Hans-Herbert Niehoff

Hans-Herbert Niehoff wurde acht Jahre alt. Er wurde am 30. Oktober 1933 in Hannover geboren. Seine Eltern waren der Drogist Hans-Hermann Niehoff und seine Frau Marie Niehoff, geborene Appel. Bereits im Alter von sieben Monaten gaben seine Eltern ihn in ein Kinderheim in Hannover-Mecklenheide. Am 30. November 1934 kam Hans-Herbert aufgrund einer schweren Lungentuberkulose in die Heilanstalt Heidehaus Hannover. Als er nicht einmal zwei Jahre alt war, verstarb dort auch seine Mutter Marie an Tbc. Es ist anzunehmen, dass Mutter und Kind in der Zeit ihres gemeinsamen Aufenthaltes miteinander Kontakt hatten.

Nach dem Tod der Mutter dauerte es noch zwei weitere Jahre, bis das Heidehaus eine Unterbringung von Hans-Herbert in der Landes- Heil- und Pflegeanstalt Hannover-Langenhagen empfahl. Am 19. April 1937 erfolgte seine Einweisung in die Anstalt, zunächst nur zur Beobachtung. Sein Vater war zwischenzeitlich nach Algermissen in den Landkreis Hildesheim gezogen. In der Anstalt Hannover-Langenhagen angekommen, wurde Hans-Herbert als »stumpf« und »blödsinnig« bezeichnet. Seine Diagnose lautete »angeborener Schwachsinn«. Damit war sein weiterer Lebensweg entschieden.

Am 31. Mai 1937 wechselte Hans-Herbert auf die Kinderstation und blieb dort bis zu seiner Verlegung in die Anstalten der Inneren Mission Rotenburg im Jahr 1938. Der letzte Eintrag vor seiner Verlegung nach Rotenburg lautete: »Zuweilen erhöhte Temperatur. Springt gern umher. Macht sonst keine Fortschritte. Tiefstehender Junge, trotzdem er ganz niedlich aussieht.«

In Rotenburg wurde Hans-Herbert einfach nur verwahrt. Erst über ein halbes Jahr nach seiner Ankunft erfolgte der erste Eintrag. Bis zu seiner Verlegung in die »Kinderfachabteilung« Lüneburg folgten nur noch zwei weitere Einträge, der letzte folgenschwer: »Kommt geistig nicht weiter, spielt nicht geordnet, läuft meist planlos umher. Bildungsunfähig.« Weil die Mutter verstorben und der Vater inzwischen als Sanitäter an der Front war, ging die Mitteilung über die Verlegung in die »Kinderfachabteilung« direkt an die Großmutter.

Hans-Herbert Niehoff hatte fast sein gesamtes Leben in einem Heim bzw. in einer Anstalt verbracht, als er am 30. März 1942 im Alter von acht Jahren in Lüneburg starb. Die wenigen Eintragungen in der Krankenakte von Hans-Herbert aus seiner Lüneburger Zeit deuten darauf hin, dass er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ermordet wurde. In der Akte finden sich widersprüchliche Angaben zur Todesursache und zum Todeszeitpunkt.

Hans-Herberts Großmutter Marta, die aufgrund des Fronteinsatzes des Vaters die Vormundschaft besaß, wurde per Post über den Tod ihres Enkels informiert. Es ist unwahrscheinlich, dass sie oder ein anderes Familienmitglied an der Beerdigung teilnahmen. Es gibt keine Hinweise darauf, dass sich die Familie in irgendeiner Weise für ihren Jungen interessiert hatte. In den sieben Jahren, in denen Hans-Herbert in verschiedenen Einrichtungen gelebt hatte, erkundigten sich Vater und Großmutter kein einziges Mal nach ihm. Erst mit dem Tod von Hans-Herbert fragte der Vater nach der Krankheitsgeschichte. Die Großmutter interessierte nur ein Schaukelpferd, das auf seinen Stationen durch verschiedene Heime und Anstalten wohl verloren gegangen war.

Hans-Herbert Niehoff im Alter von viereinhalb Jahren, Aufnahme-Foto der Anstalten der Inneren Mission Rotenburg März 1938.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 334.

