»Sonderbehandlung 14f13«

Im Jahr 1941 gab es in den Konzentrationslagern noch keine Vorrichtungen für Massenmorde. Die ab August 1941 nicht mehr ausgelasteten Tötungsanstalten der »Aktion T4« ermöglichten erstmals eine massenhafte Ermordung der »nicht mehr arbeitsfähigen« Häftlinge und wurden so Vorbild für die Einrichtung der Vernichtungslager. Für die Bezeichnung der Selektion und Ermordung nicht mehr arbeitsfähiger KZ-Häftlinge wurde die Formel »Sonderbehandlung 14f13« gewählt. »Sonderbehandlung« stand synonym für Tötung bzw. Exekution, »14« war die Kennziffer des Inspekteurs der Konzentrationslager, »f« war das Kürzel für »Todesfälle«, und die Ziffer »13« stand für die Todesart, in diesem Fall die Vergasung.

Die Lagerleitung traf eine Auswahl der Häftlinge, die in den Lagern von einer Ärztekommission in Augenschein genommen und selektiert wurden. Hierbei handelte es sich um erfahrene »T4«-Gutachter. Die erste bekannte Selektion fand im April 1941 im Lager Sachsenhausen statt. Bis zum Sommer 1941 wurden mindestens 400 Sachsenhausen-Häftlinge »ausgemustert«. Im gleichen Zeitraum wurden 450 Häftlinge aus Buchenwald und 575 aus Auschwitz in der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein vergast. Nach dem offiziellen Ende der »Aktion T4« beteiligte sich Pirna-Sonnenstein nicht mehr an der »Sonderbehandlung 14f13«. Häftlinge aus den Lagern Buchenwald, Ravensbrück und Groß-Rosen wurden ab diesem Zeitpunkt in der Tötungsanstalt Bernburg vergast. Die meisten Opfer der »Sonderbehandlung 14f13« gab es in der Tötungsanstalt Hartheim. Dort wurden mehrere tausend Häftlinge aus den Lagern Mauthausen, Dachau und Gusen mit Kohlenmonoxid ermordet.

Im April 1944 wurde die »Sonderbehandlung 14f13« ausgeweitet. Es bedurfte keiner Ärztekommission mehr, stattdessen entschied der Lagerarzt selbst über den Mord durch Vergasung. Die Häftlinge wurden nicht mehr nur in die Tötungsanstalten verlegt, sondern nun auch in andere Lager, die mittlerweile über eigene Gaskammern verfügten (etwa Mauthausen, Sachsenhausen, Auschwitz). In der Tötungsanstalt Hartheim wurden nun auch osteuropäische Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und ungarische Juden vergast. Die »Sonderbehandlung 14f13« endete mit der letzten Verlegung nach Hartheim im Dezember 1944.

»Aktion T4«

Die zentrale, planmäßig gesteuerte Ermordung von erwachsenen Psychiatriepatient*innen begann im Jahr 1940 nach Einführung der Meldepflicht und der Einrichtung von Tötungsanstalten. Diese Anstalten waren zwischen 1940 und 1941 Brandenburg an der Havel, Bernburg, Grafeneck, Hadamar, Hartheim und Pirna-Sonnenstein. Die der Kanzlei des Führers direkt unterstellte Verwaltungszentrale hatte bis März 1945 ihren Sitz in einer Villa in der Berliner Tiergartenstraße 4, weshalb heute von der »Aktion T4« gesprochen wird.

Grundlage für die Planung und Durchführung war die Ermächtigung, die Anfang Oktober 1939 von Adolf Hitler verfasst und auf den Tag des Kriegsbeginns am 1. September 1939 zurückdatiert wurde. Darin wurden der Leiter der Kanzlei des Führers, Philipp Bouhler, und Hitlers chirurgischer Leibarzt Karl Brandt ermächtigt, ausgewählten Ärzt*innen die Tötung von Menschen mit Behinderungen und Erkrankungen zu erlauben.

In der Tiergartenstraße 4 wurde eine zentrale Dienststelle eingerichtet, die in vier Abteilungen gegliedert die Erfassung, Deportation, Tötung und kostenmäßige Abwicklung von Patientinnen sowie das dafür erforderliche Personalwesen organisierte. Heil- und Pflegeanstalten wurden aufgefordert, Patient*innen mit Hilfe von Meldebögen an die »T4«-Zentrale zu melden.

Rund 40 ärztliche Gutachter*innen entschieden anhand der Meldebögen, ob ein*e Patient*in ermordet werden sollte oder nicht. Mit einem roten Plus- oder einem blauen Minuszeichen wurde auf dem Bogen entsprechend gekennzeichnet, wer ermordet werden sollte. Auf dieser Basis wurden Verlegungslisten erstellt. Die Anstaltsärzt*innen konnten diese Listen ergänzen oder kürzen.

