Ingeborg Wahle

Ingeborg Wahle wurde am 13. Juni 1939 in Göttingen geboren. Sie war das zweite Kind von Elfriede, geborene Fendt, und Willi Wahle. Zwei Jahre später wurde ihre Schwester Renate geboren. Ingeborg hatte einen schweren Start ins Leben, da sie eine Zangengeburt war. Außerdem habe eine Rhesus-Unverträglichkeit vorgelegen. Ihre Entwicklung blieb verzögert. Nach Renates Geburt zog die fünfköpfige Familie in den heutigen Tulpenweg 6. Ingeborgs Bruder Heinz hatte ein eigenes Kinderzimmer, die Schwestern teilten sich eines. Ingeborg habe die meiste Zeit auf einem ausgepolsterten Stühlchen am Küchentisch gesessen.

Als Ingeborg vier Jahre alt war, mussten ihre Eltern sie auf Initiative des Wohlfahrtsamtes im Gesundheitsamt Göttingen vorstellen. Mit einer Einweisung in die »Kinderfachabteilung« erhofften sich die Eltern zunächst eine Therapie zur Besserung. Ingeborg wurde am 4. April 1944 auf der Mädchen-Station im Obergeschoss von Haus 25 aufgenommen. Neben zahlreichen Besuchen blieben die Eltern auch durch Briefe in Kontakt mit der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg.

Die Reaktionen der Ärzte auf die Briefe der Eltern fielen pessimistisch aus. Ingeborg sei in einem schlechten Zustand, die Eltern sollten sich auf einen schlechten Verlauf vorbereiten.

Auch Ingeborgs Mutter Elfriede erkundigte sich nach ihrer Tochter, nachdem Besuche kriegsbedingt nicht mehr möglich waren. Doch das Bemühen der Eltern verhinderte nicht, dass Ingeborg ermordet wurde. Sie starb am 24. Februar 1945. Der letzte Besuch von Willi Wahle bei seiner Tochter Ingeborg erfolgte am Tag vor ihrer Ermordung. Der Besuch ist nicht dokumentiert. Ihre Schwester Renate erinnert: »Ingeborg hat einen Kopfverband getragen, über den sich Willi gewundert hat. Sie hat einen Ausschlag, hat man ihm gesagt als er nachfragte. Noch in derselben Nacht vom 23. auf den 24. kam der Marschbefehl nach Osten. Er bekam Befehl weil er Melder war. Er musste immer mit dem Motorrad zu den Kompanien fahren, um Informationen weiterzuleiten. […] Meine Mutter kriegte Bescheid und setzte sich in den Zug, da war sie schon tot und begraben. Die Mutter wollte Ingeborg nach Bethel verlegen lassen, sie wollte das unbedingt.«

Ingeborgs Geschwister Renate und Heinz wurden in ihrer Kindheit oft mit dem Tod ihrer Schwester konfrontiert. Mehrmals im Jahr fuhren sie mit dem Zug nach Lüneburg und pflegten Ingeborgs Grab. Das obligatorische Holzkreuz wurde durch einen Kissenstein ersetzt. Bei einem der Besuche, im Jahr 1946 oder 1947, sei die Familie auf dem Weg vom Bahnhof zum Marktplatz auf der Lünertorbrücke einem der damaligen Ärzte begegnet. Willi Wahle habe gesagt: »Elfriede, da kommt der Doktor.« Ingeborgs Schwester Renate habe sich daraufhin von der Mutter losgerissen, sei auf ihn zu und habe geschrien: »Mörder!«

Am Todestag ihres Ehemanns besuchte Renate das Familiengrab auf dem Friedhof in Melle, in dem neben ihrem Ehemann auch die Urnen ihrer Eltern Elfriede und Willi Wahle beigesetzt worden waren. Darauf fand sich zu Renates Überraschung nun ein kleiner Findling mit Ingeborgs Namen und ihren Lebensdaten – eine Initiative ihrer Tochter und Enkelkinder. Mit diesem Findling wurde Ingeborg symbolisch mit ihren Eltern wiedervereint. Als Erinnerungsstein trägt er seither dazu bei, dass Ingeborgs Schicksal nicht vergessen wird.

