Mariechen Petersen

Mariechen Petersen wurde am 2. Juni 1933 als zweites Kind von Wilhelm und Erna Petersen geboren. Das Ehepaar Petersen hatte insgesamt acht Kinder. Die Familie wohnte in der Rotehahnstraße 4. »Mike«, wie Mariechen von den anderen Kindern genannt wurde, habe dort immer auf der Türschwelle gesessen und den vielen Kindern in der Straße beim Spielen zugeguckt. Ihr Vater Wilhelm Petersen starb als Soldat am 18. Juli 1941. Von da an musste Erna Petersen ihre neunköpfige Familie allein versorgen.

Als sie sich im Herbst 1942 kritisch über eine Parteiveranstaltung der NSDAP äußerte und eine Teilnahme verweigerte, wurde Erna Petersen denunziert und am 2. November 1942 verhaftet. Für vier Monate musste sie ins Gefängnis nach Hannover. Die Staatliche Fürsorge übernahm die acht Kinder. Die jüngsten kamen zur Großmutter, die älteren in ein Kinderheim nach Celle. Mariechen wurde aufgrund ihres Down-Syndroms zunächst in das Kinderhospital in der Barckhausenstraße 6 und von dort in die »Kinderfachabteilung« der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg eingewiesen. Nach einer sechswöchigen Beobachtungszeit kam der zuständige Arzt Willi Baumert zu dem Entschluss, bei Mariechen sei »keine Entwicklung zu erwarten«. Danach erkrankte sie. Informationen über die Gabe von Medikamenten legen nahe, dass die Infekte provoziert worden waren, möglicherweise um Wirkstoffe zu erproben.

Nach der Haftentlassung von Erna Petersen wurde Mariechen von ihrer Mutter und den Geschwistern besucht. Die Mutter brachte ihr Kleidung und zusätzliche Nahrung. Am 9. August 1943 beantragte sie sogar Geld für ein neues Kleid und ein Paar Schuhe. Bemerkenswert ist, dass Mariechen nur in den Wochen, in denen ihre Mutter zu Besuch kommen konnte, keinen Infekt hatte. Vollkommen entkräftet und mit hoher Wahrscheinlichkeit infolge einer Überdosis an Medikamenten starb Mariechen am 15. September 1943.

2019 wurde für Mariechen Petersen in der Rotehahnstraße 4 ein Stolperstein verlegt.

Jürgen Endewardt

Jürgen Endewardt wurde am 25. Februar 1941 als drittes von vier Kindern in Lüneburg in der Bülow-Straße, heute Georg-Böhm-Straße 4, geboren. Da Jürgen weder sitzen noch laufen oder sprechen lernte, war seine Mutter Elli Endewardt um die Entwicklung ihres Kindes besorgt. Sie stellte ihn unter anderem im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf vor. Dort erhielt er die Diagnose Hydrocephalus (Wasserkopf). Im Lüneburger Kinderhospital in der Barckhausenstraße 6 sollte daraufhin eine Behandlung versucht werden. Dieser Versuch unterblieb, stattdessen wurde Jürgen am 17. November 1942 in die »Kinderfachabteilung« der Heil-und Pflegeanstalt Lüneburg verlegt.

Als seine Mutter eine Woche später ihr Kind besuchen wollte, musste sie sich bei den Pflegekräften den Zugang zu Jürgen erzwingen. Dabei entdeckte sie die mangelnde Versorgung und den schlechten Zustand ihres Sohnes. Am 5. und 6. Dezember 1942 fanden daraufhin zwei Gespräche mit dem Ärztlichen Direktor Max Bräuner statt. Angehörige berichten, Elli Endewardt habe ihren Sohn aus der »Kinderfachabteilung« herausholen wollen. Ob das stimmt, ist ungewiss. Denn am Tag nach dem zweiten Gespräch, am 7. Dezember 1942 starb Jürgen Endewardt. Die offizielle Todesursache lautete »Magen-Darm-Katarrh«. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wurde er jedoch mit einem Medikament ermordet.

Auf Wunsch der Mutter wurde Jürgen nicht auf dem Anstaltsfriedhof, sondern auf dem Lüneburger Zentralfriedhof beerdigt. Hierdurch konnte die Mutter vor dem Vater, der einen höheren Rang bei der SS bekleidete, verbergen, dass Jürgen Anstaltspatient gewesen war.

