Addo und Hermann Eisenhauer

Addo Eisen-Hauer ist am 17. Oktober 1928 geboren.
Sein Bruder heißt Hermann.
Hermann ist zwei Jahre jünger als Addo.
Der Vater ist un-bekannt.
Ihre Mutter stirbt.
Da sind sie noch Kinder.
Addo und Hermann leben bei ihren Groß-Eltern.
Ein Amts-Arzt entscheidet:
Die Groß-Eltern können nicht auf die Kinder auf-passen.
Sie sind zu alt.
Addo und Hermann müssen in eine Anstalt.
Addo und Hermann müssen in die Kinder-Fach-Abteilung.

Das ist im Jahr 1942.
Addo und Hermann sind 14 und 12 Jahre alt.

Addo und Hermann sind im Haus drei-und-zwanzig.
Sie müssen arbeiten.
Der Arzt will wissen:
Schafft Addo seine Arbeit.
Schafft Hermann seine Arbeit.

Addo schafft seine Arbeit nicht.
Der Arzt entscheidet:
Addo ist unnütz.
Addo soll nicht mehr leben.

Darum wird Addo ermordet.
Sein Bruder Hermann ist dabei.

Addo stirbt am 16. März 1944.
Da ist er fünf-zehn Jahre alt.

Er wird begraben.
Sein Grab ist auf dem Fried-Hof der Anstalt.
Es ist ein Grab für Erwachsene.

Hermann über-lebt die Kinder-Fach-Abteilung.
Er wird nicht ermordet.
Er bleibt in der Anstalt in Lüneburg.
Auch als der Krieg schon aus ist.

Viele Jahre später kommt er in eine andere Anstalt.
Das ist im Jahr 1954.
Diese zweite Anstalt ist in Haina.
Mehr ist nicht bekannt.

Hermann bleibt zehn Jahre in Haina.
Danach kommt er in die Anstalt nach Göttingen.
Dort stirbt er am 6. April 1973.
Da ist er zwei-und-vierzig Jahre alt.

Das ist ein Brief.
Der Brief ist von den Groß-Eltern von Addo und Hermann.
Der Brief ist an die Anstalt in Lüneburg.
Die Groß-Eltern fragen:
Wie geht es Addo?
Wie geht es Hermann?
Sie bitten:
Addo und Hermann sollen zurück schreiben.

Das ist eine Nachricht.
Von einem Arzt.
Darin steht:
Hermann hat keine Eltern.
Seine Groß-Eltern leben noch.
Hermann kann nicht zur Schule gehen.
Hermann ist ein guter Mensch.
Er ist fröhlich.

Addo und Hermann Eisenhauer

Adolf (Addo) Eisenhauer wurde am 17. Oktober 1928 in Dietrichsfeld im Kreis Aurich geboren. Sein jüngerer Bruder Hermann Eisenhauer wurde am 18. Juli 1930 geboren. Ihre Mutter Anna Susanna Eisenhauer war zum Zeitpunkt der Aufnahme ihrer beiden Söhne am 28. September 1942 bereits verstorben. Vermutlich wurden die Kinder spätestens nach dem Tod der Mutter durch die Großeltern Charlotte und Wilhelm Eisenhauer aufgezogen. Laut amtsärztlichen Gutachten seien die Kinder auch deswegen aus ihrer gewohnten Umgebung zu nehmen gewesen, weil die Großeltern die Pflege der Kinder aus Altersgründen nicht mehr hätten gewährleisten können.

Addo und Hermann Eisenhauer wurden in Haus 23 untergebracht. Sie blieben zusammen. Bei der ärztlichen Begutachtung während ihres Aufenthaltes ging es weniger um psychiatrische oder medizinische Aspekte als vielmehr immer wieder um Fragen ihrer Arbeitstauglichkeit. Es ging bei den jugendlichen Patientinnen und Patienten in der »Kinderfachabteilung« darum, in sogenannten »Arbeitsversuchen« zu testen, ob sie zur Arbeit brauchbar waren.

