Rotenburger Anstalten der Inneren Mission

Die Rotenburger Anstalten der Inneren Mission (Rechtsnachfolger sind heute die »Rotenburger Werke«) waren und sind noch heute eine Einrichtung für Menschen mit Behinderungen in kirchlicher Trägerschaft. Das 1880 eingerichtete »Asyl für die Pflege Epileptischer« gehörte zu den größten Heil- und Pflegeeinrichtungen der Provinz Hannover.

Zwischen 1940 und 1941 sind unter der Leitung des Pastors Johannes Buhrfeind sowie des leitenden Arztes Dr. Kurt Magunna nach derzeitigem Forschungsstand mindestens 562 Patient*innen Opfer der »Aktion T4« geworden. Darüber hinaus beteiligten sich die Anstalten der Inneren Mission (bis 9. Januar 1940 unter ärztlicher Leitung von Dr. Wening) zwischen 1934 und 1942 umfangreich an der Zwangssterilisation. Nachweislich wurden mindestens 335 Bewohner*innen gegen ihren Willen unfruchtbar gemacht.

Ab Herbst 1941 dienten die Anstalten als Ausweichkrankenhaus, es wurde ein Reservelazarett eingerichtet. Lediglich 240 Bewohner*innen blieben, die übrigen wurden in andere Anstalten verlegt.
Hierzu gehörten auch die Kinder und Jugendlichen der »Kinderabteilung«, die aufgelöst wurde. Infolgedessen wurden am 9. und 10. Oktober 1941 138 Kinder und Jugendliche (unter ihnen acht Kinder mit Diphterie-Erkrankung) in die »Kinderfachabteilung« Lüneburg verlegt. 88 Prozent von ihnen starben, überwiegend in den Jahren 1942 und 1943. Nur neun Jungen und sieben Mädchen überlebten.

Darüber hinaus legen Krankenakten die Vermutung nahe, dass die Versorgung der Kinder und Jugendlichen in den Anstalten der Inneren Mission auch vor ihrer Verlegung im Herbst 1941, spätestens ab 1938, desolat gewesen war.

Die Rotenburger Werke der Inneren Mission arbeiteten ihre Geschichte ab 1990 auf. Hierzu gehörte nicht nur die Beschäftigung mit den Verbrechen im Nationalsozialismus, sondern auch die historisch-wissenschaftliche Aufarbeitung von Gewalt- und Zwangsmaßnahmen nach 1945 bis zum Jahr 2000.

»Kinderfachabteilung« Waldniel und Gedenkort Waldniel-Hostert

Ab 1941 wurde im ehemaligen »Schutzengelhaus« des ehemaligen St. Josefsheims der Franziskaner als Teil der Heil- und Pflegeanstalt Johannistal in Viersen-Süchteln eine »Kinderfachabteilung« betrieben, in der nach aktuellem Forschungsstand insgesamt 99 Kinder und Jugendliche untersucht, selektiert und ermordet wurden.

Der erste Leiter der »Kinderfachabteilung« Waldniel war Dr. Georg Renno. Er hatte gemeinsam mit Dr. Hermann Nitsche in Leipzig-Dösen gearbeitet und den Mord mit Barbituraten, das sogenannte »Luminalschema«, mitentwickelt. Danach war er stellvertretender Leiter der Tötungsanstalt Hartheim (bei Linz in Österreich), in der er im Rahmen der »Aktion T4« über 18.000 Menschen mit Kohlenmonoxid vergasen ließ.

Renno verließ die »Kinderfachabteilung« bereits nach wenigen Monaten im Februar 1942 aufgrund seiner Tuberkulose-Erkrankung. Ab 1. Oktober 1942 übernahm der Arzt Dr. Hermann Wesse die Leitung der Abteilung. Zuvor hatte seine Frau, Dr. Hildegard Wesse, die vorübergehende Leitung der »Kinderfachabteilung« inne. Wesse ließ sich unterdessen in der »Kinderfachabteilung« Göhrden sowie in der Bonner Kinderheilanstalt in der praktischen Handhabung der »Kinder-Euthanasie« fortbilden.

Im Zuge von Strafverfolgungen nach 1945 gestand Wesse in seiner Zeit als leitender Arzt Kinder und Jugendliche in der »Kinderfachabteilung« Waldniel ermordet zu haben. Die von ihm angegebene Zahl 30 entspricht nicht den später nachgewiesenen Todesfällen. In seiner Zeit sind tatsächlich mehr als doppelt so viele Kinder und Jugendliche ermordet worden.