Ingeborg Wahle im Kinderwagen, ca. 1940/1941.

Privatbesitz Renate Beier, geb. Wahle.

Elfriede mit ihren beiden Kindern Ingeborg und Heinz, 1939.

Privatbesitz Renate Beier, geb. Wahle.

Amtsärztliches Gutachten des Staatlichen Gesundheitsamts Göttingen vom 1.2.1944.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 443.

Besuch des Anstaltsfriedhofs der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg, ca. 1946/1947.

Privatbesitz Renate Beier, geb. Wahle.

Grab von Ingeborg Wahle, ca. 1946/1947.

Privatbesitz Renate Beier, geb. Wahle.

Ein Findling auf dem Familiengrab in Melle in Erinnerung an Ingeborg Wahle, Aufnahme vom 25.10.2021.

ArEGL.

Ingeborg Wahle

Ingeborg Wahle ist am 13. Juni 1939 geboren.
Sie lebte in Göttingen.
Ihre Eltern sind Elfriede und Willi Wahle.
Sie hat zwei Geschwister.
Sie heißen Heinz und Renate.

Die Geburt von Ingeborg ist schwer.
Sie muss mit einer Zange geholt werden.
Ingeborg hat eine Behinderung.

Ingeborg und Renate teilen sich ein Kinder-Zimmer.
Heinz hat ein eigenes Kinder-Zimmer.
Ingeborg sitzt immer auf einem Stuhl.
In der Küche.

Der Arzt antwortet Willi Wahle.
Der Arzt schreibt:
Ingeborg geht es schlecht.
Ingeborg wird nicht wieder gesund.

Die Mutter von Ingeborg schreibt einen Brief.
Sie kann Ingeborg nicht mehr besuchen.
Der Krieg macht es nicht möglich.
Kein Zug fährt.

Will Wahle kann auch nicht mehr kommen.
Er ist Soldat in Posen.
Deswegen entscheidet der Arzt in der Anstalt:
Ingeborg muss sterben.
Die Eltern können es nicht mehr verhindern.

Ingeborg wird ermordet.
Sie stirbt am 24. Februar 1945.

Die Geschwister sprechen viel über Ingeborg.
Sie vermissen Ingeborg.
Sie sind traurig über ihren Tod.
Sie fahren nach Lüneburg.
Dort besuchen sie das Grab von Ingeborg.
Das machen sie zwei Mal im Jahr.

Das Grab ist auf dem Fried-Hof Nord-West.
Alle Gräber haben ein Holzkreuz.
Das Grab von Ingeborg nicht.
Es hat einen richtigen Grab-Stein.

Bei einem Besuch passiert etwas.
Die Eltern sind auf dem Weg zum Fried-Hof.
Sie wollen zum Grab von Ingeborg.
Sie sind auf einer Brücke mitten in der Stadt.
Dort begegnen sie dem Arzt der Anstalt.

Willi Wahle sagt:
Da kommt der Doktor!

Die Schwester von Ingeborg ist dabei.
Sie lässt die Hand ihrer Mutter los.
Sie weiß:
Das ist der Mörder!
Er hat ihre Schwester Ingeborg getötet.
Sie schreit:
Mörder!

Renate wird erwachsen und heiratet.
Das Grab von Ingeborg verschwindet.
Es wird aufgelöst.

Viele Jahre später stirbt der Ehe-Mann von Renate.
Er wird begraben.
Auf einem Fried-Hof in Melle.
Da sind auch die Gräber ihrer Eltern.
Von Willi und Elfriede Wahle.
Da geht Renate oft hin.

An einem Tag findet sie auf dem Grab einen Stein.
Es ist ein besonderer Stein.
Darauf steht der Name ihrer Schwester Ingeborg.
Und wann sie geboren wurde.
Und wann sie ermordet wurde.
Es ist ein Stein in Erinnerung an Ingeborg.
Jetzt wird sie nie mehr vergessen.