Addos Versagen in der Arbeitstherapie – er war 15 Jahre alt – kostete ihn letztendlich das Leben. Die letzten Einträge dokumentieren seinen rasanten körperlichen Abbau und seinen elenden Tod. Er starb am 16. März 1944 um 4.30 Uhr morgens. Mit Sicherheit war sein Bruder in seiner Nähe, als er ermordet wurde. Addo Eisenhauer wurde nicht auf dem »Kindergräberfeld« auf dem Anstaltsfriedhof bestattet, sondern in einem Erwachsenengrab, da zum Zeitpunkt seines Todes kein Kindersarg vorrätig war.

Es ist nirgends dokumentiert, wie Hermann die Ermordung des Bruders erlebte und verarbeitete, weshalb und wie es ihm gelang am Leben zu bleiben. Er gehört zu den rund 40 Prozent Kindern und Jugendlichen, die den Aufenthalt in der »Kinderfachabteilung« überlebten. Hermann blieb bis 17. Dezember 1954 Patient der Lüneburger Anstalt. Zu seiner Entlassung in eine Einrichtung nach Haina notierte der entlassende Arzt: »Er ist unehelich geboren, die Mutter ist tot, der Erzeuger unbekannt. Die Großeltern sollen noch in Dietrichsfeld leben. E. war anfänglich hier auf der Kinderstation und erwies sich als bildungsunfähig imbezill, selten eigensinnig, überwiegend gutartig und heiter. So ist er bis heute geblieben.«

Am 24. Juni 1964 wurde Hermann Eisenhauer in das Niedersächsische Landeskrankenhaus Göttingen verlegt. Dort starb er im Alter von 42 Jahren am 6. April 1973.

»Wir sind die alten Eltern von Addo und Hermann. Bitte geben Sie uns doch bald Nachricht darüber, was sie dort machen. […] Bitte, bitte laß die beiden ihrer Mama und Vater […] schreiben.«

Schreiben der Großeltern in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg vom 3.11.1942.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 233.

»Er ist unehelich geboren, die Mutter ist tot, der Erzeuger unbekannt. Die Großeltern sollen noch in Dietrichsfeld leben. E. war anfänglich hier auf der Kinderstation und erwies sich als bildungsunfähig imbezill, selten eigensinnig, überwiegend gutartig und heiter. So ist er bis heute geblieben.«

Notiz vom 14.12.1954 in Krankenakte von Hermann Eisenhauer.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 233.

Gisela und Hermann Winter

Gisela und Hermann Winter, geboren 1927 und 1929, waren zwei von insgesamt sechs Kindern der Eltern Anna Frieda und Heinrich Ludwig Winter aus Hannover-Döhren. Obwohl Hermann Winter bereits mit einem Jahr laufen und mit eineinhalb Jahren sprechen konnte, wurde er nach der 6. Klasse als »bildungsunfähig« aus der Schule entlassen. Seine Schwester Gisela erkrankte im Alter von zwölf Jahren an Epilepsie. Beide wurden im März 1941 zum Zweck eines »Heilungsversuches« in die Anstalten der Inneren Mission Rotenburg aufgenommen. Wegen des Verdachts einer Tuberkulose stellte man sie von der Verlegung am 9. und 10. Oktober 1941 zurück. Sie wurden daher erst am 12. Februar 1942 als »Nachzügler« von ihrer älteren Schwester Hertha Winter zur Aufnahme in die Lüneburger »Kinderfachabteilung« gebracht. Gisela kam ins Haus 25, Hermann ins Haus 23.

Sechs Wochen nach der Aufnahme, am 5. April 1942, erhielten die Kinder Besuch von ihrer Mutter. Es war der einzige und letzte Besuch. Da Hermann als »ordentlich«, »willig« und »fleißig« beurteilt wurde, wurde er am 16. April 1942 nach Lemgo in die Stiftung Eben-Ezer verlegt. Diese Verlegung bedeutete zunächst seine Rettung. Anders erging es seiner Schwester. Sie wurde nur einen Monat später am 14. Mai 1942 ermordet. Vier Tage später wurde sie in einem Sarg für erwachsene Leichname bestattet, da es zum Zeitpunkt ihres Todes wohl keinen Kindersarg gab. Das ist der Grund, weshalb Gisela zu den insgesamt acht Kindern gehört, die nicht auf dem Kindergräberfeld, sondern auf einem Gräberfeld der erwachsenen Patientinnen und Patienten auf dem Anstaltsfriedhof beerdigt wurde.