Anfang Juli 1943 wurde die »Kinderfachabteilung« Waldniel kriegsbedingt aufgelöst. Die Einrichtung wurde als Ausweichkrankenhaus benötigt. Die verbliebenen 183 Kinder und Jugendlichen wurden in fünf andere »Kinderfachabteilungen« verlegt. Die Verlegungen erfolgten nach Ansbach, Göhrden, Uchtspringe, Ueckermünde und Lüneburg. Die »Kinderfachabteilung« Lüneburg nahm am 3. Juli 1943 insgesamt 38 Kinder und Jugendliche aus Waldniel auf. Mindestens 25 von ihnen überlebten nicht. Ein Kind wurde neun Wochen nach der Verlegung nach Lüneburg »ungeheilt entlassen«. Ein weiteres Kind wurde im August 1944 in die Stiftung Eben-Ezer nach Lemgo weiterverlegt.

Obwohl es nach 1945 ein Ermittlungsverfahren gegen Hermann Wesse gab, begann eine erste Aufarbeitung der Verbrechen in Waldniel erst im Jahr 1962 auf Initiative der Kirchengemeinden. Auf dem Friedhof wurde im selben Jahr ein Ehrenfriedhof mit Hochkreuz hergerichtet. 1982 wurde das Hochkreuz mit einer Gedenktafel für die Opfer der »Euthanasie« versehen. Zwischen 1986 und 1988 wurde der inzwischen entwidmete Friedhof von der Gemeinde Schwalmtal sowie mit Unterstützung einer ortsansässigen Hauptschule in eine Gedenkstätte umgewandelt. Zwischen 2016 und 2018 wurde der Gedenkort von der Wiener Arbeitsgemeinschaft Struber_Gruber neugestaltet und am 29. Mai 2018 eingeweiht. Wesentliches Merkmal der künstlerischen Gestaltung ist die Nennung der bekannten Namen der Opfer.

»Kinderfachabteilung« Lüneburg

Die Einrichtung der »Kinderfachabteilung« der Provinzial- Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg fällt in die zweite Phase der »Kinder-Euthanasie«. Anfang Oktober 1941 wurde die »Kinderfachabteilung« unter ärztlicher Leitung von Dr. Willi Baumert eingerichtet. Die ersten nach Lüneburg verlegten Kinder waren 138 Kinder und Jugendliche aus den Rotenburger Anstalten der Inneren Mission. 88 Prozent von ihnen starben, überwiegend in den Jahren 1942 und 1943. Nur neun Jungen und sieben Mädchen überlebten.

Baumert »untersuchte« die über den »Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden« oder über Kinder- und Haus- wie Amtsärzte direkt eingewiesenen Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen und normenabweichendem Verhalten. Bei schlechter Prognose veranlasste er ihre Ermordung mit Medikamenten oder durch Nahrungsentzug (»Hungerkost«). Zudem gibt es Hinweise darauf, dass es auch Arzneimittelerprobungen gegeben hat.

In die Lüneburger »Kinderfachabteilung« wurden bis August 1945 mindestens 737 Kinder und Jugendliche eingewiesen. Unter ihnen befanden sich 35 Geschwisterkinder. Untergebracht war die Abteilung in drei zweigeschossigen Gebäuden. In Haus 25 waren Jungen (im Erdgeschoss) und Mädchen (im Obergeschoss) untergebracht. In Haus 23 kamen nur Jungen. 1944 wurde auch das Haus 24 mitgenutzt. Die Kinder und Jugendlichen wurden von 21 Pflegekräften beaufsichtigt. Bis 1943 war Willi Baumert nur in Teilzeit nach Lüneburg abgeordnet. Bis September 1944 übte er seine ärztliche Tätigkeit in Vollzeit aus. Nach Baumerts Wiedereinberufung in die Wehrmacht übernahm Max Bräuner die ärztliche Leitung der »Kinderfachabteilung«.

Die für schulfähig befundenen Kinder und Jugendlichen (über 100) wurden nach Lemgo in eine Einrichtung der Stiftung Eben-Ezer weiterverlegt. Rund 70 Prozent der verbliebenen Patient*innen wurden ermordet. Anschließend wurden die Leichen von Baumert bzw. Bräuner zu Forschungszwecken seziert, entnommene Gehirne gab die Anstalt an die Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf ab.

