Mariechen Petersen ist 1933 geboren. Sie ist aus Lüne-Burg. Sie ist das zweite Kind von Wilhelm und Erna Petersen. Mariechen wird »Mike« genannt. Sie hat 7 Geschwister.
Die Familie wohnt in der Rote-Hahn-Straße. Sie sind Nachbarn von Inge Roxin. Inge und Mike sind beide Opfer des Kinder-Mordes.
Der Vater von Mike ist Soldat im Zweiten Welt-Krieg. Er stirbt 1941. Die Mutter von Mike muss sich ab dann alleine kümmern. Um alle 8 Kinder.
Im Jahr 1942 findet eine Feier der National-Sozialisten statt. Die Mutter von Mike will nicht hin-gehen. Ihr sind die National-Sozialisten egal. Darum wird sie verhaftet. Sie kommt in ein Gefängnis.
Sie kann sich nicht mehr um ihre 8 Kinder kümmern. Es kommt jemand vom Sozial-Amt. Die kleinen Geschwister von Mike kommen zur Groß-Mutter. Die älteren Geschwister von Mike kommen in ein Kinder-Heim. Mike kommt in das Lüne-Burger Kinder-Kranken-Haus. Die Sozial-Arbeiterin sagt: Mike hat eine Behinderung. Mike hat das Down-Syndrom. Sie muss in die »Kinder-Fach-Abteilung«.
Dort entscheidet der Arzt: Mike ist dumm. Sie soll sterben. Vorher werden Medikamente an ihr aus-probiert. Die Medikamente sind nicht erlaubt. Keiner weiß, wie sie wirken. Das will man an Mike testen.
Mikes Mutter kommt aus dem Gefängnis. Sie besucht Mike. Sie bringt ihr etwas zu Essen. Sie will Schuhe und ein Kleid für Mike kaufen. Nur in der Zeit bekommt Mike keine Test-Medikamente. Deshalb geht es ihr wieder gut.
Dann braucht man Mike nicht mehr für den Test von Medikamenten. Man gibt ihr zu viel von einem anderen Medikament. Daran stirbt sie. Sie wird ermordet. Das ist im Jahr 1943.
Im Jahr 2019 bekommt Mike einen Stolper-Stein. Er ist in der Rote-Hahn-Straße 4.
Heinz Knorr ist im Jahr 1932 in Artlenburg geboren. Das ist ein Dorf nicht weit weg von Lüneburg. Heinz Vater heißt Heinrich. Die Mutter heißt Frieda. Sie haben einen großen Bauern-Hof.
Heinz hat eine ältere Schwester. Das ist Thea. Und einen jüngeren Bruder. Sein Name ist Günther.
Heinz hat eine geistige Behinderung. Er kann kaum sprechen. Er geht nie zur Schule. Heinz ist immer auf dem Bauern-Hof.
Im April 1945 ist Heinz 13 Jahre alt. Der Krieg ist fast zu Ende. Aber es wird noch gekämpft. Darum soll die Familie von Heinz weg von ihrem Bauern-Hof.
Heinz versteht das nicht. Und er hat Angst. Darum läuft er weg.
Die Polizei findet Heinz. Heinz weiß aber nur seinen Vornamen. Er weiß nicht wo er wohnt. Die Polizei bringt ihn in die Anstalt nach Lüneburg. Das ist ein besonderes Kranken-Haus. Keiner weiß: Das ist Heinz Knorr aus Artlenburg.
Seine Familie sucht ihn überall. Aber sie findet ihn nicht. Die Mutter fragt auch bei der Polizei. Und in der Lüneburger Anstalt. Aber die sagen immer Nein.
Heinz bleibt in der Anstalt. Die Ärzte schreiben über ihn: Heinz ist dumm. Er kann ganz schlecht sprechen.
In der Anstalt geht es Heinz schlecht. Er bekommt nichts zu essen. Er wird immer dünner und schwächer. Die Ärzte helfen ihm nicht. Am 2. November 1945 stirbt Heinz. Er ist verhungert. Er ist ein Opfer der De-Zentralen Euthanasie.
In der Anstalt gibt es einen Gärtner-Lehrling. Der kommt auch aus Artlenburg. Er hat von Heinz gehört. Er sagte: Das ist vielleicht Heinz Knorr.