Am 27. Januar 1944 wurde Hermann Winter in die »Kinderfachabteilung« zurückverlegt. Zum einen hatte er bei einem Beschulungsversuch keine Erfolge erzielt, zum anderen sollte auf diese Weise verhindert werden, dass ein Rettungsversuch der Eltern gelang. Sie hatten versucht, Hermann aus der Pflegefamilie zu entführen, bei der er als Hilfsarbeiter untergebracht war. Zurück in Lüneburg schien Hermann sich sofort nützlich gemacht zu haben. Abteilungspflegerin Dora Vollbrecht notierte in seiner Krankengeschichte, er sei ein: »charakterlich ordentlicher Junge, der sich bei Hausarbeit und kleinen Handreichungen bewährt«. Die Eltern ließen nichts unversucht, ihren Sohn zu retten bzw. zurück nach Hause zu holen und beantragten einen dreiwöchigen »Urlaub«. Obwohl laut Akte von Hermann eine »Fluchtgefahr« ausging, wurde der Urlaub genehmigt und am 11. November 1944 verlängert. Er kehrte nie wieder in die »Kinderfachabteilung« zurück.

Auszug aus der Krankengeschichte von Hermann Winter, Seite 1.

NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 2180.

Das ist ein Arzt-Bericht.
Darin steht:
Hermann ist ordentlich.
Hermann ist fleißig.
Hermann hilft sehr viel.
Das rettet sein Leben.
Er wird nicht ermordet.

Gisela und Hermann Winter

Gisela und Hermann Winter sind Geschwister.
Sie sind 1927 und 1929 geboren.
Sie haben noch vier weitere Geschwister.
Ihre Eltern sind Anna und Heinrich.
Die Familie kommt aus Hannover.

Hermann hat eine Behinderung.
Er schafft die Schule nicht mehr.
Gisela hat Anfälle.

Sie kommen in eine Anstalt nach Roten-Burg.
Dort sollen sie gesund werden.
Aber sie bekommen eine Lungen-Krankheit.
Das ist im Herbst 1941.
Drei Monate später kommen sie nach Lüneburg.
Sie kommen in die Anstalt.
Ihre Schwester Hertha bringt sie.
In die Kinder-Fach-Abteilung.
Gisela kommt in das Haus fünf-und-zwanzig.
Hermann kommt in das Haus drei-und-zwanzig.
Gisela und Hermann werden getrennt.

Gisela und Hermann bekommen Besuch.
Ihre Mutter besucht sie.
Ein einziges Mal.

Hermann gibt sich Mühe.
Er strengt sich an.
Er will alles richtig machen.
Er wird in eine andere Anstalt verlegt.
Die ist in Lemgo.
Das ist seine Rettung.
Er wird nicht ermordet.

Gisela bleibt in der Anstalt in Lüneburg.
Sie wird ermordet.
Sie stirbt am 14. Mai 1942.
Sie wird auf dem Fried-Hof der Anstalt begraben.
In Lemgo muss Hermann arbeiten.
Er kommt in eine Pflege-Familie.
Da muss er auch schwer arbeiten.

Die Eltern von Hermann finden das nicht gut.
Sie wollen ihn ab-holen.
Sie bekommen keine Erlaubnis.
Also nehmen sie ihn ohne Erlaubnis mit.
Aber sie werden erwischt.

Das darf nicht noch einmal passieren.
Darum kommt Hermann zwei Jahre später zurück.
Er wird von Lemgo nach Lüneburg verlegt.
Er kommt wieder in die Kinder-Fach-Abteilung.
Damit seine Eltern ihn nicht retten können.

Hermann arbeitet auch in der Anstalt in Lüneburg.
Er gibt sich sehr viel Mühe.
Er will nicht ermordet werden.
Das findet die Pflegerin gut.