Die Deportation von Patient*innen in die Tötungsanstalten wurde als »planwirtschaftliche Verlegung« bezeichnet und durch die Einbeziehung sogenannter »Zwischenanstalten« verschleiert. Durch sie konnten die einzelnen Verlegungstransporte zudem besser aufeinander abgestimmt werden. Für die Transporte der Patient*innen in die Tötungsanstalten kamen Reichspost-Busse zum Einsatz, die zu Beginn der »Aktion T4« noch keine graue Tarnfarbe trugen. Häufig wurden die Verlegungen vom Anstaltspersonal begleitet.

Die Angehörigen wurden in der Regel erst dann über die »planwirtschaftliche Verlegung« informiert, wenn die Patient*innen bereits tot waren. Der ihnen mitgeteilte offizielle Todestag wurde gefälscht und nach hinten verlegt, um noch Pflegegeld zwischen tatsächlichem Todestag und offiziellem Sterbedatum abrechnen zu können. Hierdurch finanzierte sich die »Aktion T4« und wurden Personal- und Sachkosten bestritten.

Insgesamt fielen 1940 bis 1941 im Rahmen der »Aktion T4« mehr als 70.000 Psychiatriepatient*innen dem Gas-Mord zum Opfer. Die »Aktion T4« endete offiziell im August 1941 durch mündliche Anordnung von Hitler an Bouhler.

Doch mit dem offiziellen Ende der »Aktion T4« endeten die Morde an Psychiatriepatient*innen nicht. Die »Euthanasie«-Maßnahmen wurden als »geheime Reichssache« fortgeführt. Im Rahmen der sogenannten »Sonderbehandlung 14f13« wurden in den Tötungsanstalten Bernburg, Pirna-Sonnenstein und Hartheim Konzentrationslager-Häftlinge ermordet. Außerdem erfolgten bis Kriegsende und darüber hinaus in der sogenannten »dezentralen Euthanasie« hunderttausend Morde durch Medikamente und Mangelversorgung.

Die Villa in der Tiergartenstraße 4 wurde im Frühjahr 1945 durch eine Bombe nahezu vollständig zerstört.

Ein Bus der »Aktion T4«.

Archiv Stiftung Liebenau.

Eckart Willumeit

Eckart Willumeit wurde am 21. August 1928 als viertes Kind des Malermeisters Gottlieb Willumeit und dessen Ehefrau Marie Else Willumeit in Celle geboren. Neben zwei Brüder hatte er noch eine ältere Schwester. Die Ehe der Eltern ging wenige Jahre nach Eckarts Geburt in die Brüche. Der Vater war zwischen 1927 und 1933 für die NSDAP im Celler Stadtrat. Später kandidierte er nicht mehr.

In den Unterlagen steht, Eckart habe sich langsam entwickelt. Erst am Ende des zweiten Lebensjahres habe er angefangen zu laufen, mit dreieinhalb Jahren sei es mit dem Sprechen losgegangen. Insgesamt wird Eckart als »zurück« und »mongoloid« beschrieben. Die Schule lehnte ihn ab, auch die Hilfsschule schickte ihn wieder nach Hause. Zum Zeitpunkt seiner ersten Untersuchung 1937 lebten die Eltern bereits getrennt. Eckart blieb zusammen mit seinen Geschwistern bei der Mutter.

Als Eckart neun Jahre alt war, folgte seine Mutter der Aufforderung, beim Gesundheitsamt des Stadt- und Landkreises Celle vorstellig zu werden. Auf wessen Initiative dies geschah, geht aus den Unterlagen nicht hervor. Der Amtsarzt kam zu dem Ergebnis: »Im ganzen gesehen hat man den Eindruck, daß es noch bildungsfähig ist, jedoch scheint die Mutter nicht in der Lage zu sein, sich derart mit dem Kinde zu beschäftigen, daß davon ein Erfolg zu erhoffen ist. Um einer drohenden vollständigen Verblödung vorzubeugen, halte ich eine Aufnahme in eine entsprechende Anstalt, z.B. Langenhagen, jetzt für dringend erforderlich.« Der Mutter wurde unterstellt, sie sei mit der Förderung
ihres Sohnes überfordert.

Daraufhin wurde Eckart durch das Amt in der Landes- Heil- und Pflegeanstalt Langenhagen angemeldet und am 13. August 1937 dort aufgenommen. Die Trennung fiel Mutter und Sohn schwer. Eckart schrieb seiner Mutter mit Unterstützung der Krankenschwester schon gleich in der ersten Woche. Ein Antwortbrief der Mutter ist erhalten geblieben. Die Zeilen lassen erkennen, dass Eckart (»Karlchen«) zuvor ein behütetes Leben hatte. Die Mutter bemühte sich, den Kontakt zu ihrem Sohn zu halten. Es entwickelte sich ein reger Briefverkehr zwischen Eckart und seiner Mutter. Sie besuchte ihn regelmäßig und holte ihn »auf Urlaub« zu sich nach Hause.