Helmut Quast

Helmut Quast wurde am 22. Januar 1930 in Neuenfelde-Nincop im Kreis Jork im Alten Land geboren. Über seine Eltern ist wenig bekannt. Der Vater Jonny Quast war Landwirt, später Frontsoldat und fiel im Krieg. Die Mutter Emma Matilde Quast war nach gescheiterter erster Ehe mit Helmut Quasts Vater neu verheiratet und brachte noch zwei Kinder zur Welt. Helmut lebte bei seiner Mutter auf dem Kleenlof-Hof. Nach der Wiederheirat zogen sie nach Estebrügge und von dort 1936 nach Borstel im Kreis Stade.

Die Einweisung von Helmut Quast in eine Anstalt erfolgte auf Veranlassung des Amtsarztes des Gesundheitsamtes des Kreises Stade. Der Amtsarzt stellte bei einer Untersuchung von Helmut fest, dass er »blöde« sei und auf einer Hilfsschule besser aufgehoben wäre, dort zumindest Fertigkeiten für das spätere Leben erlernen könnte. Auch seine Klassenlehrerin befürwortete den Schulwechsel.

Der Amtsarzt beauftragte das Kreiswohlfahrtsamt damit, Helmut in den Rotenburger Anstalten der Inneren Mission unterzubringen, die über die geforderte Hilfsschule verfügten. Er begründete seine Entscheidung, Helmut sei »infolge seiner Unberechenbarkeit und seines heimtückischen Wesens für die anderen Kinder und für sich selbst eine Gefahr«. Er kam daraufhin am 14. Januar 1938 in den Rotenburger Anstalten an und besuchte fortan die Unterstufe der Anstaltsschule.

Obwohl Helmut ein eher unauffälliger »Patient« war, wurde von ärztlicher Seite an der Ausgangsbeurteilung festgehalten und galt weiterhin als »persönlichkeitsgestört«. Die Lehrer der Hilfsschule beurteilten Helmut differenzierter als die Ärzte. Im Beurteilungsbogen heißt es: »Hier unter Aufsicht merkt man wenig von den gefährlichen Anlagen, die in der Akte verzeichnet sind«.

Erst 1939 ist notiert, seine »Rohheiten« würden sich wieder mehr zeigen. Dies stand in engem Zusammenhang mit der Wiederheirat seines Vaters und mit dem Verwehren eines Urlaubes bei seiner Mutter. Solche sozialen Faktoren wurden bei der Bewertung von Helmuts Verhalten aber nicht berücksichtigt. Kurz vor seiner Verlegung nach Lüneburg wurde eingetragen: »Ziemlich schwieriger
Junge, der stets zur Arbeit angehalten werden muß«. In Lüneburg findet sich erst zwei Monate nach seiner Ankunft der erste Eintrag in seiner Patientenakte: »Keine Entwicklung, […] stumpfer, antriebsloser Junge, meist abgelenkt und einfältig und brutal anderen Jungen gegenüber. Muss zu allem angehalten werden, hilft ab und an mit […].«

Im Alter von zwölf Jahren starb Helmut am 1. März 1942 in der »Kinderfachabteilung«. Als Todesursache wurde »krupöse Lungenentzündung« angegeben. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wurde Helmut mit dem Medikament Luminal getötet. Wie andere Kinder wurde Helmuts Leichnam seziert. Helmut sollte drei Tage nach seinem Tod auf dem Anstaltsfriedhof, dem heutigen Friedhof Nordwest, beerdigt werden. Im Verzeichnis der Kindergräber im Begräbnisbuch 1922 – 1948 der Stadt Lüneburg findet sich jedoch kein Eintrag. Bis heute ist unbekannt, wo Helmut Quasts Leichnam bestattet wurde.

Herta Ley

Herta Ley wurde am 9. Oktober 1930 in Westrhauderfehn, Kreis Leer, geboren. Sie erkrankte mit zwei oder drei Jahren an einer Hirnhautentzündung. Ihr Vater Wessel Ley war Arbeiter und Landwirt. Über die Mutter Gesine Ley ist wenig dokumentiert. Sie arbeitete in der Landwirtschaft mit und hielt ab 1939 den Hof. Herta hatte eine zwei Jahre jüngere Schwester Ilse.