Die Ärzte machen ein Foto von Heinz. Da ist er schon tot. Heinz wird am 6. November 1945 begraben.
Seine Familie weiß das nicht. Heinz wird ohne sie beerdigt.
Danach zeigt die Polizei den Eltern das Foto von Heinz. Die Eltern sind traurig. Jetzt wissen sie wo Heinz die ganze Zeit war. Sie wissen nun: Heinz ist tot. Aber nicht warum.
Dann bekommen die Eltern noch eine Rechnung. Von der Anstalt. Die Eltern sollen viel Geld bezahlen. Für die Pflege in der Anstalt. Eigentlich für den Mord. Aber das wissen die Eltern nicht. Und sie bezahlen die Rechnung.
Die Eltern erzählen den Geschwistern Thea und Günther nicht viel. Nur dass Heinz weg-gelaufen ist. Und dass er tot ist.
Thea will später mehr wissen. Aber sie findet nichts heraus und stirbt.
Dann forscht ein Mann aus Artlenburg noch mal nach. Er fragt auch eine Wissenschaftlerin von der Gedenk-Stätte. Die findet dann alles über Heinz heraus. Und sie schreibt alles auf. So wird Heinz nicht vergessen.
Martha Ossmer ist am 22. Mai 1924 geboren. Sie lebt in Bremen. Ihre Eltern sind Christian und Bertha. Sie hat zwei Schwestern. Sie heißen Elfriede und Käthe.
Die Geburt von Martha ist schwer. Sie muss mit einer Zange geholt werden. Dabei passiert ein Unfall. Darum hat Martha eine Behinderung.
Martha kann nicht sprechen. Sie kann keine Treppen gehen. Sie braucht viel Hilfe. Die Schwestern helfen ihr.
Die Familie von Martha hilft gerne. Sie halten zusammen. Martha geht nicht zur Schule. Martha ist immer bei ihrer Familie. Sie ist über-all dabei. Es ist Krieg. Viele Bomben fallen auf Bremen. Martha muss in einen Keller. Dort ist sie sicher. Da ist Martha 20 Jahre alt. Marthas Mutter sagt: Ich kann Martha nicht mehr helfen. Ich kann sie nicht in den Keller tragen. Ich habe keine Kraft.
Ein Arzt sagt: Martha muss in ein besonderes Kranken-Haus. Da ist sie sicher. Da hilft man ihr. Das Kranken-Haus in Bremen ist voll. Martha muss nach Lüneburg. Dort hat das besondere Kranken-Haus ein Bett frei.
In Lüneburg bekommt Martha Besuch. Es ist ihr Vater Christian. Er bringt Kuchen mit. Martha isst den ganz Kuchen alleine auf. Sie hat Hunger. Sie bekommt sehr wenig zu essen. Und sie bekommt Medikamente. Die Medikamente helfen ihr nicht. Sie wird damit vergiftet.
Sie stirbt am 18. April 1945. An dem Tag hört der Krieg in Lüneburg auf.
Das ist ein Foto von Martha Ossmer. Sie sitzt auf dem Schoss von ihrem Vater. Das ist im Jahr 1928. Martha ist etwa vier Jahre alt.
Das ist ein Foto von Elfriede und Käthe. Sie stehen im Wohn-Zimmer. Es ist Weihnachten. Das ist im Jahr 1933.
Das ist ein Foto vom Grab von Martha. Das Grab ist auf einem Fried-Hof in Lüneburg. Es hat ein Holz-Kreuz. Darauf steht ihr Name und eine Nummer.
Jürgen Endewardt wurde am 25. Februar 1941 als drittes von vier Kindern in Lüneburg in der Bülow-Straße, heute Georg-Böhm-Straße 4, geboren. Da Jürgen weder sitzen noch laufen oder sprechen lernte, war seine Mutter Elli Endewardt um die Entwicklung ihres Kindes besorgt. Sie stellte ihn unter anderem im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf vor. Dort erhielt er die Diagnose Hydrocephalus (Wasserkopf). Im Lüneburger Kinderhospital in der Barckhausenstraße 6 sollte daraufhin eine Behandlung versucht werden. Dieser Versuch unterblieb, stattdessen wurde Jürgen am 17. November 1942 in die »Kinderfachabteilung« der Heil-und Pflegeanstalt Lüneburg verlegt.
