Rosemarie und Dieter Bode

Die Zwillinge Rosemarie und Dieter Bode wurden am 27. April 1935 in Hannover geboren. Ihre Eltern waren der gelernte Maurer und Wachmann Wilhelm Bode und seine Frau Erika Bode (geborene Ebeler). Sie hatten noch eine jüngere Schwester, die heute noch leben könnte. Als die Mutter an der Lunge erkrankte und der Vater in die Wehrmacht eingezogen wurde, entschied Erika, ihre Zwillinge in die Rotenburger Anstalten der Inneren Mission zu geben.

Wilhelm war mit der Einweisung seiner Zwillinge nicht einverstanden. Sein Ärger darüber war so groß, dass er sich zwei Wochen später von seiner Ehefrau trennte. Zwischen 1939 und 1941 blieben die Zwillinge in Rotenburg. Am 9. Oktober 1941 wurden Rosemarie und Dieter Bode zusammen mit über 130 weiteren Kindern in die Lüneburger »Kinderfachabteilung« verlegt. Rosemarie und ihr Bruder Dieter waren 1941 von den Rotenburger Anstalten der Inneren Mission an den »Reichsausschuss« nach Berlin gemeldet worden. Dort wurde die Einweisung in die »Kinderfachabteilung« angewiesen und eine »Behandlungsermächtigung« erteilt. Rosemarie wurde am 4. Februar 1942 ermordet. Dem Vater wurde mitgeteilt: »Ihre Tochter Rosemarie ist am 4. Februar 1942 an einer Lungentuberkulose gestorben.«

Wilhelm Bode konnte an der Beerdigung seiner Tochter nicht teilnehmen, weil er zum Todeszeitpunkt in Russland kämpfte. Auch die Mutter Erika nahm an der Beisetzung nicht teil, da sie sich noch in einer Lungenklinik befand. Dieter hatte den Mord an seiner Schwester miterlebt. Eine Woche nach ihrer Ermordung schrieb der Lüneburger Arzt den ersten Eintrag in Dieters Krankenakte. Dieter überlebte seine Zwillingsschwester Rosemarie nur ein Jahr und zwei Monate. Er wurde am 10. April 1943 ermordet. Die Leichen beider Kinder wurden seziert und ihre Gehirne entnommen. Die Gehirne wurden an das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf abgegeben.

2012 konnten die Präparate gemeinsam mit zwölf weiteren identifiziert werden. 2013 wurden sie im Rahmen der Einweihung einer Gedenkanlage auf dem ehemaligen Anstaltsfriedhof, dem heutigen Lüneburger Friedhof Nord-West, bestattet. Rosemarie und Dieter Bodes sterbliche Überreste gehörten dazu. An der Bestattung nahmen viele noch lebende Geschwister der ermordeten Kinder teil.

Schreiben von Wilhelm Bode
an die Rotenburger Anstalten der Inneren Mission vom 9.7.1939.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 42.

Schreiben der Gemeinnützigen Kranken-Transport-G.m.b.H. an die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg vom 6.11.1941.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 42.

»Für alle Liebe und Pflege die Sie meinen Kindern Rosemarie und Dieter wehrend ihres dortigen Aufenthaltes gegeben haben, danke ich Ihne nochmals herzlich.«
Schreiben von Erika Bode
an die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg, 5.5.1943.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 207.

Zeichnung der Kindergrablagen
auf dem ehemaligen Anstaltsfriedhof. Nummer 21 ist das Grab von Rosemarie Bode. Ihr Zwillingsbruder Dieter wurde in Grabnummer 99 bestattet.

Friedhof der Provinzial- Heil- und Pflegeanstalt. Begräbnisbuch 1922 – 1948.

Stadtarchiv Lüneburg.

Rosemarie und Dieter Bode

Rosemarie und Dieter Bode sind Zwillinge.
Sie werden 1935 in Hannover geboren.
Sie haben noch eine jüngere Schwester.
Die Eltern heißen Wilhelm und Erika Bode.
Die Mutter wird krank.
Der Vater muss in den Krieg.
Darum kommen die Zwillinge in eine Anstalt.
Die Anstalt ist in Roten-Burg.