Eckart lebte sich allmählich in Langenhagen ein. Er sei ein gehorsamer Junge, mache keine besonderen Schwierigkeiten, sei »zutraulich und willig«, heißt es in seiner Krankenakte. Ab Oktober 1937 besuchte er sogar die Schule, lernte Buchstaben kennen, las einzelne Worte. Er entwickelte sich gut. Anfang Januar 1938 erfuhr Eckarts Mutter, dass er zusammen mit anderen Kindern in die Anstalten der Inneren Mission Rotenburg verlegt werden sollte. Tatsächlich erfolgte die Verlegung am 18. März 1938. Dieser Ortswechsel, so kann der Akte entnommen werden, warf Eckart erheblich zurück. Eine Postkarte seiner Mutter deutet zudem darauf hin, dass sie Eckart ab dieser Zeit nicht mehr ohne weiteres besuchen konnte.

Am 9. Oktober 1941 wurde Eckart in die »Kinderfachabteilung« nach Lüneburg verlegt. An die Mutter erging eine Woche später die Mitteilung: »Ich teile Ihnen mit, dass Ihr Kind Eckart Willumeit am 9. Oktober aus der Rotenburger Anstalt hier überführt worden ist.« Die in Lüneburg gemachten Eintragungen in seiner Krankenakte und der Verlauf seines Aufenthaltes deuten darauf hin, dass Eckart mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aufgrund von »Bildungsunfähigkeit« mit dem Medikament Luminal ermordet wurde. Eckart starb am 18. Februar 1942 im Alter von 13 Jahren.

Am Todestag wurde die Mutter per Telegramm über den Tod informiert: »Sohn Eckart entschlafen. Beerdigung Sonnabend, 14.30 Uhr angesetzt. Heilanstalt.« Er sollte am 21. März bestattet werden. Doch die Mutter setzte eine Überführung von Eckart nach Celle durch. In der Bescheinigung für die Überführung heißt es: »[…] starb in hiesiger Anstalt der Knabe Eckart-Adolf Willumeit aus Celle an katarrh. Lungenentzündung bei Mongoloider Idiotie und bdrs. Hilusdrüsentuberkulose. […] Der Tod ist nicht durch Gewalteinwirkung eingetreten.«

Eckart Willumeit im Alter von 10 Jahren, Aufnahmefoto der Anstalten der Inneren Mission Rotenburg August 1938.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 424.

Fritzchen Wehde

Fritz (gerufen Fritzchen) Wehde wurde am 11. November 1939 in ein liebevolles und fürsorgliches Umfeld hineingeboren. Er lebte mit seinen zwei jüngeren Geschwistern und den Eltern in Horst bei Hannover. Sein Urgroßvater Heinrich hatte das Haus erbaut, zeitgleich und neben das Haus seines Zwillingsbruders Ludwig. Die »Zwillingshäuser« stehen noch heute und werden von Fritzchens Neffen und seiner Cousine bewohnt.

Fritzchen war das gemeinsame Kind von Fritz und Else Wehde. Als erstgeborener Sohn bekam er den Vornamen seines Großvaters, Onkels und Vaters. Fritzchens Vater war gelernter Maurer und machte später, nachdem er die Meisterprüfung abgelegt hatte, in Horst ein Baugeschäft auf. Die Wehdes fühlten sich politisch der SPD zugehörig, auch als diese 1933 verboten wurde. Sie blieben auch nach der Machtergreifung »gegen die Nazis eingestellt«.

Die Familie war eng miteinander und vor allem zu seiner Tante Wilma habe Fritzchen eine enge Bindung gehabt: »Tante Wilma kommt heute nach Horst. Kaum hatte Fritzchens Mutter diesen Satz ausgesprochen, ist Fritzchen losgeflitzt, durch das Haus gerannt, über die Diele nach draußen, zum Gartenzaun – zu seiner Lieblingsstelle, denn von dort hatte Fritzchen die ganze Straße im Blick. Und dann hat Fritzchen gewartet. Durch nichts und niemanden war Fritzchen dazu zu bewegen, wieder ins Haus zu gehen«.

Bei Fritzchens Geburt war es zu Komplikationen gekommen. Ein Sauerstoffmangel führte zu einer frühkindlichen Hirnschädigung mit geistiger Behinderung. Bis auf wenige Einschränkungen verlebte Fritzchen dennoch eine normale Kindheit, wurde von seiner Familie liebevoll versorgt. Da er in der Familie und in seinem Heimatort gut integriert war, wurde das Gesundheitsamt erst spät auf ihn aufmerksam. Im Juli 1944 wurde er von der Amtsärztin Meyer an den »Reichsausschuss« gemeldet und damit die Behandlung in einer »Kinderfachabteilung« eingeleitet.