Herta Ley wurde im Alter von fast fünf Jahren in die Rotenburger Anstalten der Inneren Mission aufgenommen. Die Einweisung wurde durch den Kreisarzt veranlasst, der bei einer gelegentlichen Untersuchung einen »angeborenen Schwachsinn schwersten Grades« feststellte. Bei der Aufnahme gaben die Eltern an, Herta könne ein paar Worte sprechen, gehen, sitzen und stehen, jedoch wurden diese Angaben bezweifelt und die Diagnose »Idiotie« gestellt, . Auch fehlen in den Arztberichten Zuschreibungen wie »unsauber«, »kann nicht alleine essen« etc., sodass angenommen werden kann, dass Herta bei ihrer Aufnahme tatsächlich in einem gewissen Maße selbstständig war.

Herta wurde zu Weihnachten beurlaubt und hin und wieder von ihrer Mutter besucht. Herta nahm in der Rotenburger Anstalt jedoch eine schlechte Entwicklung. Sie verlernte das Laufen, Sprechen und verlor ihre Selbständigkeit. Offenbar wurde sie nicht gefördert und stattdessen vernachlässigt. Kurz vor ihrer Verlegung nach Lüneburg 1941 heißt es abschließend »Ganz tiefstehendes Mädchen, das sich selbst schlägt und beißt.« Zwei Monate später schrieb der Lüneburger Arzt Willi Baumert über Herta: »Völlig tiefstehend und offenkundig bildungsunfähig«.

Im November 1941 wurde an die Eltern ein Schreiben geschickt, das sie darüber in Kenntnis setzte, dass ihre Tochter hochfieberhaft an einem Bronchialkatarrh erkrankt sei. In der Akte ist hierzu nichts vermerkt. Vermutlich war Herta gar nicht erkrankt, sondern wurden ihre Eltern versehentlich angeschrieben.

Laut Akte erkrankte Herta erst Ende Januar / Anfang Februar 1942 fieberhaft. Sie starb am 3. Februar 1942 im Alter von elf Jahren. Die in der Todesanzeige angegebene offizielle Todesursache lautete »doppelseitige Lungentuberkulose«, obwohl sich hierzu kein einziger Eintrag in ihrer Krankenakte findet. Hierbei bezog sich Willi Baumert auf vermeintliche Tuberkulose-Vorerkrankungen von Herta. Doch diese hatte es nie gegeben. Das geht aus zwei Arztberichten hervor, die 1936 und 1940 erstellt wurden. Zweimal war Herta Ley mit Verdacht auf Lungen-Tbc untersucht worden, beide Untersuchungen waren jedoch ohne Befund. Bei der Untersuchung 1940 wurde sogar festgestellt: »Der Durchleuchtungsbefund liess nichts für eine Tbc. erkennen, jedoch einen Herzfehler vermuten, möglicherweise einen angeborenen. […] Lungenfelder einwandfrei«.

An den Vater, der zur gleichen Zeit im Lager Löningen seinen Heimatschutzdienst leistete, gingen noch am Todestag ein Telegramm und ein ausführliches Schreiben. Darin hieß es: »Wie ich Ihnen bereits telegraphisch mitteilte ist Ihre Tochter Herta Ley heute Vormittag 3,30 Uhr sanft entschlafen.« Sie wurde drei Tage später auf dem Anstaltsfriedhof, dem heutigen Friedhof Nord-West, bestattet.

Im Strafprozess wegen Mordes gegen Dr. Max Bräuner, Dr. Willi Baumert und die Pflegerin der Mädchenstation Dora Vollbrecht 1962 – 1966 wurde Hertas Krankenakte am 12. Juni 1963 als Beweisstück angeführt. In ihrer Befragung konnte Dora Vollbrecht die Tötung vieler namentlich benannter Kinder jedoch nicht mehr erinnern. 1966 wurde Dora Vollbrecht außer Verfolgung gesetzt, 1980 das Strafverfahren gegen sie wegen Verfahrensunfähigkeit endgültig eingestellt.