Nach Jürgens Tod folgten für die Familie weitere Schicksalsschläge. Jürgens Vater wurde 1943 als Soldat schwer verletzt, 1946 wurde Jürgens älteste Schwester Ute von einem Panzer überfahren und Jürgens jüngster Bruder Udo starb drei Monate nach seiner Geburt infolge eines angeborenen Herzklappenfehlers.

2019 wurde in der heutigen Georg-Böhm-Straße in Erinnerung an Jürgen Endewardt ein Stolperstein verlegt.

Ute und Dieter Endewardt, ca. Sommer 1942.

Privatbesitz Barbara Burmester.

Dieter, Jürgen, Elli und Ute Endewardt, ca. Sommer 1942.

Privatbesitz Barbara Burmester.

Inge Roxin

Inge Roxin wurde als jüngstes von insgesamt sechs Kindern am 22. August 1939 in Lüneburg geboren. Ihre Eltern, Anna und Eugen Roxin, zogen nach Inges Geburt in eine Wohnung in die Rotehahnstraße 4, ein Haus, das sie fortan mit der Familie Petersen teilten. Mariechen Petersen, Inges Nachbarin, wurde ebenfalls Patientin in der »Kinderfachabteilung« der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg. Sie traf das gleiche Schicksal.

Inges Vater Eugen Roxin arbeitete als Schwimmlehrer und LKW-Fahrer. Seine Frau Anna war Köchin. Sie war sehr pflichtbewusst und folgte deshalb der Meldepflicht für Kinder mit Behinderungen, die vier Tage vor Inges Geburt eingeführt worden war. Der Lüneburger Amtsarzt, dem Inge vorgestellt wurde, diagnostizierte »Idiotie« und empfahl ihre Aufnahme in die »Kinderfachabteilung«.

Schon wenige Tage nach der Aufnahme erkrankte Inge an Fieber und Durchfall. Es wurde eine Therapie mit einem nicht zugelassenen Medikament veranlasst. Es ist unklar, ob diese Arznei eingesetzt wurde, um damit tatsächlich eine Besserung des Gesundheitszustandes zu erreichen, oder ob die Behandlung auch Forschungszwecken diente. Ihre Mutter und die vier Jahre ältere Schwester Käthe besuchten Inge regelmäßig. Die Besuche von Käthe sind durch zwei Fotos dokumentiert, die von einer Pflegerin kurz vor Inges Ermordung angefertigt worden waren.

Am 20. Oktober 1943 starb Inge Roxin. Als offizielle Todesursache wurde eine »eitrige Bronchitis« angegeben, mit hoher Wahrscheinlichkeit jedoch erlag sie einer Überdosis an Medikamenten. Die Dreieinhalbjährige wurde auf Wunsch der Eltern auf dem Zentralfriedhof Lüneburg beigesetzt.

2019 wurde für Inge Roxin in der Rotehahnstraße 4 ein Stolperstein verlegt.

Inge Roxin im Kinderwagen, Auf dem Schmaarkamp 3.

Privatbesitz Sigrid Roxin.

Der Schnappschuss zeigt Inge auf dem Schoß ihrer älteren Schwester Käthe. Sie erhielt es zur Erinnerung an ihre kleine Schwester. Sommer 1943.

Privatbesitz Sigrid Roxin.

Traueranzeige Inge Roxin, Oktober 1943.

Privatbesitz Sigrid Roxin.

Berend »Benni« Willem Hiemstra

Berend »Benni« Willem Hiemstra wurde am 20. Mai 1937 in Zutphen, Kreis Gelderland, in den Niederlanden geboren. Sein Vater war der Schlachtermeister, Vieh- und Fleischgroßhändler Hermann Godefridus Hiemstra. Die Mutter war Berendina Weselina Hiemstra, geborene Boeyink.

Benni war das einzige Kind von Berendina und Hermann Hiemstra. Darüber gab die Mutter bei der Aufnahme ihres Sohnes in der »Kinderfachabteilung« in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg Auskunft. Sie war eine überzeugte Nationalsozialistin und hing der niederländischen Schwesterpartei der NSDAP an.

Als die Frontlinie und die Alliierten sich den deutsch besetzten Niederlanden näherten, entschieden die Hiemstras, ins Deutsche Reich zu flüchten. Auf diese Weise versuchten sie sich zu retten, da sie aufgrund ihrer Kollaboration mit den Deutschen eine strafrechtliche Verfolgung befürchteten.