Sechs Wochen später wurde der Junge gegen den Willen der Eltern abgeholt und mit polizeilicher Verfügung in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg zwangseingewiesen. Fritzchen litt sehr unter der Trennung von seiner Familie, er bekam Wutausbrüche und verletzte sich selbst, zerstörte die wenigen Habseligkeiten, die er besaß. Da er wohl auch viel weinte und schrie, wurde er zunächst mit Luminal ruhig gestellt – »3 + 1 Tabletten« sind in der Krankengeschichte notiert.

Ab Mitte November verschlechterte sich Fritzchens allgemeine Verfassung rapide, wohl nicht nur aufgrund der Medikamenteneinnahme, sondern auch aufgrund der Mangelversorgung. Weil Krieg war, erhielten Fritzchens Eltern nur ein einziges Mal eine Besuchserlaubnis. Sie mussten sich daher brieflich nach seinem Gesundheitszustand erkundigen. Der Ärztliche Direktor Bräuner beantwortete ihre Erkundigungen: »Geistig ist er bisher nicht weiter gekommen […] Im November hat der Junge eine zeitlang Durchfall gehabt […] und seit dem besteht die Neigung zu einem Mastdarm. […] der Kräftezustand hat sich verschlechtert.«

Zwei Wochen später wurde Fritzchen Wehde entweder durch eine Überdosis Luminal ermordet oder er verhungerte, beides ist möglich. Seine offizielle Todesursache lautete »Dickdarmkatarrh«. Zur Beruhigung der Eltern behauptete Bräuner zudem, eine geistige Weiterentwicklung sei bei Fritzchen ausgeschlossen gewesen, weil die Hirnschäden infolge einer Hirnhautentzündung zu groß gewesen seien. Diese Information machte die Familie stutzig, denn Fritzchen war nie an einer Hirnhautentzündung erkrankt. Daher bestand früh der Verdacht, bei Fritzchens Tod sei nachgeholfen worden.

Fritzchens Leichnam wurde auf dem damaligen Anstaltsfriedhof beerdigt, sein Grab trug die Grabnummer 242a. Fritzchens Familie bemühte sich verzweifelt an der Beisetzung teilzunehmen. Sie erhielt jedoch keine Fahrerlaubnis.

Die »Zwillingshäuser« in Horst, in einem der Häuser ist Fritzchen Wehde aufgewachsen.

Privatbesitz Uta Wehde.

Fritzchen Wehde und seine Tante Wilma vor einem der beiden »Zwillingshäuser«, ca. 1940. Heute lebt Fritzchens Neffe in
diesem Haus.

Privatbesitz Uta Wehde.

Fritzchen Wehde mit seiner Großmutter Minna, ca. 1941/1942.

Privatbesitz Uta Wehde.

Hans-Herbert Niehoff

Hans-Herbert Niehoff wurde acht Jahre alt. Er wurde am 30. Oktober 1933 in Hannover geboren. Seine Eltern waren der Drogist Hans-Hermann Niehoff und seine Frau Marie Niehoff, geborene Appel. Bereits im Alter von sieben Monaten gaben seine Eltern ihn in ein Kinderheim in Hannover-Mecklenheide. Am 30. November 1934 kam Hans-Herbert aufgrund einer schweren Lungentuberkulose in die Heilanstalt Heidehaus Hannover. Als er nicht einmal zwei Jahre alt war, verstarb dort auch seine Mutter Marie an Tbc. Es ist anzunehmen, dass Mutter und Kind in der Zeit ihres gemeinsamen Aufenthaltes miteinander Kontakt hatten.

Nach dem Tod der Mutter dauerte es noch zwei weitere Jahre, bis das Heidehaus eine Unterbringung von Hans-Herbert in der Landes- Heil- und Pflegeanstalt Hannover-Langenhagen empfahl. Am 19. April 1937 erfolgte seine Einweisung in die Anstalt, zunächst nur zur Beobachtung. Sein Vater war zwischenzeitlich nach Algermissen in den Landkreis Hildesheim gezogen. In der Anstalt Hannover-Langenhagen angekommen, wurde Hans-Herbert als »stumpf« und »blödsinnig« bezeichnet. Seine Diagnose lautete »angeborener Schwachsinn«. Damit war sein weiterer Lebensweg entschieden.

Am 31. Mai 1937 wechselte Hans-Herbert auf die Kinderstation und blieb dort bis zu seiner Verlegung in die Anstalten der Inneren Mission Rotenburg im Jahr 1938. Der letzte Eintrag vor seiner Verlegung nach Rotenburg lautete: »Zuweilen erhöhte Temperatur. Springt gern umher. Macht sonst keine Fortschritte. Tiefstehender Junge, trotzdem er ganz niedlich aussieht.«

In Rotenburg wurde Hans-Herbert einfach nur verwahrt. Erst über ein halbes Jahr nach seiner Ankunft erfolgte der erste Eintrag. Bis zu seiner Verlegung in die »Kinderfachabteilung« Lüneburg folgten nur noch zwei weitere Einträge, der letzte folgenschwer: »Kommt geistig nicht weiter, spielt nicht geordnet, läuft meist planlos umher. Bildungsunfähig.« Weil die Mutter verstorben und der Vater inzwischen als Sanitäter an der Front war, ging die Mitteilung über die Verlegung in die »Kinderfachabteilung« direkt an die Großmutter.