Der Vater will das nicht.
Er ist sehr wütend.
Zwei Wochen später trennt er sich von seiner Frau.

Die Zwillinge bleiben zwei Jahre in der Anstalt.
Dann müssen sie in eine andere Anstalt.
Sie kommen nach Lüneburg.
Sie werden Patienten in der Kinder-Fach-Abteilung.
Das ist am 9. Oktober 1941.
Sie kommen mit über ein-hundert-dreißig anderen Kindern.

Ein Arzt in Roten-Burg meldet Rosemarie und Dieter.
Er schreibt nach Berlin.
Er informiert ein besonderes Amt.
Das besondere Amt schickt die Zwillinge nach Lüneburg.

Das besondere Amt sagt:
Rosemarie und Dieter dürfen ermordet werden.
Die Ärzte in Lüneburg sollen das entscheiden.
Das ist ein Brief.
Er ist aus dem Jahr 1941.

Rosemarie wird am 4. Februar 1942 ermordet.
In einem Brief an den Vater steht: Rosemarie ist tot.
Sie stirbt an einer Lungen-Krankheit.
Das ist eine Lüge.
Der Brief ist aus dem Jahr 1942.

Der Vater kommt nicht zur Beerdigung.
Er kämpft als Soldat in Russ-Land.
Das ist ein Land weit weg von Deutsch-Land.
Die Mutter Erika kommt auch nicht.
Sie ist immer noch in einer Klinik.

Dieter ist beim Mord an seiner Schwester dabei.

Dieter ist dem Arzt egal.
Er unter-sucht ihn erst als seine Schwester tot ist.

Ein Jahr und zwei Monate später wird auch Dieter ermordet.
Er stirbt am 10. April 1943.

Die Kinder werden nach dem Tod unter-sucht.
Ihre Gehirne werden aus dem Kopf genommen.
Die Gehirne werden ins Kranken-Haus Eppendorf geschickt.

Im Jahr 2012 werden Teile von den Gehirnen gefunden.
Sie gehören zu zwölf Kindern.

Im Jahr 2013 werden die Gehirn-Teile bestattet.
Auf dem Friedhof Nord-West.
Das ist der Fried-Hof der Anstalt.
Die Gehirn-Teile von Rosemarie und Dieter gehören dazu.
Zu der Beerdigung kommen viele Geschwister.
Es sind Brüder und Schwestern von den ermordeten Kindern.

Das ist ein Brief.
Der Brief ist vom Vater Wilhelm Bode.
Er ist an die Anstalt in Roten-Burg.
Er ist aus dem Jahr 1939.

Das ist ein Brief.
Er ist von der Mutter Erika Bode.
Sie schreibt an die Anstalt in Lüneburg.
Sie schreibt:
Danke für die Pflege.
Danke für die gute Betreuung der Kinder.
Sie weiß nichts vom Mord.
Der Brief ist aus dem Jahr 1943.

Das ist eine Zeichnung.
So liegen damals die Kinder-Gräber.
Sie liegen auf dem Anstalts-Fried-Hof.
Nummer ein-und-zwanzig ist das Grab von Rosemarie.
Nummer neun-und-neunzig ist das Grab von Dieter.
Die Zeichnung ist aus dem Begräbnis-Buch.

Geschwister Buhlrich

Hans Buhlrich, geboren am 1. Mai 1932, war das älteste Kind von Johanne Caroline (geborene Hartmann) und Wilhelm Johann Heinrich Buhlrich. Er wuchs bis zu seinem zehnten Lebensjahr bei seinen Eltern auf. Laut Cousin Kurt Homburg habe Hans seinen rechten Arm nicht unter Kontrolle gehabt und im Kopf sei er auch etwas langsamer gewesen. Am 21. Mai 1936 wurde Hans Schwester Erika Buhlrich, am 3. März 1941 seine Schwester Margret Buhlrich geboren.