Die Flucht mit den notwendigsten Habseligkeiten endete in Lüneburg. Bennis Eltern wurden nach einem kurzen Aufenthalt in der Scharnhorst-Kaserne in einem Flüchtlingslageruntergebracht, das in einer Schule in Amelinghausen im Kreis Lüneburg eingerichtet worden war. Die Flüchtlingslager wurden oftmals von der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) betreut. NSV-Schwestern kamen der Meldepflicht von behinderten oder psychisch erkrankten Menschen sehr akribisch nach, sodass es immer wieder zu Einweisungen aus den Flüchtlingslagern in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg kam.

Sicher ist, dass Benni am 10. September 1944 gemeinsam mit einem Kind namens Johann Peter Wolf in die »Kinderfachabteilung« Lüneburg aufgenommen wurde. Bei seiner Einweisung war er sieben Jahre alt. Seine Mutter gab an, er habe im Alter von sechs Monaten Krämpfe bekommen und sich seither nicht weiterentwickelt.

Bei der ersten Untersuchung kam der Arzt Willi Baumert zu dem Ergebnis, Benni sei ein »tiefstehender Junge, der auf nichts reagiert, liegt teilnahmslos vor sich hindösend im Bett. […] Muß in jeder Hinsicht versorgt werden.« Zwei Wochen später wurde Benni von seinen Eltern besucht. Das war angesichts der Gesamtsituation der Familie ungewöhnlich. Bereits am nächsten Tag erfolgte jedoch der Eintrag, dem Kind ginge es schlecht, es sehe blutarm aus und habe Durchfall. Zur Therapie des Durchfalls wurde eine »Diät« verordnet.

Danach erfolgten nur noch zwei Einträge in seine Krankengeschichte, die durch das Schriftbild den Anschein erwecken, in einem Zuge vorgenommen worden zu sein, und zwar nach Todeseintritt. Am 30. September wurde notiert: »Zustand weiter verschlechtert. Dauernd […] Abgänge u. Erbrechen.« Am 2. Oktober 1944 wurde notiert: »Exitus 2h nachts. Todesursache 1 angeb. Schwachsinn wahrscheinlich 1b. fieberhafter Magendarmkatarrh.«

Die Eltern besuchten Benni während seines Aufenthaltes in der »Kinderfachabteilung« noch ein weiteres Mal. Im Feld der Besucherkarte »Bemerkungen« sind auch drei Gesprächstermine eingetragen. Ob es wirklich zu Gesprächen mit Max Bräuner, dem Ärztlichen Direktor der Anstalt kam, die Eltern eventuell sogar Einfluss auf die Versorgung ihres Kindes nahmen, lässt sich anhand der Besucherkarte nicht zweifelsfrei rekonstruieren. Offen ist auch, wie ein solcher Einfluss geartet gewesen sein konnte. Auffällig ist jedoch, dass Benni innerhalb von drei Wochen starb. Er wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit ermordet – mit oder ohne Zustimmung bzw. Initiative der Eltern. Sie wurden noch am selben Tag per Telegramm informiert: »Sohn Willem entschlafen.« Benni wurde auf dem Kindergräberfeld bestattet.

»Benni« Hiemstra im Alter von einem Jahr, 3. Oktober 1938.

Privatbesitz Johan Huisman.

Eckart Willumeit

Eckart Willumeit wurde am 21. August 1928 als viertes Kind des Malermeisters Gottlieb Willumeit und dessen Ehefrau Marie Else Willumeit in Celle geboren. Neben zwei Brüder hatte er noch eine ältere Schwester. Die Ehe der Eltern ging wenige Jahre nach Eckarts Geburt in die Brüche. Der Vater war zwischen 1927 und 1933 für die NSDAP im Celler Stadtrat. Später kandidierte er nicht mehr.

In den Unterlagen steht, Eckart habe sich langsam entwickelt. Erst am Ende des zweiten Lebensjahres habe er angefangen zu laufen, mit dreieinhalb Jahren sei es mit dem Sprechen losgegangen. Insgesamt wird Eckart als »zurück« und »mongoloid« beschrieben. Die Schule lehnte ihn ab, auch die Hilfsschule schickte ihn wieder nach Hause. Zum Zeitpunkt seiner ersten Untersuchung 1937 lebten die Eltern bereits getrennt. Eckart blieb zusammen mit seinen Geschwistern bei der Mutter.