Die Eltern geben nicht auf.
Sie wollen Hermann wieder haben.
Sie wollen ihn retten.
Sie beantragen einen Urlaub.
Endlich sagt ein Arzt:
Hermann darf Urlaub machen.
Er darf nach Hause.
Er kommt nie wieder zurück in die Anstalt.
Er über-lebt die Kinder-Fach-Abteilung.

Das ist ein Arzt-Bericht.
Es ist der Bericht über Hermann.

Das ist ein Arzt-Bericht.
Darin steht:
Hermann ist ordentlich.
Hermann ist fleißig.
Hermann hilft sehr viel.
Das rettet sein Leben.
Er wird nicht ermordet.

Günther und Hermann Bruchmüller

Günther Bruchmüller und Hermann sind Brüder.
Günther ist 2 Jahre älter als Hermann.
Sie sind 1933 und 1935 geboren.
Sie haben auch noch zwei Schwestern.

Ihr Vater kann sich nicht um seine Kinder kümmern.
Er hat eine Kriegs-Verletzung.

Die Mutter kann sich auch nicht kümmern.
Sie ist in einem Konzentrations-Lager.
Das ist ein Gefängnis für Unschuldige.
Dort sterben viele Menschen an Hunger.
Oder sie müssen sich tot arbeiten.
Oder sie werden für kleine Fehler getötet.

Darum leben die Kinder in Kinder-Heimen.
Das letzte Kinder-Heim ist in Wunstorf.
Das ist in der Nähe von Hannover.

Nur Günther und Hermann kommen von Wunstorf nach Lüneburg.
Sie kommen 1942 in die Kinder-Fach-Abteilung.
Das entscheidet ein Arzt Willi Baumert.
Er arbeitet in dem Kinder-Heim in Wunstorf.
Und er leitet die Kinder-Fach-Abteilung in Lüneburg.

Günther und Hermann bleiben nicht in Lüneburg.
Weil sie zur Schule gehen können.
Sie kommen aus der Kinder-Fach-Abteilung wieder raus.
Sie kommen in ein Heim nach Lemgo.
Dort gibt es eine Schule.
Dort haben sie eine Chance zu über-leben.

Für Günther ist die Schule zu schwer.
Er kommt zurück nach Lüneburg.
Er kommt wieder in die Kinder-Fach-Abteilung.
Das ist 1944.
Sein Bruder Hermann bleibt in Lemgo.

Günther hat Glück.
Er wird nicht ermordet.
Er überlebt die Kinder-Fach-Abteilung.

Dann ist der Krieg aus.
Günther bleibt in der Kinder-Fach-Abteilung.
Auch als Erwachsener bleibt er in der Anstalt.
Er wohnt nun dort.

Er stirbt am 2. Dezember 1956.
Nach einer Operation.

Hermann bleibt viele Jahre in Lemgo.
Er denkt viel an seinen Bruder Günther.
Darum fragt er nach.
Hermann will wissen:
Wie geht es meinem Bruder Günther?
Was erlebt er in Lüneburg?

Hermann geht nicht mehr zur Schule.
Er ist erwachsen.
Er arbeitet auf einem Bauern-Hof.

Hermann bekommt den Brief von seinem Bruder.
Er kann nicht schreiben.
Darum schreibt ein Arzt von der Anstalt.
Der Arzt schreibt:
Günther geht es gut.
Günther arbeitet im Fahr-Dienst der Anstalt.
Er ist gut gelaunt.
Er hat Vertrauen in andere Menschen.
Er ist fleißig.

Die Schwester Alwine ist erwachsen.
Sie ist verheiratet.
Sie darf über Günther bestimmen.
Sie soll sich um Günther kümmern.

Niemand erzählt ihr von seinem Tod.
Sie erfährt es durch Zufall.

Dem Bruder Hermann wird auch nichts gesagt.
Er will seinen Bruder Günther treffen.
Er will Weihnachten mit ihm feiern.
Aber da ist Günther schon 2 Jahre tot.
Niemand hat Hermann Bescheid gesagt.