Das Einzugsgebiet der Lüneburger »Kinderfachabteilung« erstreckte sich nicht nur über Niedersachsen, sondern reichte auch bis nach Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Bremen und Bremerhaven. Nach Auflösung der »Kinderfachabteilung« Waldniel in der Nähe von Düsseldorf wurden auch diese Kinder nach Lüneburg verlegt.

Mindestens 425 Kinder und Jugendliche überlebten den Aufenthalt in der Lüneburger Anstalt nicht. Bei 61 weiteren Kindern und Jugendlichen ist unklar, ob sie überlebten. Unter den ermordeten Kindern und Jugendlichen befinden sich auch Kinder mit Romno-Hintergrund sowie Kinder und Jugendliche aus den Niederlanden und Belgien.

Über 300 Kinderleichen wurden auf dem Anstaltsfriedhof, vorwiegend auf einem »Kindergräberfeld« bestattet, vier Kindergräber sind dort heute noch erhalten. Ein Kindergrab liegt auf dem Lüneburger Zentralfriedhof.

Die letzte Aufnahme in die »Kinderfachabteilung« Lüneburg erfolgte am 13. August 1945. Nach der Suspendierung von Max Bräuner übernahm sein Nachfolger Dr. Rudolf Redepenning die Leitung. Die »Kinderfachabteilung« wurde in »Kinderabteilung« umbenannt. Die Bedingungen der Unterbringung und Versorgung änderten sich erst allmählich, sodass das Hungersterben in der ehemaligen »Kinderfachabteilung« noch bis in den Herbst 1945 andauerte.

Veronal

Das Medikament mit dem Handelsnamen Veronal (Wirkstoff Barbitursäure) wurde 1903 zugelassen und kommerziell sehr erfolgreich vertrieben. Es galt in kleinen Dosen als schlaffördernd und in größeren Dosen narkotisierend. Ab 1908 war Veronal allerdings nur noch rezeptpflichtig in den Apotheken erhältlich. Das Medikament führte schnell zu Abhängigkeit, beeinflusste die Stoffwechselprozesse im Körper und konnte bei einer Überdosierung zur Vergiftung führen.
In psychiatrischen Anstalten kam es an Patient*innen zu Medikamentenerprobungen. Hierbei zeigte sich, dass das Medikament eine lange Wirkdauer im Körper hatte und die Einnahme mit etlichen Nebenwirkungen einhergehen konnte. In der »Kinderfachabteilung« Lüneburg wurde Veronal im Rahmen der »Kinder-Euthanasie« zur Ermordung eingesetzt. Durch ärztliche Anweisung wurde eine bestimmte Dosis des Schlafmittels verabreicht, das konnte neben Veronal auch Luminal, Morphium-Scopalamin oder Chloral-Hydrat sein. Die Pflegerin Dora Vollbrecht sagte in einem gegen sie geführten Ermittlungsverfahren aus, dass die Kinder innerhalb von ein bis zwei Tagen an diesen Gaben verstorben seien.

Veronaltabletten.

ArEGL, Henning Bendler.

Trional

Das Medikament mit dem Handelsnamen Trional (Wirkstoff Methylsulfonal) wurde 1888 von dem Chemiker Eugen Baumann hergestellt und von dem Mediziner Alfred Kast als Schlafmittel eingeführt. Trional gehört neben Sulfonal und Tetronal zu den Sulfonalen, die Anfang des 20. Jahrhunderts weitgehend von den Barbituraten abgelöst worden sind.

Die populäre Reihe »Geisteskrankenpflege. Ein Lehr- und Handbuch für Irrenpfleger« verweist 1939 auf die risikoreiche Behandlung mit Trional: »Schlafmittel, wie z.B. Paraldehyd, Trional, werden auch als Mittel zur Erzielung eines Dauerschlafs angewendet. Die Dauerschlafbehandlung wird zur Abkürzung manischer, auch schizophrener Erregungszustände geübt. Dem Pfleger fällt dabei eine verantwortungsvolle Aufgabe zu, da der Dauerschlaf je nach dem angewandten Mittel nicht ungefährlich ist. Peinliche Verfolgung der ärztlichen Anordnungen und aufmerksame Beobachtung der Kranken, insbesondere des Pulses und der Atmung ist Pflicht.«

Trional kam im Rahmen der »Kinder-Euthanasie« zum Einsatz. Für die sächsische Landesanstalt Großschweidnitz ist belegt, dass im Dezember 1940 mindestens 17 Minderjährige durch eine »Trional-Kur« (Dauerschlafbehandlung) ermordet wurden. Ob es auch in der »Kinderfachabteilung« Lüneburg zum Einsatz der »Trional-Kur« kam, ist Gegenstand aktueller Forschung.