Als Eckart neun Jahre alt war, folgte seine Mutter der Aufforderung, beim Gesundheitsamt des Stadt- und Landkreises Celle vorstellig zu werden. Auf wessen Initiative dies geschah, geht aus den Unterlagen nicht hervor. Der Amtsarzt kam zu dem Ergebnis: »Im ganzen gesehen hat man den Eindruck, daß es noch bildungsfähig ist, jedoch scheint die Mutter nicht in der Lage zu sein, sich derart mit dem Kinde zu beschäftigen, daß davon ein Erfolg zu erhoffen ist. Um einer drohenden vollständigen Verblödung vorzubeugen, halte ich eine Aufnahme in eine entsprechende Anstalt, z.B. Langenhagen, jetzt für dringend erforderlich.« Der Mutter wurde unterstellt, sie sei mit der Förderung
ihres Sohnes überfordert.

Daraufhin wurde Eckart durch das Amt in der Landes- Heil- und Pflegeanstalt Langenhagen angemeldet und am 13. August 1937 dort aufgenommen. Die Trennung fiel Mutter und Sohn schwer. Eckart schrieb seiner Mutter mit Unterstützung der Krankenschwester schon gleich in der ersten Woche. Ein Antwortbrief der Mutter ist erhalten geblieben. Die Zeilen lassen erkennen, dass Eckart (»Karlchen«) zuvor ein behütetes Leben hatte. Die Mutter bemühte sich, den Kontakt zu ihrem Sohn zu halten. Es entwickelte sich ein reger Briefverkehr zwischen Eckart und seiner Mutter. Sie besuchte ihn regelmäßig und holte ihn »auf Urlaub« zu sich nach Hause.

Eckart lebte sich allmählich in Langenhagen ein. Er sei ein gehorsamer Junge, mache keine besonderen Schwierigkeiten, sei »zutraulich und willig«, heißt es in seiner Krankenakte. Ab Oktober 1937 besuchte er sogar die Schule, lernte Buchstaben kennen, las einzelne Worte. Er entwickelte sich gut. Anfang Januar 1938 erfuhr Eckarts Mutter, dass er zusammen mit anderen Kindern in die Anstalten der Inneren Mission Rotenburg verlegt werden sollte. Tatsächlich erfolgte die Verlegung am 18. März 1938. Dieser Ortswechsel, so kann der Akte entnommen werden, warf Eckart erheblich zurück. Eine Postkarte seiner Mutter deutet zudem darauf hin, dass sie Eckart ab dieser Zeit nicht mehr ohne weiteres besuchen konnte.

Am 9. Oktober 1941 wurde Eckart in die »Kinderfachabteilung« nach Lüneburg verlegt. An die Mutter erging eine Woche später die Mitteilung: »Ich teile Ihnen mit, dass Ihr Kind Eckart Willumeit am 9. Oktober aus der Rotenburger Anstalt hier überführt worden ist.« Die in Lüneburg gemachten Eintragungen in seiner Krankenakte und der Verlauf seines Aufenthaltes deuten darauf hin, dass Eckart mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aufgrund von »Bildungsunfähigkeit« mit dem Medikament Luminal ermordet wurde. Eckart starb am 18. Februar 1942 im Alter von 13 Jahren.

Am Todestag wurde die Mutter per Telegramm über den Tod informiert: »Sohn Eckart entschlafen. Beerdigung Sonnabend, 14.30 Uhr angesetzt. Heilanstalt.« Er sollte am 21. März bestattet werden. Doch die Mutter setzte eine Überführung von Eckart nach Celle durch. In der Bescheinigung für die Überführung heißt es: »[…] starb in hiesiger Anstalt der Knabe Eckart-Adolf Willumeit aus Celle an katarrh. Lungenentzündung bei Mongoloider Idiotie und bdrs. Hilusdrüsentuberkulose. […] Der Tod ist nicht durch Gewalteinwirkung eingetreten.«

Eckart Willumeit im Alter von 10 Jahren, Aufnahmefoto der Anstalten der Inneren Mission Rotenburg August 1938.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 424.

Fritzchen Wehde

Fritz (gerufen Fritzchen) Wehde wurde am 11. November 1939 in ein liebevolles und fürsorgliches Umfeld hineingeboren. Er lebte mit seinen zwei jüngeren Geschwistern und den Eltern in Horst bei Hannover. Sein Urgroßvater Heinrich hatte das Haus erbaut, zeitgleich und neben das Haus seines Zwillingsbruders Ludwig. Die »Zwillingshäuser« stehen noch heute und werden von Fritzchens Neffen und seiner Cousine bewohnt.