Als seine Mutter eine Woche später ihr Kind besuchen wollte, musste sie sich bei den Pflegekräften den Zugang zu Jürgen erzwingen. Dabei entdeckte sie die mangelnde Versorgung und den schlechten Zustand ihres Sohnes. Am 5. und 6. Dezember 1942 fanden daraufhin zwei Gespräche mit dem Ärztlichen Direktor Max Bräuner statt. Angehörige berichten, Elli Endewardt habe ihren Sohn aus der »Kinderfachabteilung« herausholen wollen. Ob das stimmt, ist ungewiss. Denn am Tag nach dem zweiten Gespräch, am 7. Dezember 1942 starb Jürgen Endewardt. Die offizielle Todesursache lautete »Magen-Darm-Katarrh«. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wurde er jedoch mit einem Medikament ermordet.
Auf Wunsch der Mutter wurde Jürgen nicht auf dem Anstaltsfriedhof, sondern auf dem Lüneburger Zentralfriedhof beerdigt. Hierdurch konnte die Mutter vor dem Vater, der einen höheren Rang bei der SS bekleidete, verbergen, dass Jürgen Anstaltspatient gewesen war.
Nach Jürgens Tod folgten für die Familie weitere Schicksalsschläge. Jürgens Vater wurde 1943 als Soldat schwer verletzt, 1946 wurde Jürgens älteste Schwester Ute von einem Panzer überfahren und Jürgens jüngster Bruder Udo starb drei Monate nach seiner Geburt infolge eines angeborenen Herzklappenfehlers.
2019 wurde in der heutigen Georg-Böhm-Straße in Erinnerung an Jürgen Endewardt ein Stolperstein verlegt.
Ute und Dieter Endewardt, ca. Sommer 1942.
Privatbesitz Barbara Burmester.
Dieter, Jürgen, Elli und Ute Endewardt, ca. Sommer 1942.
Inge Roxin wurde als jüngstes von insgesamt sechs Kindern am 22. August 1939 in Lüneburg geboren. Ihre Eltern, Anna und Eugen Roxin, zogen nach Inges Geburt in eine Wohnung in die Rotehahnstraße 4, ein Haus, das sie fortan mit der Familie Petersen teilten. Mariechen Petersen, Inges Nachbarin, wurde ebenfalls Patientin in der »Kinderfachabteilung« der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg. Sie traf das gleiche Schicksal.
Inges Vater Eugen Roxin arbeitete als Schwimmlehrer und LKW-Fahrer. Seine Frau Anna war Köchin. Sie war sehr pflichtbewusst und folgte deshalb der Meldepflicht für Kinder mit Behinderungen, die vier Tage vor Inges Geburt eingeführt worden war. Der Lüneburger Amtsarzt, dem Inge vorgestellt wurde, diagnostizierte »Idiotie« und empfahl ihre Aufnahme in die »Kinderfachabteilung«.
Schon wenige Tage nach der Aufnahme erkrankte Inge an Fieber und Durchfall. Es wurde eine Therapie mit einem nicht zugelassenen Medikament veranlasst. Es ist unklar, ob diese Arznei eingesetzt wurde, um damit tatsächlich eine Besserung des Gesundheitszustandes zu erreichen, oder ob die Behandlung auch Forschungszwecken diente. Ihre Mutter und die vier Jahre ältere Schwester Käthe besuchten Inge regelmäßig. Die Besuche von Käthe sind durch zwei Fotos dokumentiert, die von einer Pflegerin kurz vor Inges Ermordung angefertigt worden waren.
Am 20. Oktober 1943 starb Inge Roxin. Als offizielle Todesursache wurde eine »eitrige Bronchitis« angegeben, mit hoher Wahrscheinlichkeit jedoch erlag sie einer Überdosis an Medikamenten. Die Dreieinhalbjährige wurde auf Wunsch der Eltern auf dem Zentralfriedhof Lüneburg beigesetzt.
2019 wurde für Inge Roxin in der Rotehahnstraße 4 ein Stolperstein verlegt.