Nach dem Tod von Herta bekam ihre Mutter Gesine noch zwei Mädchen, Wilma und Hanne. Weil Hanne am gleichen Tag geboren wurde wie Herta, sollte sie erst den Namen Herta tragen. Erna, die Schwester von Gesine, verhinderte dies. Sie hatte sich um Herta gekümmert, bevor diese in die Anstalt aufgenommen wurde und erzählte später von ihr. Ihre Schwester Hanne trug zur Aufarbeitung von Hertas Schicksal bei.

Herta Ley, ca. Frühjahr 1932.

Privatbesitz Familie Herlyn und Hamel.

Wilma und Ilse Ley, Franz Hamel, Hanne, Gesine und Wessel Ley (von links nach rechts), September 1956.

Privatbesitz Familie Herlyn und Hamel.

Marianne Begemann

Marianne Begemann wurde am 3. Dezember 1929 in Esens, Kreis Wittmund in Ostfriesland, geboren. Ihr Vater war ursprünglich Domänen-Bauer, arbeitete aber ab 1928 als Arbeiter in einer Molkerei, weil nicht ihm, sondern dem jüngeren Bruder die Domäne übertragen wurde. Die Mutter litt selbst unter einer psychischen Erkrankung und war ab 1934/35 Patientin in verschiedenen Heil- und Pflegeanstalten. Marianne kam als viertes Kind zur Welt und hatte drei Brüder.

Marianne kam bereits im Alter von zwei Jahren in das Kinderheim Wittmund. Sie lernte zwar laufen, sprach aber nicht und benötigte Hilfe beim Essen und Trinken. Bei einer amtsärztlichen Besichtigung des Kinderheimes am 14. Juli 1940 fiel die dann schon elfjährige Marianne auf. Mit der Begründung, dass »die Hausmutter, […] fast gänzlich dadurch in Anspruch genommen wird und für die Betreuung der übrigen Kinder keine genügende Zeit mehr übrig behält« und aufgrund der bevorstehenden Geschlechtsreife, beantragte der Amtsarzt des Gesundheitsamtes Kreis Wittmund pflichtbewusst die Unterbringung von Marianne in den Anstalten der Inneren Mission Rotenburg. Die Mutter lehnte die Unterbringung ab und bemühte sich um eine häusliche Pflege ihres Kindes. Der Vater hingegen erklärte sich mit der Anstalt einverstanden. Der Amtsarzt folgte dem Vater, sodass Marianne im November in den Anstalten der Inneren Mission Rotenburg aufgenommen wurde.

Am 4. Januar 1941 notierte der Rotenburger Ärztliche Direktor Magunna den ersten Eintrag in ihrer Akte: »Sie macht einen völlig blöden Eindruck, zeigt keinerlei Anteilnahme an ihrer Umgebung; […]«. 1941 werden über Marianne nur 14 Worte verloren. Des Weiteren findet sich ein Stempel »Am 9.10.41 verlegt nach Lüneburg«.

Marianne erkrankt – wie die meisten ihrer Rotenburger Mitpatient*innen – wenige Wochen nach ihrer Ankunft in der Lüneburger »Kinderfachabteilung«. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wurde Marianne mit dem Medikament Luminal getötet. Der Vater wurde erst eine geraume Zeit nach Ausbruch der Krankheit, am 17. Dezember 1941, über den bedenklichen Gesundheitszustand seiner Tochter informiert. Der Wortlaut ist identisch mit Briefen, die an andere Eltern versandt wurden: »Ihr Kind [Vorname des Kindes] ist seit einigen Tagen hochfieberhaft erkrankt. Bei ihrer allgemeinen Hinfälligkeit ist der Zustand nicht unbedenklich.«

Am 20. Dezember 1941 stirbt Marianne im Alter von zwölf Jahren. Als Todesursache wird »doppelseitige Lungentuberkulose« angegeben. Marianne Begemann wurde kurz danach auf dem Anstaltsfriedhof, dem heutigen Friedhof Nord-West, bestattet. Man machte sich kaum Mühe bei der Dokumentation ihres Grabes. Im Gräberverzeichnis taucht sie als »Marianne Begmann« auf. Auch bei der Sektion nahm man es nicht so genau: Im Sektionsprotokoll wird sie als »Marianne Bergmann« bezeichnet. Nur ein Abgleich der Lebensdaten führt zur Gewissheit, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt, das Kind Marianne Begemann.