Luminal

Das Medikament mit dem Handelsnamen Luminal / Luminaletten (Wirkstoff Phenobarbital) wurde 1912 zugelassen und kam ab 1940 bis 1945 in der »Kinder-Euthanasie« zum Einsatz. Das Morden nach dem »Luminal-Schema« wurde in der »Kinderfachabteilung« Leipzig-Dösen entwickelt.

Gemeinsam mit Morphium und Veronal gehört das Medikament zu den Betäubungsmitteln, den sogenannten Barbituraten. Es wird seit der Zulassung zur Epilepsiebehandlung eingesetzt und wurde lange Zeit als beliebtes Schlafmittel verwendet. In der populären Reihe »Geisteskrankenpflege. Ein Lehr- und Handbuch für Irrenpfleger« heißt es 1937 bezüglich medikamentöser Beruhigungsmittel: »Weiterhin zählen dazu die verschiedenartigen Schlafmittel, die teilweise auch zur Beruhigung gegeben werden oder, wie Luminal und Prominal, sich als anfallsbeschränkende Mittel wirksam erweisen«.

Erwachsene Personen durften als maximale Einzelgabe 0,4 Gramm und als maximale Tagesgabe 0,8 Gramm Luminal erhalten. Kinder durften, je nach Alter, nur zwischen 0,015 – 0,2 Gramm erhalten.

Luminal und weitere Barbiturate wurden den Kindern und Jugendlichen in den »Kinderfachabteilungen« der Anstalten über längere Zeit verabreicht, um eine flache Atmung und dadurch Atemwegserkrankungen wie Lungenentzündungen zu provozieren. Oftmals sind die Kinder eines langwierigen Erstickungstodes gestorben.

Reichte dies nicht aus, um den Tod der Kinder und Jugendlichen zu erwirken, wurden ihnen weitere Dosen verabreicht oder zur Einleitung des Todes zusätzlich Morphin gegeben. Auch ließ man an kalten Tagen die Kinder unbekleidet und öffnete die Zimmerfenster, um Atemwegsinfektionen zu beschleunigen. In vielen Krankenakten ist als offizielle Todesursache »katarrh. Lungenentzündung« angegeben, die Medikamentengabe wurde hingegen in der Regel nicht vermerkt. Neben Lungenentzündung und Bronchitis tauchen auch Tuberkulose und Diphterie als angeblicher Sterbegrund auf.

Luminal / Luminaletten mit dem Wirkstoff Phenobarbital sind bis heute gängige Medikamente zur medizinischen Behandlung von Epilepsie. Der Pharmakonzern Bayer gab 1990 die Herstellungsrechte an den amerikanischen Konzern Desitin ab.

Fläschchen zur Aufbewahrung von Luminaltabletten.

ArEGL, Henning Bendler.

Meldepflicht

Ein zentrales Dokument der »Euthanasie« ist der streng vertrauliche Runderlass des Reichsministeriums des Innern vom 18. August 1939 mit dem Aktenzeichen IVb 3088/39 – 1709. Unter dem Vorwand der »Klärung wissenschaftlicher Fragen auf dem Gebiet der angeborenen Mißbildungen und der geistigen Unterentwicklung« wurden Ärzte, Hebammen, Entbindungsanstalten, geburtshilfliche Abteilungen und Kinderkrankenhäuser verpflichtet, mithilfe eines Meldebogens über Kinder mit Behinderungen Mitteilung an das zuständige Gesundheitsamt zu tätigen. Die Meldung leitete das sogenannte »Reichsausschussverfahren« ein.

Meldepflicht bestand für Kinder mit sogenannter Idiotie, »Mongolismus«, Mikrocephalie (Kleinwüchsigkeit des Hirnschädels), Hydrocephalus (Wasserkopf), Missbildungen, Lähmungen (einschließlich Littlescher Erkrankung). Hebammen bekamen »für ihre Mühewaltung« eine Entschädigung bzw. ein Kopfgeld in Höhe von 2 Reichsmark.