Fritzchen war das gemeinsame Kind von Fritz und Else Wehde. Als erstgeborener Sohn bekam er den Vornamen seines Großvaters, Onkels und Vaters. Fritzchens Vater war gelernter Maurer und machte später, nachdem er die Meisterprüfung abgelegt hatte, in Horst ein Baugeschäft auf. Die Wehdes fühlten sich politisch der SPD zugehörig, auch als diese 1933 verboten wurde. Sie blieben auch nach der Machtergreifung »gegen die Nazis eingestellt«.

Die Familie war eng miteinander und vor allem zu seiner Tante Wilma habe Fritzchen eine enge Bindung gehabt: »Tante Wilma kommt heute nach Horst. Kaum hatte Fritzchens Mutter diesen Satz ausgesprochen, ist Fritzchen losgeflitzt, durch das Haus gerannt, über die Diele nach draußen, zum Gartenzaun – zu seiner Lieblingsstelle, denn von dort hatte Fritzchen die ganze Straße im Blick. Und dann hat Fritzchen gewartet. Durch nichts und niemanden war Fritzchen dazu zu bewegen, wieder ins Haus zu gehen«.

Bei Fritzchens Geburt war es zu Komplikationen gekommen. Ein Sauerstoffmangel führte zu einer frühkindlichen Hirnschädigung mit geistiger Behinderung. Bis auf wenige Einschränkungen verlebte Fritzchen dennoch eine normale Kindheit, wurde von seiner Familie liebevoll versorgt. Da er in der Familie und in seinem Heimatort gut integriert war, wurde das Gesundheitsamt erst spät auf ihn aufmerksam. Im Juli 1944 wurde er von der Amtsärztin Meyer an den »Reichsausschuss« gemeldet und damit die Behandlung in einer »Kinderfachabteilung« eingeleitet.

Sechs Wochen später wurde der Junge gegen den Willen der Eltern abgeholt und mit polizeilicher Verfügung in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg zwangseingewiesen. Fritzchen litt sehr unter der Trennung von seiner Familie, er bekam Wutausbrüche und verletzte sich selbst, zerstörte die wenigen Habseligkeiten, die er besaß. Da er wohl auch viel weinte und schrie, wurde er zunächst mit Luminal ruhig gestellt – »3 + 1 Tabletten« sind in der Krankengeschichte notiert.

Ab Mitte November verschlechterte sich Fritzchens allgemeine Verfassung rapide, wohl nicht nur aufgrund der Medikamenteneinnahme, sondern auch aufgrund der Mangelversorgung. Weil Krieg war, erhielten Fritzchens Eltern nur ein einziges Mal eine Besuchserlaubnis. Sie mussten sich daher brieflich nach seinem Gesundheitszustand erkundigen. Der Ärztliche Direktor Bräuner beantwortete ihre Erkundigungen: »Geistig ist er bisher nicht weiter gekommen […] Im November hat der Junge eine zeitlang Durchfall gehabt […] und seit dem besteht die Neigung zu einem Mastdarm. […] der Kräftezustand hat sich verschlechtert.«

Zwei Wochen später wurde Fritzchen Wehde entweder durch eine Überdosis Luminal ermordet oder er verhungerte, beides ist möglich. Seine offizielle Todesursache lautete »Dickdarmkatarrh«. Zur Beruhigung der Eltern behauptete Bräuner zudem, eine geistige Weiterentwicklung sei bei Fritzchen ausgeschlossen gewesen, weil die Hirnschäden infolge einer Hirnhautentzündung zu groß gewesen seien. Diese Information machte die Familie stutzig, denn Fritzchen war nie an einer Hirnhautentzündung erkrankt. Daher bestand früh der Verdacht, bei Fritzchens Tod sei nachgeholfen worden.

Fritzchens Leichnam wurde auf dem damaligen Anstaltsfriedhof beerdigt, sein Grab trug die Grabnummer 242a. Fritzchens Familie bemühte sich verzweifelt an der Beisetzung teilzunehmen. Sie erhielt jedoch keine Fahrerlaubnis.

Die »Zwillingshäuser« in Horst, in einem der Häuser ist Fritzchen Wehde aufgewachsen.

Privatbesitz Uta Wehde.

Fritzchen Wehde und seine Tante Wilma vor einem der beiden »Zwillingshäuser«, ca. 1940. Heute lebt Fritzchens Neffe in
diesem Haus.

Privatbesitz Uta Wehde.