Familienangehörige von Marianne Begemann, vor 1914, Domäne Carolinensiel. Großmutter Anna-Henriette, Vater Wilhelm, Onkel Karl-Hilmer, unbekannt (von links nach rechts).

Privatbesitz Karl-Heinz Begemann.

Yvonne Mennen

Yvonne Mennen wurde am 6. Dezember 1938 in den Niederlanden geboren. Sie war gemeinsam mit ihrer Mutter Ida, einer geborenen Flämin aus Belgien, und zwei Geschwistern aus den Niederlanden geflohen. Zunächst kamen sie in Bienenbüttel in ein Flüchtlingslager der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), wurden dann aber wegen Unsauberkeit, Streitlust und angeblicher Geisteskrankheit in einer Armenunterkunft bei Familie Werner, Hausnummer 95, untergebracht. Schließlich wies man der Familie nur den Stall zu. Währenddessen war der Vater, Kanonier Hinderk Mennen, nach jahrelanger Staatenlosigkeit als Soldat im Kriegseinsatz und hatte hierdurch die deutsche Staatsbürgerschaft erlangt.

Ida Mennen gebar insgesamt elf Kinder, von denen fünf verstorben und drei in einem Kinderheim untergebracht gewesen sein sollen. Die zweieinhalbjährige Schwester und der achtjährige Bruder von Yvonne Mennen, die gemeinsam mit der Mutter aus den Niederlanden geflüchtet waren, seien dann wegen Krätze im Hilfskrankenhaus in Uelzen untergebracht worden und sollten nach ihrer Genesung in ein NSV-Kinderheim kommen, so gab eine niederländische NSV-Helferin bei der ärztlichen Begutachtung Auskunft.

Die Mutter habe ihre Kinder geschlagen und sie stundenlang halbnackt im kalten Raum allein gelassen, auch soll sie gedroht haben mit ihren Kindern »ins Wasser« zu gehen, also sich selbst und ihnen das Leben zu nehmen. Daraufhin diagnostizierte Dr. Sinn, Arzt in einer Privatklinik in der Bahnhofstraße 6 in Bad Bevensen, bei dem eine Elisabeth Wolter aus Bienenbüttel zuvor Meldung über die Familie Mennen gemacht hatte, dass bei der Mutter eine Psychopathie (Persönlichkeitsstörung) und bei Yvonne »schwere Debilität (Kind braucht dauernd Aufsicht)« vorliege.

Doktor Sinn wies beide in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg ein. Am 25. Oktober 1944 erfolgte die Aufnahme. Bereits vier Wochen später, am 26. November 1944, starb Yvonne Mennen im Alter von fast sechs Jahren. Die offizielle Todesursache lautete »Dickdarmkatarrh«. Sie wurde auf dem Kindergräberfeld bestattet. Ihre Mutter wurde am 2. März 1945 »gebessert entlassen«.

Rotenburger Anstalten der Inneren Mission

Die Rotenburger Anstalten der Inneren Mission (Rechtsnachfolger sind heute die »Rotenburger Werke«) waren und sind noch heute eine Einrichtung für Menschen mit Behinderungen in kirchlicher Trägerschaft. Das 1880 eingerichtete »Asyl für die Pflege Epileptischer« gehörte zu den größten Heil- und Pflegeeinrichtungen der Provinz Hannover.

Zwischen 1940 und 1941 sind unter der Leitung des Pastors Johannes Buhrfeind sowie des leitenden Arztes Dr. Kurt Magunna nach derzeitigem Forschungsstand mindestens 562 Patient*innen Opfer der »Aktion T4« geworden. Darüber hinaus beteiligten sich die Anstalten der Inneren Mission (bis 9. Januar 1940 unter ärztlicher Leitung von Dr. Wening) zwischen 1934 und 1942 umfangreich an der Zwangssterilisation. Nachweislich wurden mindestens 335 Bewohner*innen gegen ihren Willen unfruchtbar gemacht.