Als der Vater in den Kriegsdienst eingezogen wurde, musste Mutter Johanne alles alleine bewältigen. Ihr Neugeborenes war erst ein halbes Jahr alt. Vermutlich aufgrund von Überforderung der Mutter wurde Hans am 20. September 1941 in das staatliche Gertrudenheim eingewiesen. Vom Gertrudenheim wurde Hans noch im selben Monat in die Heil- und Pflegeanstalt Kloster Kutzenberg (Oberfranken) verlegt. Dort starb Hans ein Jahr später am 17. Oktober 1942. Die offizielle Todesursache lautete »Herzschwäche«.

Als Hans Schwester Erika etwa ein Jahr alt war, erkrankte sie an Hirnhautentzündung. Infolgedessen zeigte sich eine Entwicklungsverzögerung. Als Erika fünf Jahre und ihre kleine Schwester sechs Monate alt war, erfuhr sie, dass ihr Bruder ins Gertrudenheim musste. Von da an wuchs sie ohne ihn und nur mit der fünf Jahre jüngeren Schwester Margret auf.

Als Bremen bombardiert wurde, suchte Johanne mit ihren Mädchen Zuflucht in einem Bunker. Nachbarn fühlten sich von den Mädchen gestört und denunzierten sie. Drei Jahre nachdem bereits ihr Bruder in die Anstalt eingewiesen worden war, wurden am 6. September 1944 auch Erika und Margret Buhlrich als anstaltsbedürftig in die »Kinderfachabteilung« Lüneburg aufgenommen. Johanne nutzte die Gelegenheit, um die Ursache für die Verzögerungen und Behinderungen ihrer Kinder zu erfragen. In Briefen bat sie den Ärztlichen Direktor, ihre Kinder dahingehend zu untersuchen. Sie dachte, auch Margret sei verzögert und habe eine Behinderung, dabei hatte sie nur »krumme Beine«.

Sie erhielt die Antwort, dass zur Klärung der Ursache Untersuchungen am Gehirn vorgenommen werden müssten, die erst nach dem Tode möglich seien. Beide Schwestern wurden daraufhin im Abstand von wenigen Wochen in der »Kinderfachabteilung« Lüneburg ermordet – erst Erika, dann Margret. Johanne hatte somit ihre drei Kinder in der »Kinder-Euthanasie« verloren.

Nach den Gehirn-Sektionen empfahl ihr Dr. Max Bräuner, sie solle besser keine weiteren Kinder bekommen. Daraufhin adoptierten sie und ihr Ehemann Wilhelm einen Jungen. Friedrich Buhlrich erfuhr erst nach dem Tod seiner Adoptiveltern, dass er drei Geschwister hatte. Er machte sich auf die Suche nach ihrem Schicksal und setzt sich seither für die Aufarbeitung der »Euthanasie«-Verbrechen ein.

Hans Buhlrich, 29.3.1936.

Privatbesitz Friedrich Buhlrich.

Erika Buhlrich auf einer Decke im Garten, ca. 1937.

Privatbesitz Friedrich Buhlrich.

Foto von Margret Buhlrich im Garten, Spätsommer 1944.

Privatbesitz Friedrich Buhlrich.

Aufnahme-Kartei zu Hans Buhlrich.

Kopie Friedrich Buhlrich |
Staatsarchiv Bamberg, Rep. K 61, Nr. 6489.

»Möchte sie auch fragen ob Sie schon festgestellt haben wovon es kommt, das meine beiden Kinder krank sind.«
Schreiben von Johanne Buhlrich an die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg, 18.9.1944.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 45.

Sterbeurkunde Erika Buhlrich, 23.11.1944.

Privatbesitz Friedrich Buhlrich.

Sterbeurkunde Margret Buhlrich, 25.1.1945.

Privatbesitz Friedrich Buhlrich.

Geschwister Buhlrich

Hans Buhlrich ist am 1. Mai 1932 geboren.
Seine Mutter heißt Johanne.
Sein Vater heißt Wilhelm.
Er ist ihr ältestes Kind.

Hans hat einen lahmen Arm.
Er ist auch langsam im Denken.
Seine Schwestern heißen Erika und Margret.
Sie werden 1936 und 1941 geboren.

Hans kommt in ein Kinder-Heim.
Das ist ein halbes Jahr nach der Geburt von Margret.
Seine Mutter schafft keine drei Kinder.
Sie braucht eine Pause.