Zunächst galt der Runderlass nur für Kinder bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres. Ab 1941 wurde die Meldepflicht ausgeweitet auf Kinder und Jugendliche bis zur Vollendung des 15. Lebensjahres.

Im Oktober 1939 ermächtigte Adolf Hitler seinen Leiter der Reichskanzlei, Philipp Bouhler sowie seinen chirurgischen Leibarzt Karl Brandt, »Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.« Dieses Schreiben wurde auf den 1. September 1939 zurückdatiert. Es scheinlegitimierte die »Euthanasie« und war Grundlage für die Ausweitung der Meldepflicht auf erwachsene Patient*innen.

Ab 9. Oktober 1939 wurden nunmehr reichsweit Meldebögen an sämtliche Heil- und Pflegeanstalten, Nervenkliniken, Heilerziehungsstätten und Heime verschickt. Neben der Erfassung von persönlichen Daten und Informationen zum Gesundheitszustand, wurde mit diesen Bögen auch abgefragt, ob die Person regelmäßig Besuch erhielt, seit wann sie anstaltsbedürftig war, ob mit der Erkrankung Straftaten einhergegangen waren, ob ein Romno- oder jüdischer Hintergrund vorlag und ob bzw. welcher Art Beschäftigung nachgegangen wurde. Die ausgefüllten Meldebögen mussten an die »Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten« in die Tiergartenstraße 4 in Berlin geschickt werden, die für die Erfassung der Patient*innen zuständig war.

Die Meldepflicht war wesentliche Voraussetzung für die Planung und Durchführung der »Euthanasie«.

»Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden«

Um den Patient*innenmord bzw. die »Euthanasie« strukturiert umzusetzen, stellte Reichskanzler Adolf Hitler ein Gremium von Verwaltungsbeamten (Viktor Brack, Herbert Linden, Hans Hefelmann, Richard von Hegener) sowie Ärzten (Prof. Dr. Werner Catel, Prof. Dr. Hans Heinze, Dr. Hellmuth Unger und Dr. Ernst Wentzler) zusammen. Sie etablierten binnen weniger Wochen eine Tarnorganisation, den »Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden« (»Reichsausschuss«). Er nahm im Herbst 1939 seine Arbeit auf.

Der »Reichsausschuss« war mit der Erfassung und Begutachtung von Kindern und Jugendlichen beauftragt, die seiner Auffassung nach für die »Euthanasie« in Frage kamen. Hans Hefelmann und Richard von Hegener vom Hauptamt IIb der Kanzlei des Führers sowie Herbert Linden vom Reichsministerium des Innern standen dem »Reichsausschuss« vor und vertraten ihn. Hefelmann und Hegener (beide vom Amt IIb »Kraft durch Freude« bzw. »KdF«) traten hierbei nicht nach außen in Erscheinung. Tatsächlich blieb der »Reichsausschuss« eine Art Briefkastenfirma. Der Schriftverkehr verlief über das Schließfach Berlin W9, Postschließfach 101 in die Neue Reichskanzlei, wo das Amt IIb der »KdF« ansässig war.

Die ausgefüllten Meldebögen wurden über die Amtsärzte an den »Reichsausschuss« weitergeleitet. Von den bis 1945 etwa 100.000 eingegangenen Meldebögen wurden rund 80.000 aussortiert. Die übrigen rund 20.000 wurden von Verwaltungsbeamten des Amtes IIb der »KdF« an die medizinischen Hauptgutachter des »Reichsausschusses« weitergeleitet.

Hauptgutachter des »Reichsausschusses« waren bis Sommer 1945 Werner Catel, Hans Heinze und Ernst Wentzler. Dieses Dreiergespann entschied auf Basis ausgefüllter Meldebögen im sogenannten Umlaufverfahren über die Zwangseinweisungen in die reichsweit eingerichteten »Kinderfachabteilungen« sowie über Leben und Tod der sich dort befindenden Kinder und Jugendlichen.

Rechtliche Grundlage hierfür war der Runderlass vom 18. August 1939, der die Meldepflicht, Erfassung und Einweisung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen regelte.

Nicht alle in der »Kinder-Euthanasie« ermordeten Kinder und Jugendlichen durchliefen dieses Verfahren und waren sogenannte »Reichsausschusskinder«. Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen 1940 und 1945 rund 3.000 – 5.000 Kinder und Jugendliche durch Behandlungsermächtigungen des »Reichsausschusses« ermordet wurden.

