai, am 16. Juni sowie am 16. Juli 1941 ermordet. Sie gehören zu den letzten Opfern der »Aktion T4«, die im August 1941 eingestellt wurde.

Mord mit Kohlenmonoxid

Mit dem Einmarsch der deutschen Truppen in Polen am 1. September 1939 begannen die Massenmorde an zehntausenden polnischen Anstaltspatient*innen durch Erschießungen. Wenige Wochen später wurde für die Morde erstmals gasförmiges Kohlenmonoxid eingesetzt. Vermutlich Mitte Oktober 1939 wurden im Bunker des Fort VII im Konzentrationslager Posen durch das »Sonderkommando Lange« unter der Leitung von SS-Untersturmführer Herbert Lange stationäre »Probevergasungen« durchgeführt. Da die Eisentür der provisorischen Gaskammer zunächst keine Abdichtung besaß, wurde nachgebessert. Im November und Dezember 1939 folgten weitere Vergasungen, bei denen rund 400 psychisch Erkrankte der Anstalten Treskau und Tiegenhof ermordet wurden.

Die »T4«-Zentrale in Berlin, die zur gleichen Zeit auf der Suche nach effizienten Tötungsverfahren für deutsche Psychiatriepatient*innen war, interessierte sich für diese »Posener Experimente«. Dr. August Becker vom Kriminaltechnischen Institut der Sicherheitspolizei Berlin und Heinrich Himmler als Reichsführer-SS nahmen im Dezember 1939 an Vergasungen in Posen teil, um sich von der Wirkungsweise zu überzeugen. Infolgedessen entschieden sich beide in Bezug auf die »Aktion T4« gegen Zyanid und für den Einsatz von Kohlenmonoxid als Tötungsmittel. In den Tötungsanstalten Grafeneck und Brandenburg wurden daraufhin Dieselmotoren und Rohre installiert, über die das Kohlenmonoxid in Kellerräume hinein geleitet werden konnte. Identische Installationen folgten in den Tötungsanstalten Bernburg, Hartheim, Hadamar und Pirna-Sonnenstein.

Ab Januar 1940 wurde das »Sonderkommando Lange« auch als mobiles Vergasungskommando eingesetzt. Mit einem Gaswagen, den das Kriminaltechnische Institut Berlin unter Federführung von Dr. Albert Widmann entwickelt und bereits im Konzentrationslager Sachsenhausen an Kriegsgefangenen erprobt hatte, wurden polnische Anstaltspatient*innen in Pommern, West- und Ostpreußen ermordet. Die eingesetzten Gaswagen waren mit der Aufschrift »Kaiser’s Kaffee Geschäft« getarnt und fuhren als »mobile Gaskammern« von Anstalt zu Anstalt. Das durch den Dieselmotor produzierte Kohlenmonoxid wurde in den Laderaum geleitet, in dem die Patient*innen eingesperrt waren und elend erstickten. Diesen Gaswagenmorden fielen über 6.000 polnische Anstaltspatient*innen zum Opfer.

Von Januar 1940 bis August 1941 wurden im Rahmen der »Aktion T4« über 70.000 deutsche Anstaltspatient*innen mit Kohlenmonoxid vergast. Von April 1941 bis Sommer 1942 wurden tausende Häftlinge aus Konzentrationslagern in der sogenannten »Sonderbehandlung 14f13« in den Tötungsanstalten Hartheim, Pirna-Sonnenstein und Bernburg vergast. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine Vernichtungslager mit eigenen fest installierten Gaskammern.

Ab Dezember 1941 wurde die Kernmannschaft des »Sonderkommandos Lange« nach Kulmhof / Chełmno versetzt und ermordete dort in Gaswagen über 150.000 Jüdinnen und Juden, Sintizze und Romnia. Ab März 1942 bis November 1943 wurden über 1,8 Millionen Menschen in den Vernichtungslagern Bełżec, Sobibór und Treblinka mit Kohlenmonoxid vergast. Zum Einsatzkommando dieser drei Lager der »Aktion Reinhardt« gehörten auch über 120 Männer der »Aktion T4«.