Fritzchen Wehde mit seiner Großmutter Minna, ca. 1941/1942.

Privatbesitz Uta Wehde.

Hans-Herbert Niehoff

Hans-Herbert Niehoff wurde acht Jahre alt. Er wurde am 30. Oktober 1933 in Hannover geboren. Seine Eltern waren der Drogist Hans-Hermann Niehoff und seine Frau Marie Niehoff, geborene Appel. Bereits im Alter von sieben Monaten gaben seine Eltern ihn in ein Kinderheim in Hannover-Mecklenheide. Am 30. November 1934 kam Hans-Herbert aufgrund einer schweren Lungentuberkulose in die Heilanstalt Heidehaus Hannover. Als er nicht einmal zwei Jahre alt war, verstarb dort auch seine Mutter Marie an Tbc. Es ist anzunehmen, dass Mutter und Kind in der Zeit ihres gemeinsamen Aufenthaltes miteinander Kontakt hatten.

Nach dem Tod der Mutter dauerte es noch zwei weitere Jahre, bis das Heidehaus eine Unterbringung von Hans-Herbert in der Landes- Heil- und Pflegeanstalt Hannover-Langenhagen empfahl. Am 19. April 1937 erfolgte seine Einweisung in die Anstalt, zunächst nur zur Beobachtung. Sein Vater war zwischenzeitlich nach Algermissen in den Landkreis Hildesheim gezogen. In der Anstalt Hannover-Langenhagen angekommen, wurde Hans-Herbert als »stumpf« und »blödsinnig« bezeichnet. Seine Diagnose lautete »angeborener Schwachsinn«. Damit war sein weiterer Lebensweg entschieden.

Am 31. Mai 1937 wechselte Hans-Herbert auf die Kinderstation und blieb dort bis zu seiner Verlegung in die Anstalten der Inneren Mission Rotenburg im Jahr 1938. Der letzte Eintrag vor seiner Verlegung nach Rotenburg lautete: »Zuweilen erhöhte Temperatur. Springt gern umher. Macht sonst keine Fortschritte. Tiefstehender Junge, trotzdem er ganz niedlich aussieht.«

In Rotenburg wurde Hans-Herbert einfach nur verwahrt. Erst über ein halbes Jahr nach seiner Ankunft erfolgte der erste Eintrag. Bis zu seiner Verlegung in die »Kinderfachabteilung« Lüneburg folgten nur noch zwei weitere Einträge, der letzte folgenschwer: »Kommt geistig nicht weiter, spielt nicht geordnet, läuft meist planlos umher. Bildungsunfähig.« Weil die Mutter verstorben und der Vater inzwischen als Sanitäter an der Front war, ging die Mitteilung über die Verlegung in die »Kinderfachabteilung« direkt an die Großmutter.

Hans-Herbert Niehoff hatte fast sein gesamtes Leben in einem Heim bzw. in einer Anstalt verbracht, als er am 30. März 1942 im Alter von acht Jahren in Lüneburg starb. Die wenigen Eintragungen in der Krankenakte von Hans-Herbert aus seiner Lüneburger Zeit deuten darauf hin, dass er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ermordet wurde. In der Akte finden sich widersprüchliche Angaben zur Todesursache und zum Todeszeitpunkt.

Hans-Herberts Großmutter Marta, die aufgrund des Fronteinsatzes des Vaters die Vormundschaft besaß, wurde per Post über den Tod ihres Enkels informiert. Es ist unwahrscheinlich, dass sie oder ein anderes Familienmitglied an der Beerdigung teilnahmen. Es gibt keine Hinweise darauf, dass sich die Familie in irgendeiner Weise für ihren Jungen interessiert hatte. In den sieben Jahren, in denen Hans-Herbert in verschiedenen Einrichtungen gelebt hatte, erkundigten sich Vater und Großmutter kein einziges Mal nach ihm. Erst mit dem Tod von Hans-Herbert fragte der Vater nach der Krankheitsgeschichte. Die Großmutter interessierte nur ein Schaukelpferd, das auf seinen Stationen durch verschiedene Heime und Anstalten wohl verloren gegangen war.

Hans-Herbert Niehoff im Alter von viereinhalb Jahren, Aufnahme-Foto der Anstalten der Inneren Mission Rotenburg März 1938.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 334.