Hans hat kein Glück.
Er kommt im Heim an.
Wenige Tage später wird das Heim geräumt.
Alle kommen in ein anderes Kinder-Heim.
Hans kommt nach Kutzen-Berg.
Das neue Heim ist viele Auto-Stunden entfernt von Bremen.
Es ist in Bayern.

Dort stirbt Hans ein Jahr später.
An einer Herz-Schwäche.
Das ist nicht wahr.
Er wurde vermutlich getötet.

Die Schwester Erika wird krank.
Sie bekommt eine Hirn-Haut-Entzündung.
Da ist sie 1 Jahr alt.
Ihr Gehirn wird beschädigt.
Sie bekommt eine Behinderung.
Als Hans stirbt ist sie 6 Jahre alt.

Auch in Bremen ist Krieg.
Es fallen Bomben.
Die Menschen müssen sich schützen.
Sie müssen in einen besonderen Keller.
Dort werden sie nicht getroffen.
Oder nur ganz selten.

Auch die Mädchen müssen in den Keller.
Ihre Mutter wird beschimpft.
Weil Erika und Margret eine Behinderung haben.
Ihre Mutter muss sie in die Kinder-Fach-Abteilung bringen.
Sie kommen nach Lüneburg.

Die Mutter denkt:
Erika und Margret haben beide eine Behinderung.
Sie fragt den Arzt:
Warum habe ich drei Kinder mit Behinderungen?
Kann ich gesunde Kinder bekommen?

Die Mutter bekommt eine Antwort.
Der Arzt antwortet:
Das kann ich heraus-finden.
Dafür muss ich das Gehirn unter-suchen.

An das Gehirn kommt man nur wenn man tot ist.
Also werden Erika und Margret ermordet.
Danach sind alle drei Kinder von Johanne Buhlrich tot.

Der Arzt nimmt die Gehirne von Erika und Margret.
Die Gehirne werden unter-sucht.
Der Arzt sagt der Mutter:
Bekomme keine weiteren Kinder.

Sie nehmen sich eines anderen Kindes an.
Es ist ein Baby.
Es heißt Friedrich.
Er weiß nichts von seinen ermordeten Geschwistern.
Seine Eltern sterben.
Danach findet er die Sterbe-Urkunden.
Er findet raus:
Es gibt drei Geschwister.
Er will wissen:
Was ist mit ihnen passiert?
Warum sind sie tot?
Er macht sich auf die Suche nach ihnen.
Er findet heraus:
Alle drei Geschwister sind Opfer des Patienten-Mordes.
Sie wurden im National-Sozialismus ermordet.

Seitdem geht er in Schulen.
Er spricht mit Schülern.
Er erzählt die Geschichte seiner Geschwister.
Viele sollen davon erfahren.
Damit so etwas nie wieder passiert.

Das ist ein Foto.
Auf dem Foto ist Hans.
Er ist 4 Jahre alt.

Das ist ein Foto.
Es ist ein Foto von Erika.
Sie sitzt auf einer Decke.
Sie ist 1 Jahr alt.

Das ist ein Foto von Margret.
Sie ist im Garten.
Sie sammelt Äpfel.
Sie ist 3 Jahre alt.

Das ist eine Karte.
Darauf steht:
Hans Buhlrich ist seit September 1941 in Kutzen-Berg.
Im Oktober 1942 ist Hans tot.

Es ist ein Brief von Johanne Buhlrich.
Sie schreibt an die Anstalt.
Sie will wissen:
Warum sind meine Kinder krank?
Warum haben sie eine Behinderung?
Kann ich Kinder ohne Behinderung bekommen?

Das ist die Sterbe-Urkunde von Erika.
Darin steht:
Erika ist im November 1944 gestorben.
In ihrer Wohnung. Das ist falsch.
Sie stirbt in der Anstalt.
Das ist ihr letzter Wohn-Sitz.

Das ist die Sterbe-Urkunde von Margret.
Darin steht:
Margret ist im November 1944 gestorben.
In ihrer Wohnung. Das ist falsch.
Sie stirbt in der Anstalt.
Das ist ihr letzter Wohn-Sitz.