Das ist ein Foto von Ingeborg Wahle.
Ingeborg sitzt im Kinder-Wagen.
Das ist im Jahr 1940 oder 1941.

Das ist ein Foto von Elfriede mit ihren Kindern.
Ingeborg ist das Baby im Arm.
Ihr Bruder Heinz ist der Junge.
Das ist im Jahr 1940 oder 1941.
Das ist im Jahr 1939.

Das ist ein Bericht vom Arzt.
Der Arzt schreibt:
Ingeborg hat eine Behinderung.
Sie kann nicht laufen.
Nicht sprechen.
Nicht sitzen.
Ingeborg kann nichts.

Aber das stimmt nicht.

Der Arzt schreibt auch:
Ingeborg kann nicht mehr zu Hause bleiben.
Ingeborg muss in eine Anstalt.
Der Bericht ist von Februar 1944.

Das ist ein Foto von den Eltern von Ingeborg.
Die Eltern sind auf dem Fried-Hof Nord-West.
Sie besuchen das Grab von Ingeborg.
Das ist im Jahr 1946 oder 1947.

Das ist ein Foto vom Grab von Ingeborg.
Es ist auf dem Fried-Hof Nord-West.
Das ist im Jahr 1946 oder 1947.

Das ist ein besonderer Stein.
Er liegt auf dem Fried-Hof in Melle.
Auf dem Grab von den Eltern von Ingeborg.
Auf dem Stein steht der Name von Ingeborg.
Und wann sie geboren wurde.
Und wann sie ermordet wurde.
Jetzt wird sie nie mehr vergessen.
Das Foto wurde am 25. Oktober 2021 gemacht.

Heinz Schäfer

Heinz Schäfer wurde keine fünf Jahre alt. Er wurde am 16. August 1937 in Bovenden bei Göttingen geboren. Seine Eltern, der Metallarbeiter Friedrich (Fritz) Schäfer und Ella Schäfer, geb. Tegtmeyer, hatten zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Söhne im Alter von sieben und neun Jahren, Rolf und Friedrich. Die drei Jungs teilten sich ein Kinderzimmer. Die beiden Älteren mussten häufig auf ihren kleinen Bruder aufpassen. Weil Heinz nicht laufen lernte, trugen sie ihn viel und nutzten auch ein Wägelchen, um ihn durch Bovenden oder in den Garten zu schieben. In der Karre sitzend, beobachtete er die beiden beim Spielen. Hiervon existiert das letzte Bild von Heinz. »Er war immer dabei«, berichten die Brüder und die Cousine.

Heinz konnte wohl alles verstehen und war auch in einem gewissen Maß selbstständig. Dennoch musste der Vater am 15. August 1941, einen Tag vor Heinz viertem Geburtstag, im Gesundheitsamt Göttingen vorstellig werden. Der Göttinger Amtsarzt, Dr. Lewerenz, empfahl: »Die Unterbringung in eine geschlossene Anstalt ist notwendig.« Weil sich dieser letzte Satz des Gutachtens von den Schrifttypen zum vorangegangenen Text unterscheidet und zwischen Unterschriftszeile und letztem Absatz eingepasst wurde, ist anzunehmen, dass diese Empfehlung nachträglich hinzugefügt wurde. Den Eltern sagte man, ihrem Kind werde in einer Anstalt geholfen. Der Vater kam daher vom Gesundheitsamt nach Hause und berichtete der Familie, im Heim werde Heinz geheilt werden. Die Familie verband mit dem Aufenthalt also die Hoffnung, dass er gesund werde. Sie rechneten fest damit, dass er wiederkommen würde und dann kuriert sei.