Helmut Quast

Helmut Quast wurde am 22. Januar 1930 in Neuenfelde-Nincop im Kreis Jork im Alten Land geboren. Über seine Eltern ist wenig bekannt. Der Vater Jonny Quast war Landwirt, später Frontsoldat und fiel im Krieg. Die Mutter Emma Matilde Quast war nach gescheiterter erster Ehe mit Helmut Quasts Vater neu verheiratet und brachte noch zwei Kinder zur Welt. Helmut lebte bei seiner Mutter auf dem Kleenlof-Hof. Nach der Wiederheirat zogen sie nach Estebrügge und von dort 1936 nach Borstel im Kreis Stade.

Die Einweisung von Helmut Quast in eine Anstalt erfolgte auf Veranlassung des Amtsarztes des Gesundheitsamtes des Kreises Stade. Der Amtsarzt stellte bei einer Untersuchung von Helmut fest, dass er »blöde« sei und auf einer Hilfsschule besser aufgehoben wäre, dort zumindest Fertigkeiten für das spätere Leben erlernen könnte. Auch seine Klassenlehrerin befürwortete den Schulwechsel.

Der Amtsarzt beauftragte das Kreiswohlfahrtsamt damit, Helmut in den Rotenburger Anstalten der Inneren Mission unterzubringen, die über die geforderte Hilfsschule verfügten. Er begründete seine Entscheidung, Helmut sei »infolge seiner Unberechenbarkeit und seines heimtückischen Wesens für die anderen Kinder und für sich selbst eine Gefahr«. Er kam daraufhin am 14. Januar 1938 in den Rotenburger Anstalten an und besuchte fortan die Unterstufe der Anstaltsschule.

Obwohl Helmut ein eher unauffälliger »Patient« war, wurde von ärztlicher Seite an der Ausgangsbeurteilung festgehalten und galt weiterhin als »persönlichkeitsgestört«. Die Lehrer der Hilfsschule beurteilten Helmut differenzierter als die Ärzte. Im Beurteilungsbogen heißt es: »Hier unter Aufsicht merkt man wenig von den gefährlichen Anlagen, die in der Akte verzeichnet sind«.

Erst 1939 ist notiert, seine »Rohheiten« würden sich wieder mehr zeigen. Dies stand in engem Zusammenhang mit der Wiederheirat seines Vaters und mit dem Verwehren eines Urlaubes bei seiner Mutter. Solche sozialen Faktoren wurden bei der Bewertung von Helmuts Verhalten aber nicht berücksichtigt. Kurz vor seiner Verlegung nach Lüneburg wurde eingetragen: »Ziemlich schwieriger
Junge, der stets zur Arbeit angehalten werden muß«. In Lüneburg findet sich erst zwei Monate nach seiner Ankunft der erste Eintrag in seiner Patientenakte: »Keine Entwicklung, […] stumpfer, antriebsloser Junge, meist abgelenkt und einfältig und brutal anderen Jungen gegenüber. Muss zu allem angehalten werden, hilft ab und an mit […].«

Im Alter von zwölf Jahren starb Helmut am 1. März 1942 in der »Kinderfachabteilung«. Als Todesursache wurde »krupöse Lungenentzündung« angegeben. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wurde Helmut mit dem Medikament Luminal getötet. Wie andere Kinder wurde Helmuts Leichnam seziert. Helmut sollte drei Tage nach seinem Tod auf dem Anstaltsfriedhof, dem heutigen Friedhof Nordwest, beerdigt werden. Im Verzeichnis der Kindergräber im Begräbnisbuch 1922 – 1948 der Stadt Lüneburg findet sich jedoch kein Eintrag. Bis heute ist unbekannt, wo Helmut Quasts Leichnam bestattet wurde.

Herta Ley

Herta Ley wurde am 9. Oktober 1930 in Westrhauderfehn, Kreis Leer, geboren. Sie erkrankte mit zwei oder drei Jahren an einer Hirnhautentzündung. Ihr Vater Wessel Ley war Arbeiter und Landwirt. Über die Mutter Gesine Ley ist wenig dokumentiert. Sie arbeitete in der Landwirtschaft mit und hielt ab 1939 den Hof. Herta hatte eine zwei Jahre jüngere Schwester Ilse.