Ab Herbst 1941 dienten die Anstalten als Ausweichkrankenhaus, es wurde ein Reservelazarett eingerichtet. Lediglich 240 Bewohner*innen blieben, die übrigen wurden in andere Anstalten verlegt.
Hierzu gehörten auch die Kinder und Jugendlichen der »Kinderabteilung«, die aufgelöst wurde. Infolgedessen wurden am 9. und 10. Oktober 1941 138 Kinder und Jugendliche (unter ihnen acht Kinder mit Diphterie-Erkrankung) in die »Kinderfachabteilung« Lüneburg verlegt. 88 Prozent von ihnen starben, überwiegend in den Jahren 1942 und 1943. Nur neun Jungen und sieben Mädchen überlebten.

Darüber hinaus legen Krankenakten die Vermutung nahe, dass die Versorgung der Kinder und Jugendlichen in den Anstalten der Inneren Mission auch vor ihrer Verlegung im Herbst 1941, spätestens ab 1938, desolat gewesen war.

Die Rotenburger Werke der Inneren Mission arbeiteten ihre Geschichte ab 1990 auf. Hierzu gehörte nicht nur die Beschäftigung mit den Verbrechen im Nationalsozialismus, sondern auch die historisch-wissenschaftliche Aufarbeitung von Gewalt- und Zwangsmaßnahmen nach 1945 bis zum Jahr 2000.

»Kinderfachabteilung« Waldniel und Gedenkort Waldniel-Hostert

Ab 1941 wurde im ehemaligen »Schutzengelhaus« des ehemaligen St. Josefsheims der Franziskaner als Teil der Heil- und Pflegeanstalt Johannistal in Viersen-Süchteln eine »Kinderfachabteilung« betrieben, in der nach aktuellem Forschungsstand insgesamt 99 Kinder und Jugendliche untersucht, selektiert und ermordet wurden.

Der erste Leiter der »Kinderfachabteilung« Waldniel war Dr. Georg Renno. Er hatte gemeinsam mit Dr. Hermann Nitsche in Leipzig-Dösen gearbeitet und den Mord mit Barbituraten, das sogenannte »Luminalschema«, mitentwickelt. Danach war er stellvertretender Leiter der Tötungsanstalt Hartheim (bei Linz in Österreich), in der er im Rahmen der »Aktion T4« über 18.000 Menschen mit Kohlenmonoxid vergasen ließ.

Renno verließ die »Kinderfachabteilung« bereits nach wenigen Monaten im Februar 1942 aufgrund seiner Tuberkulose-Erkrankung. Ab 1. Oktober 1942 übernahm der Arzt Dr. Hermann Wesse die Leitung der Abteilung. Zuvor hatte seine Frau, Dr. Hildegard Wesse, die vorübergehende Leitung der »Kinderfachabteilung« inne. Wesse ließ sich unterdessen in der »Kinderfachabteilung« Göhrden sowie in der Bonner Kinderheilanstalt in der praktischen Handhabung der »Kinder-Euthanasie« fortbilden.

Im Zuge von Strafverfolgungen nach 1945 gestand Wesse in seiner Zeit als leitender Arzt Kinder und Jugendliche in der »Kinderfachabteilung« Waldniel ermordet zu haben. Die von ihm angegebene Zahl 30 entspricht nicht den später nachgewiesenen Todesfällen. In seiner Zeit sind tatsächlich mehr als doppelt so viele Kinder und Jugendliche ermordet worden.

Anfang Juli 1943 wurde die »Kinderfachabteilung« Waldniel kriegsbedingt aufgelöst. Die Einrichtung wurde als Ausweichkrankenhaus benötigt. Die verbliebenen 183 Kinder und Jugendlichen wurden in fünf andere »Kinderfachabteilungen« verlegt. Die Verlegungen erfolgten nach Ansbach, Göhrden, Uchtspringe, Ueckermünde und Lüneburg. Die »Kinderfachabteilung« Lüneburg nahm am 3. Juli 1943 insgesamt 38 Kinder und Jugendliche aus Waldniel auf. Mindestens 25 von ihnen überlebten nicht. Ein Kind wurde neun Wochen nach der Verlegung nach Lüneburg »ungeheilt entlassen«. Ein weiteres Kind wurde im August 1944 in die Stiftung Eben-Ezer nach Lemgo weiterverlegt.