Heinz wurde direkt in der »Kinderfachabteilung« Lüneburg aufgenommen. Sein Vater brachte ihn dorthin. Die Aufnahme in Lüneburg erfolgte am 3. November 1941. Er kam in das Haus 25. In weiteren Briefen an den Ärztlichen Direktor brachte sie ihre Sorge um ihr Kind zum Ausdruck. Max Bräuner antwortete ihr jedoch, dass eine Heilung in den meisten Fällen aussichtslos sei. Aus Mediziner-Sicht wurde er am 20. Januar 1942 als »tiefstehend« und »bildungsunfähig« eingestuft und kam somit ärztlicherseits für die Tötung in Frage. Einen Monat später ging an die Mutter die Information, dass Heinz seit einigen Tagen an Diphtherie erkrankt und mit seinem Ableben zu rechnen sei. Am nächsten Tag war Heinz bereits tot.

Die Eltern konnten die Todesnachricht nicht glauben. Um sicherzugehen, dass es sich nicht um eine Verwechslung handelte, reiste Heinz Vater Fritz zusammen mit seinen Schwägern Wilhelm Tristram und Wilhelm Süßmann nach Lüneburg. Sie bestanden auf einer Öffnung des Sarges, um den Jungen zu identifizieren. Zunächst weigerte sich das Anstaltspersonal. Doch Fritz Schäfer und die Ehemänner von Ellas Schwestern Auguste und Meta setzten sich durch. Der Sarg wurde geöffnet, und darin lag Heinz mit einem verbundenen Kopf. Die drei Männer konnten sich das nicht erklären, war Heinz doch offiziell an »Diphtherie u. katarrh. Lungenentzündung« gestorben. Man verschwieg ihnen, dass man Heinz Gehirn entnommen hatte.

Über Heinz wurde in der Familie auch nach seinem Tod viel gesprochen, insbesondere über den verbundenen Kopf, den sich niemand erklären konnte. Das änderte sich, als die beiden noch lebenden Brüder von Heinz Schäfer, Friedrich und Rolf, durch einen Presseaufruf der Lüneburger Gedenkstätte ausfindig gemacht werden konnten. Nach vielen Jahrzehnten erhielten sie Antwort auf ihre Frage, warum Heinz Kopf verbunden gewesen war.

Heinz in seinem Wägelchen. Es ist das letzte Foto von ihm, Herbst 1941.

Privatbesitz Familie Schäfer.

Heinz auf dem Arm seines Bruders Rolf. Das Foto machte sein Bruder Friedrich, ca. Sommer 1941.

Privatbesitz Familie Schäfer.

Schreiben des Staatlichen Gesundheitsamts Göttingen, Dr. Lewerenz, vom 15.8.1941.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 373.

Die Mutter tat sich schwer mit der Trennung von ihrem Kind. Sie hatte große Sehnsucht nach ihm und schrieb ihm und den Pflegenden schon kurz nach seiner Aufnahme eine Postkarte.

Postkarte von der Mutter Ella an ihren Sohn Heinz vom 13.11.1941.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 373.

Brief von der Mutter Elisa Ella Schäfer an Heinz Schäfer vom 29.11.1941 mit Antwort vom 2.12.1941.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 373.

Addo und Hermann Eisenhauer

Addo Eisen-Hauer ist am 17. Oktober 1928 geboren.
Sein Bruder heißt Hermann.
Hermann ist zwei Jahre jünger als Addo.
Der Vater ist un-bekannt.
Ihre Mutter stirbt.
Da sind sie noch Kinder.
Addo und Hermann leben bei ihren Groß-Eltern.
Ein Amts-Arzt entscheidet:
Die Groß-Eltern können nicht auf die Kinder auf-passen.
Sie sind zu alt.
Addo und Hermann müssen in eine Anstalt.
Addo und Hermann müssen in die Kinder-Fach-Abteilung.

Das ist im Jahr 1942.
Addo und Hermann sind 14 und 12 Jahre alt.

Addo und Hermann sind im Haus drei-und-zwanzig.
Sie müssen arbeiten.
Der Arzt will wissen:
Schafft Addo seine Arbeit.
Schafft Hermann seine Arbeit.