»Kinderfachabteilungen«

Nachweislich hat es zwischen 1939 und 1945 mindestens 31 »Kinderfachabteilungen« gegeben. Sie waren in Heil- und Pflegeanstalten, Nervenkliniken, Heilerziehungsanstalten, Kinderkrankenhäusern und Heimen eingerichtet worden und dienten dem Zweck, Kinder und Jugendliche zu konzentrieren, ihre Erkrankungsbilder bzw. Behinderungen zu untersuchen, über die »Bildungs- und Erziehungsfähigkeit« der bis 16 Jahre alten Patient*innen zu entscheiden sowie sie zu ermorden. Auch an nicht für die Ermordung in Frage kommenden Kindern und Jugendlichen wurden mancherorts Medikamente erprobt.

Legt man für die Identifikation einer »Kinderfachabteilung« zugrunde, dass das dort

• beschäftigtes Personal Sonderzuwendungen des »Reichsausschusses« für ausgewählte Ärzte und Pfleger*innen (oft in Form einer »Weihnachtsgratifikation«) erhielten und
• es Dokumente zu diesen Orten gibt, in denen explizit Bezug genommen wird auf »Kinderfachabteilung« und den »Reichausschuss«,

sind diese ehemaligen 31 »Kinderfachabteilungen« nach jetzigem Forschungsstand nachgewiesen (in alphabetischer Reihenfolge mit Angabe der Trägerschaft und Beginn der Tätigkeit):

AnsbachHeil- und PflegeanstaltDez 42
Berlin-WittenauStädtische Nervenklinik für Kinder und Jugendliche
(»Wiesengrund«)
Feb 42
BreslauKrankenhaus Nord (Institut für praktische Psychiatrie
und Psychiatrische Erbforschung)
1943
Dortmund-AplerbeckHeil- und Pflegeanstalt1942
Eglfing-HaarHeil- und PflegeanstaltOkt 40
EichbergLandesheilanstalt1941
GöhrdenLandesanstalt1940
GrazHeil- und Pflegeanstalt »Am Feldhof«?
GroßschweidnitzLandesanstaltDez 43
Hamburg-LangenhornHeil- und PflegeanstaltFeb 41
Hamburg-RothenburgsortKinderkrankenhaus1942
KalmenhofHeilerziehungsanstalt (Idstein im Taunus)1941
KaufbeurenHeil- und PflegeanstaltDez 41
KonradsteinHeil- und Pflegeanstalt?
LeipzigUniversitäts-Kinderklinik1941
Leipzig-DösenHeil- und PflegeanstaltNov 40
LobenHeil- und Pflegeanstalt1941
LüneburgHeil- und PflegeanstaltOkt 41
MarsbergHeilanstalt1940
SachsenbergHeil- und Pflegeanstalt (bei Schwerin)1941
Schleswig-HesterbergLandesjugend- und Landespflegeheim1940
Schleswig-StadtfeldHeil- und PflegeanstaltFeb 41
StadtrodaLandesheilanstalt?
StuttgartStädtische Kinderheime1942
TiegenhofLandesheilanstalt1943
UchtspringeLandesheilanstaltJun 41
UeckermündeHeil- und Pflegeanstalt?
WaldnielHeil- und Pflegeanstalt1941
WienStädtische Jugendfürsorgeanstalt »Am Spiegelgrund«1940
WiesengrundHeil- und Pflegeanstalt (Sudetengau)1942
WieslochHeil- und Pflegeanstalt1940

»Kinder-Euthanasie«

Die Ermordung von Kindern und Jugendlichen unter dem Deckmantel des »Gnadentodes« ab 1939 war der Beginn der »Euthanasie«-Maßnahmen. Monate bevor erwachsene Psychiatrie- und Heiminsassen gemeldet und erfasst, selektiert und ermordet wurden, ordnete das Reichsministerium des Innern in seinem Erlass vom 18. August 1939 das sogenannte »Reichsausschussverfahren« an, das zunächst lediglich die Meldung und Zwangsunterbringung von unter Dreijährigen zum Zwecke der Selektion und Ermordung regelte. Die erste im Frühjahr 1940 hierfür eingerichtete »Kinderfachabteilung« befand sich in der Landesanstalt Görden in Brandenburg an der Havel. Mit der Ausweitung des Erlasses auf Jugendliche bis 16 Jahre kamen ab Herbst 1941 in einer zweiten Phase weitere Einrichtungen hinzu, so dass bis Kriegsende – wenn auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten – nachweislich 31 »Kinderfachabteilungen« existierten. Die »Kinderfachabteilung« Lüneburg ist eine von ihnen.