Hans-Herbert Niehoff hatte fast sein gesamtes Leben in einem Heim bzw. in einer Anstalt verbracht, als er am 30. März 1942 im Alter von acht Jahren in Lüneburg starb. Die wenigen Eintragungen in der Krankenakte von Hans-Herbert aus seiner Lüneburger Zeit deuten darauf hin, dass er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ermordet wurde. In der Akte finden sich widersprüchliche Angaben zur Todesursache und zum Todeszeitpunkt.

Hans-Herberts Großmutter Marta, die aufgrund des Fronteinsatzes des Vaters die Vormundschaft besaß, wurde per Post über den Tod ihres Enkels informiert. Es ist unwahrscheinlich, dass sie oder ein anderes Familienmitglied an der Beerdigung teilnahmen. Es gibt keine Hinweise darauf, dass sich die Familie in irgendeiner Weise für ihren Jungen interessiert hatte. In den sieben Jahren, in denen Hans-Herbert in verschiedenen Einrichtungen gelebt hatte, erkundigten sich Vater und Großmutter kein einziges Mal nach ihm. Erst mit dem Tod von Hans-Herbert fragte der Vater nach der Krankheitsgeschichte. Die Großmutter interessierte nur ein Schaukelpferd, das auf seinen Stationen durch verschiedene Heime und Anstalten wohl verloren gegangen war.

Hans-Herbert Niehoff im Alter von viereinhalb Jahren, Aufnahme-Foto der Anstalten der Inneren Mission Rotenburg März 1938.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 334.

Helmut Quast

Helmut Quast wurde am 22. Januar 1930 in Neuenfelde-Nincop im Kreis Jork im Alten Land geboren. Über seine Eltern ist wenig bekannt. Der Vater Jonny Quast war Landwirt, später Frontsoldat und fiel im Krieg. Die Mutter Emma Matilde Quast war nach gescheiterter erster Ehe mit Helmut Quasts Vater neu verheiratet und brachte noch zwei Kinder zur Welt. Helmut lebte bei seiner Mutter auf dem Kleenlof-Hof. Nach der Wiederheirat zogen sie nach Estebrügge und von dort 1936 nach Borstel im Kreis Stade.

Die Einweisung von Helmut Quast in eine Anstalt erfolgte auf Veranlassung des Amtsarztes des Gesundheitsamtes des Kreises Stade. Der Amtsarzt stellte bei einer Untersuchung von Helmut fest, dass er »blöde« sei und auf einer Hilfsschule besser aufgehoben wäre, dort zumindest Fertigkeiten für das spätere Leben erlernen könnte. Auch seine Klassenlehrerin befürwortete den Schulwechsel.

Der Amtsarzt beauftragte das Kreiswohlfahrtsamt damit, Helmut in den Rotenburger Anstalten der Inneren Mission unterzubringen, die über die geforderte Hilfsschule verfügten. Er begründete seine Entscheidung, Helmut sei »infolge seiner Unberechenbarkeit und seines heimtückischen Wesens für die anderen Kinder und für sich selbst eine Gefahr«. Er kam daraufhin am 14. Januar 1938 in den Rotenburger Anstalten an und besuchte fortan die Unterstufe der Anstaltsschule.

Obwohl Helmut ein eher unauffälliger »Patient« war, wurde von ärztlicher Seite an der Ausgangsbeurteilung festgehalten und galt weiterhin als »persönlichkeitsgestört«. Die Lehrer der Hilfsschule beurteilten Helmut differenzierter als die Ärzte. Im Beurteilungsbogen heißt es: »Hier unter Aufsicht merkt man wenig von den gefährlichen Anlagen, die in der Akte verzeichnet sind«.

Erst 1939 ist notiert, seine »Rohheiten« würden sich wieder mehr zeigen. Dies stand in engem Zusammenhang mit der Wiederheirat seines Vaters und mit dem Verwehren eines Urlaubes bei seiner Mutter. Solche sozialen Faktoren wurden bei der Bewertung von Helmuts Verhalten aber nicht berücksichtigt. Kurz vor seiner Verlegung nach Lüneburg wurde eingetragen: »Ziemlich schwieriger
Junge, der stets zur Arbeit angehalten werden muß«. In Lüneburg findet sich erst zwei Monate nach seiner Ankunft der erste Eintrag in seiner Patientenakte: »Keine Entwicklung, […] stumpfer, antriebsloser Junge, meist abgelenkt und einfältig und brutal anderen Jungen gegenüber. Muss zu allem angehalten werden, hilft ab und an mit […].«

Im Alter von zwölf Jahren starb Helmut am 1. März 1942 in der »Kinderfachabteilung«. Als Todesursache wurde »krupöse Lungenentzündung« angegeben. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wurde Helmut mit dem Medikament Luminal getötet. Wie andere Kinder wurde Helmuts Leichnam seziert. Helmut sollte drei Tage nach seinem Tod auf dem Anstaltsfriedhof, dem heutigen Friedhof Nordwest, beerdigt werden. Im Verzeichnis der Kindergräber im Begräbnisbuch 1922 – 1948 der Stadt Lüneburg findet sich jedoch kein Eintrag. Bis heute ist unbekannt, wo Helmut Quasts Leichnam bestattet wurde.