Addo schafft seine Arbeit nicht.
Der Arzt entscheidet:
Addo ist unnütz.
Addo soll nicht mehr leben.

Darum wird Addo ermordet.
Sein Bruder Hermann ist dabei.

Addo stirbt am 16. März 1944.
Da ist er fünf-zehn Jahre alt.

Er wird begraben.
Sein Grab ist auf dem Fried-Hof der Anstalt.
Es ist ein Grab für Erwachsene.

Hermann über-lebt die Kinder-Fach-Abteilung.
Er wird nicht ermordet.
Er bleibt in der Anstalt in Lüneburg.
Auch als der Krieg schon aus ist.

Viele Jahre später kommt er in eine andere Anstalt.
Das ist im Jahr 1954.
Diese zweite Anstalt ist in Haina.
Mehr ist nicht bekannt.

Hermann bleibt zehn Jahre in Haina.
Danach kommt er in die Anstalt nach Göttingen.
Dort stirbt er am 6. April 1973.
Da ist er zwei-und-vierzig Jahre alt.

Das ist ein Brief.
Der Brief ist von den Groß-Eltern von Addo und Hermann.
Der Brief ist an die Anstalt in Lüneburg.
Die Groß-Eltern fragen:
Wie geht es Addo?
Wie geht es Hermann?
Sie bitten:
Addo und Hermann sollen zurück schreiben.

Das ist eine Nachricht.
Von einem Arzt.
Darin steht:
Hermann hat keine Eltern.
Seine Groß-Eltern leben noch.
Hermann kann nicht zur Schule gehen.
Hermann ist ein guter Mensch.
Er ist fröhlich.

Addo und Hermann Eisenhauer

Adolf (Addo) Eisenhauer wurde am 17. Oktober 1928 in Dietrichsfeld im Kreis Aurich geboren. Sein jüngerer Bruder Hermann Eisenhauer wurde am 18. Juli 1930 geboren. Ihre Mutter Anna Susanna Eisenhauer war zum Zeitpunkt der Aufnahme ihrer beiden Söhne am 28. September 1942 bereits verstorben. Vermutlich wurden die Kinder spätestens nach dem Tod der Mutter durch die Großeltern Charlotte und Wilhelm Eisenhauer aufgezogen. Laut amtsärztlichen Gutachten seien die Kinder auch deswegen aus ihrer gewohnten Umgebung zu nehmen gewesen, weil die Großeltern die Pflege der Kinder aus Altersgründen nicht mehr hätten gewährleisten können.

Addo und Hermann Eisenhauer wurden in Haus 23 untergebracht. Sie blieben zusammen. Bei der ärztlichen Begutachtung während ihres Aufenthaltes ging es weniger um psychiatrische oder medizinische Aspekte als vielmehr immer wieder um Fragen ihrer Arbeitstauglichkeit. Es ging bei den jugendlichen Patientinnen und Patienten in der »Kinderfachabteilung« darum, in sogenannten »Arbeitsversuchen« zu testen, ob sie zur Arbeit brauchbar waren.

Addos Versagen in der Arbeitstherapie – er war 15 Jahre alt – kostete ihn letztendlich das Leben. Die letzten Einträge dokumentieren seinen rasanten körperlichen Abbau und seinen elenden Tod. Er starb am 16. März 1944 um 4.30 Uhr morgens. Mit Sicherheit war sein Bruder in seiner Nähe, als er ermordet wurde. Addo Eisenhauer wurde nicht auf dem »Kindergräberfeld« auf dem Anstaltsfriedhof bestattet, sondern in einem Erwachsenengrab, da zum Zeitpunkt seines Todes kein Kindersarg vorrätig war.