Der »Kinder-Euthanasie« fielen mindestens 5.000 Kinder und Jugendliche zum Opfer. Der Mord begann 1938 / 1939 und fand auch außerhalb der ab 1940 eingerichteten »Kinderfachabteilungen« statt. So gab es auch im Rahmen der »Aktion T4« und der »dezentralen Euthanasie« Morde an Kindern und Jugendlichen. Die jüngsten Opfer waren wenige Tage alt, die ältesten standen kurz vor ihrem 16. Geburtstag.

Nicht alle Einweisungen und Morde an den Kindern und Jugendlichen lassen sich mit dem sogenannten »Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden« in Verbindung bringen. Hierbei handelte es sich um ein Gutachtergremium bestehend aus den Medizinern Dr. Werner Catel, Prof. Dr. Hans Heinze und Dr. Ernst Wentzler. Sie hatten anhand der Melde-Unterlagen der Gesundheitsämter zu entscheiden, ob eine Anstalts- oder Heimunterbringung in eine »Kinderfachabteilung« und eine sogenannte »Behandlungsermächtigung« – quasi eine Berechtigung, medizinische Experimente durchzuführen und zu morden – zu befürworten waren. Die Unterlagen der Gesundheitsämter, auf die sich die Gutachter bezogen, stammten aus Meldungen von Hebammen, Frauen- und Kinderärzten, Fürsorger*innen, Lehrkräften etc. Unter die Meldepflicht fielen Kinder mit geistigen und körperlichen Behinderungen und Beeinträchtigungen (etwa Autismus-Spektrum, Syndrome / Trisomien), Epilepsie (»Anfälle«), Mikrocephalie (»zu kleines Gehirn«), Hydrocephalus (»Wasserkopf«) und nicht weiter spezifiziertes normenabweichendes Verhalten.

Oft wurde dieses Auswahlverfahren umgangen und es kam durch Eltern, Hebammen und Ärzte zu direkten Einweisungen. Auch mordeten die Ärzte oft, ohne die Behandlungsempfehlung des »Reichsausschusses« abzuwarten. Einziges Selektionskriterium war die Bildungs- und Entwicklungsfähigkeit eines Kindes bzw. Jugendlichen.

Ermordet wurden die Kinder mit überdosierten Medikamenten. Häufig wurden Barbiturate mit den Handelsnamen Luminal, Veronal, Trional bzw. Morphin eingesetzt. Sie wurden sowohl in Tablettenform (zerkleinert) dem Essen beigemengt als auch gespritzt, manchmal wurden sie auch kombiniert verabreicht. Die Überdosierung führte zu Atemlähmungen, Flachatmung, Kreislauf- und Nierenversagen. Durch die Medikamentengabe wurden in der Regel eine Lungenentzündung oder eine Bronchitis provoziert. Diese wurden dann als offizieller Sterbegrund angegeben. Ab 1943 kam es verstärkt auch zu Hungersterben.

Nach der Ermordung wurde den Kindern meistens das Gehirn entnommen. Die Hirnentnahme und untersuchung sollte der sogenannten »Erbforschung« dienen. Es galt festzustellen, was für die Behinderung ursächlich war. Zudem erhofften sich Ärzte in Universitätskliniken, die mit diesen Gehirn-Präparaten beliefert wurden, neurologische Erkenntnisse.

Etwa fünf Prozent der im Rahmen der »Euthanasie« ermordeten Kinder waren Geschwister. So kam es vor, dass die Geschwister Zeug*innen des Mordes an ihrer Schwester oder ihrem Bruder wurden.

Es gibt nur wenige Kinder und Jugendliche, die der »Euthanasie« entkamen. In Einzelfällen gelang es den Angehörigen, die Kinder mit Behinderungen sogar zu retten. Die als bildungs- und entwicklungsfähig beurteilten Kinder und Jugendlichen überlebten zwar, blieben jedoch oft selbst nach Kriegsende noch Jahrzehnte unfreiwillig in der Obhut von Psychiatrien und Heimen.