Herta Ley

Herta Ley wurde am 9. Oktober 1930 in Westrhauderfehn, Kreis Leer, geboren. Sie erkrankte mit zwei oder drei Jahren an einer Hirnhautentzündung. Ihr Vater Wessel Ley war Arbeiter und Landwirt. Über die Mutter Gesine Ley ist wenig dokumentiert. Sie arbeitete in der Landwirtschaft mit und hielt ab 1939 den Hof. Herta hatte eine zwei Jahre jüngere Schwester Ilse.

Herta Ley wurde im Alter von fast fünf Jahren in die Rotenburger Anstalten der Inneren Mission aufgenommen. Die Einweisung wurde durch den Kreisarzt veranlasst, der bei einer gelegentlichen Untersuchung einen »angeborenen Schwachsinn schwersten Grades« feststellte. Bei der Aufnahme gaben die Eltern an, Herta könne ein paar Worte sprechen, gehen, sitzen und stehen, jedoch wurden diese Angaben bezweifelt und die Diagnose »Idiotie« gestellt, . Auch fehlen in den Arztberichten Zuschreibungen wie »unsauber«, »kann nicht alleine essen« etc., sodass angenommen werden kann, dass Herta bei ihrer Aufnahme tatsächlich in einem gewissen Maße selbstständig war.

Herta wurde zu Weihnachten beurlaubt und hin und wieder von ihrer Mutter besucht. Herta nahm in der Rotenburger Anstalt jedoch eine schlechte Entwicklung. Sie verlernte das Laufen, Sprechen und verlor ihre Selbständigkeit. Offenbar wurde sie nicht gefördert und stattdessen vernachlässigt. Kurz vor ihrer Verlegung nach Lüneburg 1941 heißt es abschließend »Ganz tiefstehendes Mädchen, das sich selbst schlägt und beißt.« Zwei Monate später schrieb der Lüneburger Arzt Willi Baumert über Herta: »Völlig tiefstehend und offenkundig bildungsunfähig«.

Im November 1941 wurde an die Eltern ein Schreiben geschickt, das sie darüber in Kenntnis setzte, dass ihre Tochter hochfieberhaft an einem Bronchialkatarrh erkrankt sei. In der Akte ist hierzu nichts vermerkt. Vermutlich war Herta gar nicht erkrankt, sondern wurden ihre Eltern versehentlich angeschrieben.

Laut Akte erkrankte Herta erst Ende Januar / Anfang Februar 1942 fieberhaft. Sie starb am 3. Februar 1942 im Alter von elf Jahren. Die in der Todesanzeige angegebene offizielle Todesursache lautete »doppelseitige Lungentuberkulose«, obwohl sich hierzu kein einziger Eintrag in ihrer Krankenakte findet. Hierbei bezog sich Willi Baumert auf vermeintliche Tuberkulose-Vorerkrankungen von Herta. Doch diese hatte es nie gegeben. Das geht aus zwei Arztberichten hervor, die 1936 und 1940 erstellt wurden. Zweimal war Herta Ley mit Verdacht auf Lungen-Tbc untersucht worden, beide Untersuchungen waren jedoch ohne Befund. Bei der Untersuchung 1940 wurde sogar festgestellt: »Der Durchleuchtungsbefund liess nichts für eine Tbc. erkennen, jedoch einen Herzfehler vermuten, möglicherweise einen angeborenen. […] Lungenfelder einwandfrei«.

An den Vater, der zur gleichen Zeit im Lager Löningen seinen Heimatschutzdienst leistete, gingen noch am Todestag ein Telegramm und ein ausführliches Schreiben. Darin hieß es: »Wie ich Ihnen bereits telegraphisch mitteilte ist Ihre Tochter Herta Ley heute Vormittag 3,30 Uhr sanft entschlafen.« Sie wurde drei Tage später auf dem Anstaltsfriedhof, dem heutigen Friedhof Nord-West, bestattet.

Im Strafprozess wegen Mordes gegen Dr. Max Bräuner, Dr. Willi Baumert und die Pflegerin der Mädchenstation Dora Vollbrecht 1962 – 1966 wurde Hertas Krankenakte am 12. Juni 1963 als Beweisstück angeführt. In ihrer Befragung konnte Dora Vollbrecht die Tötung vieler namentlich benannter Kinder jedoch nicht mehr erinnern. 1966 wurde Dora Vollbrecht außer Verfolgung gesetzt, 1980 das Strafverfahren gegen sie wegen Verfahrensunfähigkeit endgültig eingestellt.