Obwohl es nach 1945 ein Ermittlungsverfahren gegen Hermann Wesse gab, begann eine erste Aufarbeitung der Verbrechen in Waldniel erst im Jahr 1962 auf Initiative der Kirchengemeinden. Auf dem Friedhof wurde im selben Jahr ein Ehrenfriedhof mit Hochkreuz hergerichtet. 1982 wurde das Hochkreuz mit einer Gedenktafel für die Opfer der »Euthanasie« versehen. Zwischen 1986 und 1988 wurde der inzwischen entwidmete Friedhof von der Gemeinde Schwalmtal sowie mit Unterstützung einer ortsansässigen Hauptschule in eine Gedenkstätte umgewandelt. Zwischen 2016 und 2018 wurde der Gedenkort von der Wiener Arbeitsgemeinschaft Struber_Gruber neugestaltet und am 29. Mai 2018 eingeweiht. Wesentliches Merkmal der künstlerischen Gestaltung ist die Nennung der bekannten Namen der Opfer.

»Kinderfachabteilung« Lüneburg

Die Einrichtung der »Kinderfachabteilung« der Provinzial- Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg fällt in die zweite Phase der »Kinder-Euthanasie«. Anfang Oktober 1941 wurde die »Kinderfachabteilung« unter ärztlicher Leitung von Dr. Willi Baumert eingerichtet. Die ersten nach Lüneburg verlegten Kinder waren 138 Kinder und Jugendliche aus den Rotenburger Anstalten der Inneren Mission. 88 Prozent von ihnen starben, überwiegend in den Jahren 1942 und 1943. Nur neun Jungen und sieben Mädchen überlebten.

Baumert »untersuchte« die über den »Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden« oder über Kinder- und Haus- wie Amtsärzte direkt eingewiesenen Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen und normenabweichendem Verhalten. Bei schlechter Prognose veranlasste er ihre Ermordung mit Medikamenten oder durch Nahrungsentzug (»Hungerkost«). Zudem gibt es Hinweise darauf, dass es auch Arzneimittelerprobungen gegeben hat.

In die Lüneburger »Kinderfachabteilung« wurden bis August 1945 mindestens 737 Kinder und Jugendliche eingewiesen. Unter ihnen befanden sich 35 Geschwisterkinder. Untergebracht war die Abteilung in drei zweigeschossigen Gebäuden. In Haus 25 waren Jungen (im Erdgeschoss) und Mädchen (im Obergeschoss) untergebracht. In Haus 23 kamen nur Jungen. 1944 wurde auch das Haus 24 mitgenutzt. Die Kinder und Jugendlichen wurden von 21 Pflegekräften beaufsichtigt. Bis 1943 war Willi Baumert nur in Teilzeit nach Lüneburg abgeordnet. Bis September 1944 übte er seine ärztliche Tätigkeit in Vollzeit aus. Nach Baumerts Wiedereinberufung in die Wehrmacht übernahm Max Bräuner die ärztliche Leitung der »Kinderfachabteilung«.

Die für schulfähig befundenen Kinder und Jugendlichen (über 100) wurden nach Lemgo in eine Einrichtung der Stiftung Eben-Ezer weiterverlegt. Rund 70 Prozent der verbliebenen Patient*innen wurden ermordet. Anschließend wurden die Leichen von Baumert bzw. Bräuner zu Forschungszwecken seziert, entnommene Gehirne gab die Anstalt an die Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf ab.

Das Einzugsgebiet der Lüneburger »Kinderfachabteilung« erstreckte sich nicht nur über Niedersachsen, sondern reichte auch bis nach Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Bremen und Bremerhaven. Nach Auflösung der »Kinderfachabteilung« Waldniel in der Nähe von Düsseldorf wurden auch diese Kinder nach Lüneburg verlegt.

Mindestens 425 Kinder und Jugendliche überlebten den Aufenthalt in der Lüneburger Anstalt nicht. Bei 61 weiteren Kindern und Jugendlichen ist unklar, ob sie überlebten. Unter den ermordeten Kindern und Jugendlichen befinden sich auch Kinder mit Romno-Hintergrund sowie Kinder und Jugendliche aus den Niederlanden und Belgien.