Es ist nirgends dokumentiert, wie Hermann die Ermordung des Bruders erlebte und verarbeitete, weshalb und wie es ihm gelang am Leben zu bleiben. Er gehört zu den rund 40 Prozent Kindern und Jugendlichen, die den Aufenthalt in der »Kinderfachabteilung« überlebten. Hermann blieb bis 17. Dezember 1954 Patient der Lüneburger Anstalt. Zu seiner Entlassung in eine Einrichtung nach Haina notierte der entlassende Arzt: »Er ist unehelich geboren, die Mutter ist tot, der Erzeuger unbekannt. Die Großeltern sollen noch in Dietrichsfeld leben. E. war anfänglich hier auf der Kinderstation und erwies sich als bildungsunfähig imbezill, selten eigensinnig, überwiegend gutartig und heiter. So ist er bis heute geblieben.«

Am 24. Juni 1964 wurde Hermann Eisenhauer in das Niedersächsische Landeskrankenhaus Göttingen verlegt. Dort starb er im Alter von 42 Jahren am 6. April 1973.

»Wir sind die alten Eltern von Addo und Hermann. Bitte geben Sie uns doch bald Nachricht darüber, was sie dort machen. […] Bitte, bitte laß die beiden ihrer Mama und Vater […] schreiben.«

Schreiben der Großeltern in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg vom 3.11.1942.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 233.

»Er ist unehelich geboren, die Mutter ist tot, der Erzeuger unbekannt. Die Großeltern sollen noch in Dietrichsfeld leben. E. war anfänglich hier auf der Kinderstation und erwies sich als bildungsunfähig imbezill, selten eigensinnig, überwiegend gutartig und heiter. So ist er bis heute geblieben.«

Notiz vom 14.12.1954 in Krankenakte von Hermann Eisenhauer.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 233.

Gisela und Hermann Winter

Gisela und Hermann Winter, geboren 1927 und 1929, waren zwei von insgesamt sechs Kindern der Eltern Anna Frieda und Heinrich Ludwig Winter aus Hannover-Döhren. Obwohl Hermann Winter bereits mit einem Jahr laufen und mit eineinhalb Jahren sprechen konnte, wurde er nach der 6. Klasse als »bildungsunfähig« aus der Schule entlassen. Seine Schwester Gisela erkrankte im Alter von zwölf Jahren an Epilepsie. Beide wurden im März 1941 zum Zweck eines »Heilungsversuches« in die Anstalten der Inneren Mission Rotenburg aufgenommen. Wegen des Verdachts einer Tuberkulose stellte man sie von der Verlegung am 9. und 10. Oktober 1941 zurück. Sie wurden daher erst am 12. Februar 1942 als »Nachzügler« von ihrer älteren Schwester Hertha Winter zur Aufnahme in die Lüneburger »Kinderfachabteilung« gebracht. Gisela kam ins Haus 25, Hermann ins Haus 23.

Sechs Wochen nach der Aufnahme, am 5. April 1942, erhielten die Kinder Besuch von ihrer Mutter. Es war der einzige und letzte Besuch. Da Hermann als »ordentlich«, »willig« und »fleißig« beurteilt wurde, wurde er am 16. April 1942 nach Lemgo in die Stiftung Eben-Ezer verlegt. Diese Verlegung bedeutete zunächst seine Rettung. Anders erging es seiner Schwester. Sie wurde nur einen Monat später am 14. Mai 1942 ermordet. Vier Tage später wurde sie in einem Sarg für erwachsene Leichname bestattet, da es zum Zeitpunkt ihres Todes wohl keinen Kindersarg gab. Das ist der Grund, weshalb Gisela zu den insgesamt acht Kindern gehört, die nicht auf dem Kindergräberfeld, sondern auf einem Gräberfeld der erwachsenen Patientinnen und Patienten auf dem Anstaltsfriedhof beerdigt wurde.