Nach dem Tod von Herta bekam ihre Mutter Gesine noch zwei Mädchen, Wilma und Hanne. Weil Hanne am gleichen Tag geboren wurde wie Herta, sollte sie erst den Namen Herta tragen. Erna, die Schwester von Gesine, verhinderte dies. Sie hatte sich um Herta gekümmert, bevor diese in die Anstalt aufgenommen wurde und erzählte später von ihr. Ihre Schwester Hanne trug zur Aufarbeitung von Hertas Schicksal bei.

Herta Ley, ca. Frühjahr 1932.

Privatbesitz Familie Herlyn und Hamel.

Wilma und Ilse Ley, Franz Hamel, Hanne, Gesine und Wessel Ley (von links nach rechts), September 1956.

Privatbesitz Familie Herlyn und Hamel.

Marianne Begemann

Marianne Begemann wurde am 3. Dezember 1929 in Esens, Kreis Wittmund in Ostfriesland, geboren. Ihr Vater war ursprünglich Domänen-Bauer, arbeitete aber ab 1928 als Arbeiter in einer Molkerei, weil nicht ihm, sondern dem jüngeren Bruder die Domäne übertragen wurde. Die Mutter litt selbst unter einer psychischen Erkrankung und war ab 1934/35 Patientin in verschiedenen Heil- und Pflegeanstalten. Marianne kam als viertes Kind zur Welt und hatte drei Brüder.

Marianne kam bereits im Alter von zwei Jahren in das Kinderheim Wittmund. Sie lernte zwar laufen, sprach aber nicht und benötigte Hilfe beim Essen und Trinken. Bei einer amtsärztlichen Besichtigung des Kinderheimes am 14. Juli 1940 fiel die dann schon elfjährige Marianne auf. Mit der Begründung, dass »die Hausmutter, […] fast gänzlich dadurch in Anspruch genommen wird und für die Betreuung der übrigen Kinder keine genügende Zeit mehr übrig behält« und aufgrund der bevorstehenden Geschlechtsreife, beantragte der Amtsarzt des Gesundheitsamtes Kreis Wittmund pflichtbewusst die Unterbringung von Marianne in den Anstalten der Inneren Mission Rotenburg. Die Mutter lehnte die Unterbringung ab und bemühte sich um eine häusliche Pflege ihres Kindes. Der Vater hingegen erklärte sich mit der Anstalt einverstanden. Der Amtsarzt folgte dem Vater, sodass Marianne im November in den Anstalten der Inneren Mission Rotenburg aufgenommen wurde.

Am 4. Januar 1941 notierte der Rotenburger Ärztliche Direktor Magunna den ersten Eintrag in ihrer Akte: »Sie macht einen völlig blöden Eindruck, zeigt keinerlei Anteilnahme an ihrer Umgebung; […]«. 1941 werden über Marianne nur 14 Worte verloren. Des Weiteren findet sich ein Stempel »Am 9.10.41 verlegt nach Lüneburg«.

Marianne erkrankt – wie die meisten ihrer Rotenburger Mitpatient*innen – wenige Wochen nach ihrer Ankunft in der Lüneburger »Kinderfachabteilung«. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wurde Marianne mit dem Medikament Luminal getötet. Der Vater wurde erst eine geraume Zeit nach Ausbruch der Krankheit, am 17. Dezember 1941, über den bedenklichen Gesundheitszustand seiner Tochter informiert. Der Wortlaut ist identisch mit Briefen, die an andere Eltern versandt wurden: »Ihr Kind [Vorname des Kindes] ist seit einigen Tagen hochfieberhaft erkrankt. Bei ihrer allgemeinen Hinfälligkeit ist der Zustand nicht unbedenklich.«

Am 20. Dezember 1941 stirbt Marianne im Alter von zwölf Jahren. Als Todesursache wird »doppelseitige Lungentuberkulose« angegeben. Marianne Begemann wurde kurz danach auf dem Anstaltsfriedhof, dem heutigen Friedhof Nord-West, bestattet. Man machte sich kaum Mühe bei der Dokumentation ihres Grabes. Im Gräberverzeichnis taucht sie als »Marianne Begmann« auf. Auch bei der Sektion nahm man es nicht so genau: Im Sektionsprotokoll wird sie als »Marianne Bergmann« bezeichnet. Nur ein Abgleich der Lebensdaten führt zur Gewissheit, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt, das Kind Marianne Begemann.

Familienangehörige von Marianne Begemann, vor 1914, Domäne Carolinensiel. Großmutter Anna-Henriette, Vater Wilhelm, Onkel Karl-Hilmer, unbekannt (von links nach rechts).

Privatbesitz Karl-Heinz Begemann.