Das ist ein Formular.
Darin steht wichtiges über eine Person.
Zum Beispiel der Name und das Alter.
Hiermit werden Jugendliche erfasst.
Sie haben keine Eltern.
Oder die Eltern können sich nicht um sie kümmern.
Das ist das Formular zu Günther.

Das ist ein Brief.
Die Anstalt schreibt:
Günther kommt von Lemgo zurück nach Lüneburg.

Das ist ein Brief von der Schwester Alwine.
Alwine ist erwachsen.
Sie ist verheiratet.
Sie darf über Günther bestimmen.
Sie soll sich um Günther kümmern.

Aber niemand erzählt ihr von seinem Tod.
Sie erfährt es durch Zufall.

Das ist ein Brief von Lemgo nach Lüneburg.
Der Bruder Hermann will Günther treffen.
Er will Weihnachten mit ihm feiern.
Aber da ist Günther schon 2 Jahre tot.
Niemand hat Hermann Bescheid gesagt.

Günther und Hermann Bruchmüller

Günther Bruchmüller und Hermann gehören zu jenen Brüdern, die zunächst durch eine Verlegung in die Stiftung Eben-Ezer nach Lemgo gerettet zu sein schienen. Günther, geboren am 7. Mai 1933, war der Ältere von beiden. Auch sein eineinhalb Jahre jüngerer Bruder Hermann, geboren am 18. Januar 1935, kam in Lüneburg zur Welt. Die Brüder wurden am 25. November 1942 gemeinsam in der »Kinderfachabteilung« Lüneburg aufgenommen. Sie kamen nicht von zu Hause, sondern waren zunächst Patienten im Kinderhospital in Lüneburg, danach in der Pestalozzi-Stiftung in Burgwedel. Auch das Kinderheim Springe soll eine Station gewesen sein, und schließlich waren sie Fürsorgezöglinge im Provinzial- Jugendheim Wunstorf. Dort wurden sie durch den behandelnden Arzt Willi Baumert für eine Aufnahme in die ebenfalls von ihm geleitete »Kinderfachabteilung« selektiert. Ihre Geschwister Alwine und Helga blieben in Wunstorf.

Die Eltern waren der Kriegsinvalide Ludwig Bruchmüller und seine Frau Anna Marie. Zur Mutter vermerkte Baumert, dass sie aufgrund »Schwachsinns« sterilisiert worden sei und sich zum Zeitpunkt der Aufnahme ihrer beiden Söhne im »Konzentrationslager« befand.

Günther Bruchmüller kehrte am 27. Januar 1944 aus Lemgo zurück nach Lüneburg. Er wurde wie 23 weitere Jungen und Mädchen in die »Kinderfachabteilung« zurückverlegt. Er blieb in der Lüneburger Anstalt bis weit über das Kriegsende hinaus und gehört somit zu den Überlebenden der »Kinderfachabteilung«. Wenige Monate nach der Einrichtung einer neuen Pflegschaft starb er im Alter von 23 Jahren am 2. Dezember 1956 infolge einer Blinddarmoperation.

Erst zwei Wochen vor seinem Tod hatte sein Bruder Hermann den Kontakt zu ihm gesucht. Hermann war inzwischen in einer bäuerlichen Familienpflegestelle untergebracht und ließ über die Stiftung Eben-Ezer in der Lüneburger Anstalt anfragen, wie es seinem Bruder gehe. Er ließ nichts unversucht, die Verbindung zu seinem Bruder zu halten. Da er selbst nicht schreiben konnte, formulierte die Anstalt eine Antwort. Darin erfuhr Hermann, dass Günther inzwischen im Rahmen der Arbeitstherapie im Fahrdienst eingesetzt war. Er sei sehr nützlich, zutraulich und guter Dinge gewesen.