Inge Roxin im Kinderwagen, Auf dem Schmaarkamp 3.
Privatbesitz Sigrid Roxin.
Der Schnappschuss zeigt Inge auf dem Schoß ihrer älteren Schwester Käthe. Sie erhielt es zur Erinnerung an ihre kleine Schwester. Sommer 1943.
Die Einrichtung der »Kinderfachabteilung« der Provinzial- Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg fällt in die zweite Phase der »Kinder-Euthanasie«. Anfang Oktober 1941 wurde die »Kinderfachabteilung« unter ärztlicher Leitung von Dr. Willi Baumert eingerichtet. Die ersten nach Lüneburg verlegten Kinder waren 138 Kinder und Jugendliche aus den Rotenburger Anstalten der Inneren Mission. 88 Prozent von ihnen starben, überwiegend in den Jahren 1942 und 1943. Nur neun Jungen und sieben Mädchen überlebten.
Baumert »untersuchte« die über den »Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden« oder über Kinder- und Haus- wie Amtsärzte direkt eingewiesenen Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen und normenabweichendem Verhalten. Bei schlechter Prognose veranlasste er ihre Ermordung mit Medikamenten oder durch Nahrungsentzug (»Hungerkost«). Zudem gibt es Hinweise darauf, dass es auch Arzneimittelerprobungen gegeben hat.
In die Lüneburger »Kinderfachabteilung« wurden bis August 1945 mindestens 737 Kinder und Jugendliche eingewiesen. Unter ihnen befanden sich 35 Geschwisterkinder. Untergebracht war die Abteilung in drei zweigeschossigen Gebäuden. In Haus 25 waren Jungen (im Erdgeschoss) und Mädchen (im Obergeschoss) untergebracht. In Haus 23 kamen nur Jungen. 1944 wurde auch das Haus 24 mitgenutzt. Die Kinder und Jugendlichen wurden von 21 Pflegekräften beaufsichtigt. Bis 1943 war Willi Baumert nur in Teilzeit nach Lüneburg abgeordnet. Bis September 1944 übte er seine ärztliche Tätigkeit in Vollzeit aus. Nach Baumerts Wiedereinberufung in die Wehrmacht übernahm Max Bräuner die ärztliche Leitung der »Kinderfachabteilung«.
Die für schulfähig befundenen Kinder und Jugendlichen (über 100) wurden nach Lemgo in eine Einrichtung der Stiftung Eben-Ezer weiterverlegt. Rund 70 Prozent der verbliebenen Patient*innen wurden ermordet. Anschließend wurden die Leichen von Baumert bzw. Bräuner zu Forschungszwecken seziert, entnommene Gehirne gab die Anstalt an die Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf ab.
Das Einzugsgebiet der Lüneburger »Kinderfachabteilung« erstreckte sich nicht nur über Niedersachsen, sondern reichte auch bis nach Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Bremen und Bremerhaven. Nach Auflösung der »Kinderfachabteilung« Waldniel in der Nähe von Düsseldorf wurden auch diese Kinder nach Lüneburg verlegt.
Mindestens 425 Kinder und Jugendliche überlebten den Aufenthalt in der Lüneburger Anstalt nicht. Bei 61 weiteren Kindern und Jugendlichen ist unklar, ob sie überlebten. Unter den ermordeten Kindern und Jugendlichen befinden sich auch Kinder mit Romno-Hintergrund sowie Kinder und Jugendliche aus den Niederlanden und Belgien.
Über 300 Kinderleichen wurden auf dem Anstaltsfriedhof, vorwiegend auf einem »Kindergräberfeld« bestattet, vier Kindergräber sind dort heute noch erhalten. Ein Kindergrab liegt auf dem Lüneburger Zentralfriedhof.
Die letzte Aufnahme in die »Kinderfachabteilung« Lüneburg erfolgte am 13. August 1945. Nach der Suspendierung von Max Bräuner übernahm sein Nachfolger Dr. Rudolf Redepenning die Leitung. Die »Kinderfachabteilung« wurde in »Kinderabteilung« umbenannt. Die Bedingungen der Unterbringung und Versorgung änderten sich erst allmählich, sodass das Hungersterben in der ehemaligen »Kinderfachabteilung« noch bis in den Herbst 1945 andauerte.