Über 300 Kinderleichen wurden auf dem Anstaltsfriedhof, vorwiegend auf einem »Kindergräberfeld« bestattet, vier Kindergräber sind dort heute noch erhalten. Ein Kindergrab liegt auf dem Lüneburger Zentralfriedhof.

Die letzte Aufnahme in die »Kinderfachabteilung« Lüneburg erfolgte am 13. August 1945. Nach der Suspendierung von Max Bräuner übernahm sein Nachfolger Dr. Rudolf Redepenning die Leitung. Die »Kinderfachabteilung« wurde in »Kinderabteilung« umbenannt. Die Bedingungen der Unterbringung und Versorgung änderten sich erst allmählich, sodass das Hungersterben in der ehemaligen »Kinderfachabteilung« noch bis in den Herbst 1945 andauerte.

Veronal

Das Medikament mit dem Handelsnamen Veronal (Wirkstoff Barbitursäure) wurde 1903 zugelassen und kommerziell sehr erfolgreich vertrieben. Es galt in kleinen Dosen als schlaffördernd und in größeren Dosen narkotisierend. Ab 1908 war Veronal allerdings nur noch rezeptpflichtig in den Apotheken erhältlich. Das Medikament führte schnell zu Abhängigkeit, beeinflusste die Stoffwechselprozesse im Körper und konnte bei einer Überdosierung zur Vergiftung führen.
In psychiatrischen Anstalten kam es an Patient*innen zu Medikamentenerprobungen. Hierbei zeigte sich, dass das Medikament eine lange Wirkdauer im Körper hatte und die Einnahme mit etlichen Nebenwirkungen einhergehen konnte. In der »Kinderfachabteilung« Lüneburg wurde Veronal im Rahmen der »Kinder-Euthanasie« zur Ermordung eingesetzt. Durch ärztliche Anweisung wurde eine bestimmte Dosis des Schlafmittels verabreicht, das konnte neben Veronal auch Luminal, Morphium-Scopalamin oder Chloral-Hydrat sein. Die Pflegerin Dora Vollbrecht sagte in einem gegen sie geführten Ermittlungsverfahren aus, dass die Kinder innerhalb von ein bis zwei Tagen an diesen Gaben verstorben seien.

Veronaltabletten.

ArEGL, Henning Bendler.

Trional

Das Medikament mit dem Handelsnamen Trional (Wirkstoff Methylsulfonal) wurde 1888 von dem Chemiker Eugen Baumann hergestellt und von dem Mediziner Alfred Kast als Schlafmittel eingeführt. Trional gehört neben Sulfonal und Tetronal zu den Sulfonalen, die Anfang des 20. Jahrhunderts weitgehend von den Barbituraten abgelöst worden sind.

Die populäre Reihe »Geisteskrankenpflege. Ein Lehr- und Handbuch für Irrenpfleger« verweist 1939 auf die risikoreiche Behandlung mit Trional: »Schlafmittel, wie z.B. Paraldehyd, Trional, werden auch als Mittel zur Erzielung eines Dauerschlafs angewendet. Die Dauerschlafbehandlung wird zur Abkürzung manischer, auch schizophrener Erregungszustände geübt. Dem Pfleger fällt dabei eine verantwortungsvolle Aufgabe zu, da der Dauerschlaf je nach dem angewandten Mittel nicht ungefährlich ist. Peinliche Verfolgung der ärztlichen Anordnungen und aufmerksame Beobachtung der Kranken, insbesondere des Pulses und der Atmung ist Pflicht.«

Trional kam im Rahmen der »Kinder-Euthanasie« zum Einsatz. Für die sächsische Landesanstalt Großschweidnitz ist belegt, dass im Dezember 1940 mindestens 17 Minderjährige durch eine »Trional-Kur« (Dauerschlafbehandlung) ermordet wurden. Ob es auch in der »Kinderfachabteilung« Lüneburg zum Einsatz der »Trional-Kur« kam, ist Gegenstand aktueller Forschung.