Günter Schulze

Günter Schulze war nur einen einzigen Monat Patient in der »Kinderfachabteilung« Lüneburg. Er wurde am 10. Juli 1944 aufgenommen, vier Wochen später, am 5. August 1944, wurde er ermordet. Er starb mit sieben Jahren. Sein Vater war zu diesem Zeitpunkt Feldwebel. Seine Mutter sorgte allein für die Kinder. Die siebenköpfige Familie mit schlesischen Wurzeln lebte in Hannover-Langenhagen.

Günter war das vierte Kind von Gertrud Schulze, geborene Dubiel, und Max Schulze, der Tapetendrucker war. Nach Günters Geburt am 1. Oktober 1936 wurde seine Schwester Ursula geboren. Es gab noch drei ältere Geschwister. Die Familie war glücklich, Günter erfuhr Teilhabe und liebevolle Zuwendung. Er war ein fröhliches Kind und bei allen Familienaktivitäten dabei.

Günter war ein sogenanntes »Reichsausschusskind«. Seine Einweisung in die Lüneburger »Kinderfachabteilung« ging vom Gesundheitsamt Hannover-Land aus. Die Hilfsärztin begründete ihren Antrag beim »Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden« in Berlin mit einem »angeborenen Wasserkopf« und seiner Entwicklungsverzögerung. Hinter der Formulierung »[wir] bitten Sie, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen« verbarg sich die Prüfung und Entscheidung, ob Günter für eine Tötung infrage kam.

Bereits zwei Wochen später wies der »Reichsausschuss« die Aufnahme an. Der Mutter widerstrebte es, ihr Kind nach Lüneburg zu bringen. Erst sechs Wochen später wurde Günter aufgenommen. Er wurde von seiner Mutter gebracht.

Günter konnte sprechen, seinen Namen nennen, alleine essen und wurde als ruhig und »freundlich«, »willig und folgsam« beschrieben. Nach dem Eintrag »bildungsunfähig« in seiner Krankengeschichte sind nur noch seine letzten elenden Tage dokumentiert. Offiziell wurde die Todesursache »Darmentzündung und Bronchitis« angegeben. Er starb am 5. August 1944, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgelöst durch eine Überdosis eines Betäubungsmittels. Sein Leichnam wurde auf Wunsch der Mutter nicht in Lüneburg bestattet, sondern nach Langenhagen überführt.

Über ein halbes Jahr später verweigerte Gertrud Schulze Zahlungsaufforderungen, für die Verpflegungskosten ihres ermordeten Sohnes Günter aufzukommen, die ihr seitens der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg in Rechnung gestellt worden waren. Am 17. Oktober 1945 – über ein Jahr nach dem Tod ihres Sohnes – wurden ihr die Kleidungsstücke ihres Sohnes persönlich ausgehändigt.

Foto der siebenköpfigen Familie Schulze, Weihnachten 1938.

Privatbesitz Ursula Heins.

Foto von Günter im Arm seiner Mutter, hinter ihm der Vater Max. Seine Schwester Ursula ist das Baby auf dem Arm, ca. Sommer 1938.

Privatbesitz Ursula Heins.

Gertrud, Ursula, Günter und Max Schulze, ca. 1943.

Privatbesitz Ursula Heins.

Aufnahmeantrag des Staatlichen Gesundheitsamts Hannover-Land vom 19.5.1944.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 387.

Schreiben des »Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden« an das Staatliche Gesundheitsamt Hannover-Land vom 27.5.1944.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 387.

Günter Schulze

Günter ist Patient der Kinder-Fach-Abteilung.
Für vier Wochen.
Er stirbt am 5. August 1944.
Da ist er sieben Jahre alt.

Günter hatte vier Geschwister.
Seine jüngere Schwester ist Ulla.
Seine älteren Geschwister kümmern sich um ihn.
Er ist glücklich.
Er ist immer dabei.

Günter hat einen Wasser-Kopf.
Deswegen wird er gemeldet nach Berlin.
Dort entscheiden drei Ärzte:
Günter muss in eine Kinder-Fach-Abteilung.
Obwohl sie Günter gar nicht kennen.
Ohne ihn anzugucken.