Die Schwester Alwine St. bemühte sich um die Pflegschaft für ihren Bruder Günther. Obwohl seine Schwester diese Pflegschaft ab Oktober 1956 besaß, wurde sie über den Tod ihres Bruders nicht informiert. Sie erfuhr von seinem Tod eher beiläufig durch einen Halbbruder. Auch Hermann erfuhr nichts vom Tod seines Bruders. Deswegen ließ er zwei Jahre später fragen, ob sich die Brüder einmal sehen dürften und dies an Weihnachten möglich sei. Hermann erfuhr daraufhin mit zwei Jahren Verspätung, dass sein Bruder nur wenige Tage nach seiner Kontaktaufnahme verstorben war.

Personalbogen männlicher Fürsorgezöglinge.

NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 3058.

Schreiben der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg an den Herrn Oberpräsidenten vom 29.1.1944.

NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 3058.

Schreiben von Alwine St. vom 30.7.1957.

NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 3058.

Schreiben der Anstalt Eben-Ezer an die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg vom 24.11.1958.

NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 3058.

Erika und Käte

Käte, geboren am 18. August 1938, war die ältere der beiden. Sie war ein Jahr und fünf Monate älter als ihre kleine Schwester Erika, geboren am 18. Januar 1940. Sie kamen beide gebürtig aus Masendorf im Landkreis Uelzen. Ihre Eltern waren der Landarbeiter Karl und seine Frau Martha Frieda.

Die Mädchen wurden gemeinsam am 15. Februar 1944 in die Lüneburger »Kinderfachabteilung« aufgenommen. Für beide – zum Zeitpunkt der Aufnahme in Lüneburg erst vier und fünfeinhalb Jahre alt – war die Lüneburger Anstalt nicht die erste Einrichtung. Zuvor waren sie in der Pestalozzistiftung in Großburgwedel untergebracht. Beiden wurde attestiert, sie seien nicht erziehungs- und bildungsfähig.

Willi Baumert beurteilte Käte, sie sei ein ruhiges, freundliches und im Grunde genommen sogar altersentsprechend entwickeltes Kind. Sie verstand, was man ihr gesagt habe, habe auf ihre Umgebung Acht gegeben, sich zu beschäftigen gewusst und auch viel mit anderen Kindern gespielt. Zudem habe sie mit ihren fünfeinhalb Jahren schon bis zwanzig zählen können, alle Farben korrekt zugewiesen, einwandfrei zwischen links und rechts unterschieden und auf Bildern dargestellte Dinge und Ereignisse erklären können. Das einzige, was Baumert an ihr aussetzte, war ihr Hang zur Unordnung.

Am 14. Juli 1944 – Käte und ihre Schwester Erika waren inzwischen fünf Monate in seiner Obhut – empfahl Baumert daraufhin: »Für Schule geeignet.«​ Das rettete ihr Leben. Am 2. August 1944 wurde Käte in die Stiftung Eben-Ezer nach Lemgo verlegt. Sie war eines von insgesamt 16 Kindern, die an diesem Tag nach Lemgo aufbrachen.

Käte und Erika wurden nicht getrennt. Sie blieben zusammen, weil auch Erika durch Baumert eine wohlwollende Beurteilung erhielt. Erika war – so lässt es die Beschreibung von Baumert zu – ein vollständig gesundes Kind, deren einziger Makel es war, eine Mutter gehabt zu haben, die sich laut Aktenvermerk der Verwaltung nicht ausreichend gekümmert habe.

Erika war mit ihren viereinhalb Jahren das mit Abstand jüngste Kind, das von Lüneburg in die Stiftung Eben-Ezer verlegt wurde. Da Erika zum Zeitpunkt ihrer Weiterverlegung nach Eben-Ezer noch weit von der Schulreife entfernt war, drängt sich auf, dass es Baumert bei ihrer Verlegung auch darum gegangen war, die Schwestern nicht zu trennen. Eine Entlassung nach Hause zur Mutter oder aber in eine Pflegefamilie war hingegen für ihn – das ist offensichtlich – keine infrage kommende Alternative. Erika wurde trotz mangelnder medizinischer Indikation erst am 6. August 1951 aus Lemgo nach Hause entlassen. Kätes Verbleib ist ungeklärt.

Krankengeschichte Käte.

NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 2912.

»Für Schule geeignet.«
Krankengeschichte Käte.

NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 2912.