Yvonne Mennen

Yvonne Mennen wurde am 6. Dezember 1938 in den Niederlanden geboren. Sie war gemeinsam mit ihrer Mutter Ida, einer geborenen Flämin aus Belgien, und zwei Geschwistern aus den Niederlanden geflohen. Zunächst kamen sie in Bienenbüttel in ein Flüchtlingslager der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), wurden dann aber wegen Unsauberkeit, Streitlust und angeblicher Geisteskrankheit in einer Armenunterkunft bei Familie Werner, Hausnummer 95, untergebracht. Schließlich wies man der Familie nur den Stall zu. Währenddessen war der Vater, Kanonier Hinderk Mennen, nach jahrelanger Staatenlosigkeit als Soldat im Kriegseinsatz und hatte hierdurch die deutsche Staatsbürgerschaft erlangt.

Ida Mennen gebar insgesamt elf Kinder, von denen fünf verstorben und drei in einem Kinderheim untergebracht gewesen sein sollen. Die zweieinhalbjährige Schwester und der achtjährige Bruder von Yvonne Mennen, die gemeinsam mit der Mutter aus den Niederlanden geflüchtet waren, seien dann wegen Krätze im Hilfskrankenhaus in Uelzen untergebracht worden und sollten nach ihrer Genesung in ein NSV-Kinderheim kommen, so gab eine niederländische NSV-Helferin bei der ärztlichen Begutachtung Auskunft.

Die Mutter habe ihre Kinder geschlagen und sie stundenlang halbnackt im kalten Raum allein gelassen, auch soll sie gedroht haben mit ihren Kindern »ins Wasser« zu gehen, also sich selbst und ihnen das Leben zu nehmen. Daraufhin diagnostizierte Dr. Sinn, Arzt in einer Privatklinik in der Bahnhofstraße 6 in Bad Bevensen, bei dem eine Elisabeth Wolter aus Bienenbüttel zuvor Meldung über die Familie Mennen gemacht hatte, dass bei der Mutter eine Psychopathie (Persönlichkeitsstörung) und bei Yvonne »schwere Debilität (Kind braucht dauernd Aufsicht)« vorliege.

Doktor Sinn wies beide in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg ein. Am 25. Oktober 1944 erfolgte die Aufnahme. Bereits vier Wochen später, am 26. November 1944, starb Yvonne Mennen im Alter von fast sechs Jahren. Die offizielle Todesursache lautete »Dickdarmkatarrh«. Sie wurde auf dem Kindergräberfeld bestattet. Ihre Mutter wurde am 2. März 1945 »gebessert entlassen«.

Rotenburger Anstalten der Inneren Mission

Die Rotenburger Anstalten der Inneren Mission (Rechtsnachfolger sind heute die »Rotenburger Werke«) waren und sind noch heute eine Einrichtung für Menschen mit Behinderungen in kirchlicher Trägerschaft. Das 1880 eingerichtete »Asyl für die Pflege Epileptischer« gehörte zu den größten Heil- und Pflegeeinrichtungen der Provinz Hannover.

Zwischen 1940 und 1941 sind unter der Leitung des Pastors Johannes Buhrfeind sowie des leitenden Arztes Dr. Kurt Magunna nach derzeitigem Forschungsstand mindestens 562 Patient*innen Opfer der »Aktion T4« geworden. Darüber hinaus beteiligten sich die Anstalten der Inneren Mission (bis 9. Januar 1940 unter ärztlicher Leitung von Dr. Wening) zwischen 1934 und 1942 umfangreich an der Zwangssterilisation. Nachweislich wurden mindestens 335 Bewohner*innen gegen ihren Willen unfruchtbar gemacht.

Ab Herbst 1941 dienten die Anstalten als Ausweichkrankenhaus, es wurde ein Reservelazarett eingerichtet. Lediglich 240 Bewohner*innen blieben, die übrigen wurden in andere Anstalten verlegt.
Hierzu gehörten auch die Kinder und Jugendlichen der »Kinderabteilung«, die aufgelöst wurde. Infolgedessen wurden am 9. und 10. Oktober 1941 138 Kinder und Jugendliche (unter ihnen acht Kinder mit Diphterie-Erkrankung) in die »Kinderfachabteilung« Lüneburg verlegt. 88 Prozent von ihnen starben, überwiegend in den Jahren 1942 und 1943. Nur neun Jungen und sieben Mädchen überlebten.

Darüber hinaus legen Krankenakten die Vermutung nahe, dass die Versorgung der Kinder und Jugendlichen in den Anstalten der Inneren Mission auch vor ihrer Verlegung im Herbst 1941, spätestens ab 1938, desolat gewesen war.

Die Rotenburger Werke der Inneren Mission arbeiteten ihre Geschichte ab 1990 auf. Hierzu gehörte nicht nur die Beschäftigung mit den Verbrechen im Nationalsozialismus, sondern auch die historisch-wissenschaftliche Aufarbeitung von Gewalt- und Zwangsmaßnahmen nach 1945 bis zum Jahr 2000.