Günter kann sprechen.
Er kann alleine essen.
Er kann laufen.
Er ist freundlich und fröhlich.
Aber der Arzt entscheidet trotzdem:
Günter muss sterben.
Weil er nicht zur Schule gehen kann.

Er wird mit einem Medikament ermordet.
Es geht schnell.

Seine Mutter entscheidet:
Die Leiche von Günter darf nicht in Lüneburg bleiben.
Sie muss nach Hannover.
Da wohnt die Familie.

Die Mutter von Günter ist wütend.
Über den Tod von Günter.
Sie bekommt eine Rechnung.
Sie soll für die Kinder-Fach-Abteilung bezahlen.
Sie sagt:
Nein!
Ich bezahle nicht für den Tod meines Kindes.
Sechs Monate sagt sie: Nein!

Dann ist der Krieg vorbei.
Es vergehen sechs Monate.
Es dauert.
Am Ende bekommt Mutter die Sachen von Günter zurück.
Wenigsten das.

Das ist ein Foto der Familie Schulze.
Sie sind sieben Personen.
Das Foto ist an Weihnachten entstanden.
Es ist aus dem Jahr 1938.

Das ist ein Foto.
Es ist im Garten entstanden.
Die Familie von Günter ist viel im Garten.
Günter ist im Arm seiner Mutter.
Das Baby ist die kleine Schwester Ulla.
Es ist aus dem Jahr 1938.

Das ist ein Foto.
Es zeigt:
Günter vorne auf dem Hocker.
Hinter ihm steht Ulla.
Dahinter sind seine Eltern.
Das Foto ist aus dem Jahr 1943.

Das ist ein Antrag.
Es ist vom Gesundheits-Amt.
Darin steht:
Günter muss in die Kinder-Fach-Abteilung.
Der Antrag ist von Mai 1944.

Das ist ein Brief.
Er ist aus Berlin von den Ärzten.
In dem Brief steht:
Günter hat eine Behinderung.
Er muss in die Kinder-Fach-Abteilung.
Da muss er behandelt werden.
Das bedeutet:
Er soll ermordet werden.

Christian Meins

Christian Meins war das erste Kind von Gretchen (Gretel) und Hermann Meins. Beide kamen aus Hamburg. Gretel kam aus einer kommunistisch geprägten Familie, Hermann war sozialdemokratisch und beteiligte sich als Jugendlicher an Straßenschlachten gegen Nationalsozialisten. Gretel und Hermann lernten sich in einer Gastwirtschaft kennen, in der Gretel in der Küche aushalf. Sie heirateten am 18. Januar 1939, als Gretel bereits schwanger war. Nach der Heirat bezog das Paar eine eigene Mietwohnung in Hamburg-Hammerbrook in der Nähe von Christians Großeltern mütterlicherseits. Zur Großmutter väterlicherseits, die eine eigene Kneipe führte und als durchsetzungsstark galt, gab es kaum Kontakt.

Christians Vater Hermann war Elektriker und arbeitete in der Rüstungsindustrie, unter anderem auch in Peenemünde an der »V2« sowie beim Technischen Hilfswerk. Durch sein gutes Einkommen brauchte Gretel nach der Geburt von Christian nicht zu arbeiten. Christian wurde am 10. Juni 1939 geboren. Er wurde nach seinem verstorbenen Großvater väterlicherseits benannt. Bei der Geburt hatte er die Nabelschnur zweimal um den Hals gewickelt und musste daraufhin ins Rotenburger Kinderkrankenhaus eingewiesen werden. Von diesem Geburtsschaden erholte er sich nicht.

Christian blieb verzögert und entwickelte epileptische Anfälle. Im Alter von rund drei Jahren legten sich die Anfälle. Ab dann sei Christian sehr lebhaft gewesen, besonderes Gefallen habe er am Klappern von Türen gehabt, die er stundenlang auf- und zuschlagen konnte. Die Eltern müssen Christian sehr geliebt haben. Der Vater machte Überstunden, um vom Lohnaufschlag Heilpraktiker-Rechnungen bezahlen zu können. Sie waren sehr glücklich über das beeinträchtigte Kind. Er war der »Prinz«, berichtet seine Schwester Heidi Frahm. Sie selbst blieb in ihrer Kindheit im Schatten ihres verstorbenen Bruders.