Herta Ley wurde im Alter von fast fünf Jahren in die Rotenburger Anstalten der Inneren Mission aufgenommen. Die Einweisung wurde durch den Kreisarzt veranlasst, der bei einer gelegentlichen Untersuchung einen »angeborenen Schwachsinn schwersten Grades« feststellte. Bei der Aufnahme gaben die Eltern an, Herta könne ein paar Worte sprechen, gehen, sitzen und stehen, jedoch wurden diese Angaben bezweifelt und die Diagnose »Idiotie« gestellt, . Auch fehlen in den Arztberichten Zuschreibungen wie »unsauber«, »kann nicht alleine essen« etc., sodass angenommen werden kann, dass Herta bei ihrer Aufnahme tatsächlich in einem gewissen Maße selbstständig war.

Herta wurde zu Weihnachten beurlaubt und hin und wieder von ihrer Mutter besucht. Herta nahm in der Rotenburger Anstalt jedoch eine schlechte Entwicklung. Sie verlernte das Laufen, Sprechen und verlor ihre Selbständigkeit. Offenbar wurde sie nicht gefördert und stattdessen vernachlässigt. Kurz vor ihrer Verlegung nach Lüneburg 1941 heißt es abschließend »Ganz tiefstehendes Mädchen, das sich selbst schlägt und beißt.« Zwei Monate später schrieb der Lüneburger Arzt Willi Baumert über Herta: »Völlig tiefstehend und offenkundig bildungsunfähig«.

Im November 1941 wurde an die Eltern ein Schreiben geschickt, das sie darüber in Kenntnis setzte, dass ihre Tochter hochfieberhaft an einem Bronchialkatarrh erkrankt sei. In der Akte ist hierzu nichts vermerkt. Vermutlich war Herta gar nicht erkrankt, sondern wurden ihre Eltern versehentlich angeschrieben.

Laut Akte erkrankte Herta erst Ende Januar / Anfang Februar 1942 fieberhaft. Sie starb am 3. Februar 1942 im Alter von elf Jahren. Die in der Todesanzeige angegebene offizielle Todesursache lautete »doppelseitige Lungentuberkulose«, obwohl sich hierzu kein einziger Eintrag in ihrer Krankenakte findet. Hierbei bezog sich Willi Baumert auf vermeintliche Tuberkulose-Vorerkrankungen von Herta. Doch diese hatte es nie gegeben. Das geht aus zwei Arztberichten hervor, die 1936 und 1940 erstellt wurden. Zweimal war Herta Ley mit Verdacht auf Lungen-Tbc untersucht worden, beide Untersuchungen waren jedoch ohne Befund. Bei der Untersuchung 1940 wurde sogar festgestellt: »Der Durchleuchtungsbefund liess nichts für eine Tbc. erkennen, jedoch einen Herzfehler vermuten, möglicherweise einen angeborenen. […] Lungenfelder einwandfrei«.

An den Vater, der zur gleichen Zeit im Lager Löningen seinen Heimatschutzdienst leistete, gingen noch am Todestag ein Telegramm und ein ausführliches Schreiben. Darin hieß es: »Wie ich Ihnen bereits telegraphisch mitteilte ist Ihre Tochter Herta Ley heute Vormittag 3,30 Uhr sanft entschlafen.« Sie wurde drei Tage später auf dem Anstaltsfriedhof, dem heutigen Friedhof Nord-West, bestattet.

Im Strafprozess wegen Mordes gegen Dr. Max Bräuner, Dr. Willi Baumert und die Pflegerin der Mädchenstation Dora Vollbrecht 1962 – 1966 wurde Hertas Krankenakte am 12. Juni 1963 als Beweisstück angeführt. In ihrer Befragung konnte Dora Vollbrecht die Tötung vieler namentlich benannter Kinder jedoch nicht mehr erinnern. 1966 wurde Dora Vollbrecht außer Verfolgung gesetzt, 1980 das Strafverfahren gegen sie wegen Verfahrensunfähigkeit endgültig eingestellt.

Nach dem Tod von Herta bekam ihre Mutter Gesine noch zwei Mädchen, Wilma und Hanne. Weil Hanne am gleichen Tag geboren wurde wie Herta, sollte sie erst den Namen Herta tragen. Erna, die Schwester von Gesine, verhinderte dies. Sie hatte sich um Herta gekümmert, bevor diese in die Anstalt aufgenommen wurde und erzählte später von ihr. Ihre Schwester Hanne trug zur Aufarbeitung von Hertas Schicksal bei.

Herta Ley, ca. Frühjahr 1932.

Privatbesitz Familie Herlyn und Hamel.

Wilma und Ilse Ley, Franz Hamel, Hanne, Gesine und Wessel Ley (von links nach rechts), September 1956.

Privatbesitz Familie Herlyn und Hamel.