Am 27. Januar 1944 wurde Hermann Winter in die »Kinderfachabteilung« zurückverlegt. Zum einen hatte er bei einem Beschulungsversuch keine Erfolge erzielt, zum anderen sollte auf diese Weise verhindert werden, dass ein Rettungsversuch der Eltern gelang. Sie hatten versucht, Hermann aus der Pflegefamilie zu entführen, bei der er als Hilfsarbeiter untergebracht war. Zurück in Lüneburg schien Hermann sich sofort nützlich gemacht zu haben. Abteilungspflegerin Dora Vollbrecht notierte in seiner Krankengeschichte, er sei ein: »charakterlich ordentlicher Junge, der sich bei Hausarbeit und kleinen Handreichungen bewährt«. Die Eltern ließen nichts unversucht, ihren Sohn zu retten bzw. zurück nach Hause zu holen und beantragten einen dreiwöchigen »Urlaub«. Obwohl laut Akte von Hermann eine »Fluchtgefahr« ausging, wurde der Urlaub genehmigt und am 11. November 1944 verlängert. Er kehrte nie wieder in die »Kinderfachabteilung« zurück.

Auszug aus der Krankengeschichte von Hermann Winter, Seite 1.

NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 2180.

Das ist ein Arzt-Bericht.
Darin steht:
Hermann ist ordentlich.
Hermann ist fleißig.
Hermann hilft sehr viel.
Das rettet sein Leben.
Er wird nicht ermordet.

Gisela und Hermann Winter

Gisela und Hermann Winter sind Geschwister.
Sie sind 1927 und 1929 geboren.
Sie haben noch vier weitere Geschwister.
Ihre Eltern sind Anna und Heinrich.
Die Familie kommt aus Hannover.

Hermann hat eine Behinderung.
Er schafft die Schule nicht mehr.
Gisela hat Anfälle.

Sie kommen in eine Anstalt nach Roten-Burg.
Dort sollen sie gesund werden.
Aber sie bekommen eine Lungen-Krankheit.
Das ist im Herbst 1941.
Drei Monate später kommen sie nach Lüneburg.
Sie kommen in die Anstalt.
Ihre Schwester Hertha bringt sie.
In die Kinder-Fach-Abteilung.
Gisela kommt in das Haus fünf-und-zwanzig.
Hermann kommt in das Haus drei-und-zwanzig.
Gisela und Hermann werden getrennt.

Gisela und Hermann bekommen Besuch.
Ihre Mutter besucht sie.
Ein einziges Mal.

Hermann gibt sich Mühe.
Er strengt sich an.
Er will alles richtig machen.
Er wird in eine andere Anstalt verlegt.
Die ist in Lemgo.
Das ist seine Rettung.
Er wird nicht ermordet.

Gisela bleibt in der Anstalt in Lüneburg.
Sie wird ermordet.
Sie stirbt am 14. Mai 1942.
Sie wird auf dem Fried-Hof der Anstalt begraben.
In Lemgo muss Hermann arbeiten.
Er kommt in eine Pflege-Familie.
Da muss er auch schwer arbeiten.

Die Eltern von Hermann finden das nicht gut.
Sie wollen ihn ab-holen.
Sie bekommen keine Erlaubnis.
Also nehmen sie ihn ohne Erlaubnis mit.
Aber sie werden erwischt.

Das darf nicht noch einmal passieren.
Darum kommt Hermann zwei Jahre später zurück.
Er wird von Lemgo nach Lüneburg verlegt.
Er kommt wieder in die Kinder-Fach-Abteilung.
Damit seine Eltern ihn nicht retten können.

Hermann arbeitet auch in der Anstalt in Lüneburg.
Er gibt sich sehr viel Mühe.
Er will nicht ermordet werden.
Das findet die Pflegerin gut.

Die Eltern geben nicht auf.
Sie wollen Hermann wieder haben.
Sie wollen ihn retten.
Sie beantragen einen Urlaub.
Endlich sagt ein Arzt:
Hermann darf Urlaub machen.
Er darf nach Hause.
Er kommt nie wieder zurück in die Anstalt.
Er über-lebt die Kinder-Fach-Abteilung.

Das ist ein Arzt-Bericht.
Es ist der Bericht über Hermann.

Das ist ein Arzt-Bericht.
Darin steht:
Hermann ist ordentlich.
Hermann ist fleißig.
Hermann hilft sehr viel.
Das rettet sein Leben.
Er wird nicht ermordet.