Christian, seine Eltern und die Großeltern wurden im Zuge des Hamburger »Feuersturms« im Sommer 1943 ausgebombt. Sie wurden nach Burgdorf in Niedersachsen evakuiert. Dort wurde Christian am 3. August 1943 dem Gesundheitsamt vorgestellt und vom Amtsarzt für »anstaltsbedürftig« befunden, »zumal jetzt bei den schwierigen häuslichen Verhältnissen (Bombenbeschädigte) eine ordnungsgemäße Unterbringung im eigenen Haushalt nicht mehr möglich ist.« Weil die Mutter zeitnah nach Bayreuth weitergeschickt werden sollte und der Vater zwecks Wiederaufnahme seiner Arbeit bei Blohm & Voss ebenso dringlich nach Hamburg zurückkehren musste, wurde Christians Aufnahme in die Heil- und Pflegeanstalt aufgrund gebotener Eile telefonisch veranlasst.

Bereits zwei Tage später, auf dem Rückweg nach Hamburg, brachte Hermann seinen Sohn persönlich in die »Kinderfachabteilung« Lüneburg. In Hamburg angekommen, organisierte er eine sogenannte »Ley-Bude«. Diese Behelfsunterkunft führte dazu, dass Gretel und ihre Eltern noch vor Kriegsende nach Hamburg zurückkehren konnten. Christian wurde nur drei Wochen nach seiner Aufnahme am 29. August 1943 ermordet. Seine offizielle Todesursache lautete Bronchitis.

Weil Christian Meins vom Status her und aktenmäßig als »bombenbeschädigtes Kind« eingewiesen bzw. geführt worden war, wurde er nicht auf dem Anstalts- sondern auf dem Zentralfriedhof Lüneburg bestattet. 1952 fiel sein Grab unter das Kriegsgräbergesetz. Es ist deshalb bis heute als Einzelgrab mit Grabplatte erhalten. Das Schicksal ihres älteren Bruders ließ Heidi nie los. 1947 geboren, war ihre Kindheit auch von der Erinnerung an ihren toten Bruder geprägt. Über 15 Jahre lang versuchte sie, sein Schicksal zu klären. Da sie davon ausging, dass es kein Grab gäbe, ließ sie auf dem Hamburger Friedhof Ohlsdorf ein Namensschild in Gedenken an ihn anbringen. Im September 2021 besuchte sie das Grab ihres Bruders zum ersten Mal.

Christian Meins, Hamburg-Hammerbrook, ca. 1941.

Privatbesitz Heidi Frahm.

»Wenn du weiter nichts hast, aber wenigstens dein Söhnchen.«
Gretel Meins schrieb diesen Satz auf die Rückseite einer Postkarte, auf der Christian mit Sonnenhut im Sand sitzt. Von dieser Postkarte gibt es mehrere Abzüge. Auf einem anderen Abzug ist vom Vater notiert, Christian sei an den Folgen einer Rauchvergiftung gestorben, ausgelöst durch den Bombenangriff. Dies steht im Widerspruch zum Eintrag in der Krankengeschichte, sein körperlicher Gesundheitszustand sei unauffällig und seine Lunge sei »ohne Befund«.

Postkarte von Christian Meins, ca. 1942, Vorder- und Rückseite.

Privatbesitz Heidi Frahm.

Gretel war zum Zeitpunkt von Christians Tod bereits nach Oeslau bei Coburg weiterevakuiert worden. Sie schien auch deshalb keinen Kontakt zu ihrem Ehemann gehabt zu haben und musste sich in Sorge um ihren Sohn brieflich an die Anstalt wenden, um zu erfahren, wie es ihm ergangen sei. Der Brief wurde laut Stempel einen Tag nach Christians Tod zugestellt.

Brief von Gretchen Meins an die Heil- und Pflegeanstalt vom 28.8.1943.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 314.

Grab von Christian Meins auf dem Zentralfriedhof Lüneburg, September 2021.

ArEGL.