Therese Schubert

Therese Schubert, geb. Keck, geboren am 21. April 1887 in Lüneburg, wuchs gemeinsam mit ihren beiden älteren Schwestern Frieda und Christine in gutbürgerlichen Verhältnissen in der Friedenstraße 10 auf. Im Winter 1913/1914 ging sie für einige Monate nach Somerset (USA), um Erfahrungen als Kindergärtnerin zu sammeln. Nach ihrer Rückkehr nahm sie in Hamburg die Ausbildung zur Kindergärtnerin auf. Zur selben Zeit lernte sie ihren zukünftigen Ehemann Heinrich Schubert kennen, der in Lüneburg ein angesehener Stadtbaumeister war. Am 21. September 1920 heirateten Therese und Heinrich Schubert. Aus der Ehe gingen zwei Söhne hervor, Jürgen und Theo.

1926 verstarb Heinrich Schubert plötzlich. Er war in der Ilmenau ertrunken. Therese Schubert verkraftete den Tod ihres Ehemannes nicht und entwickelte schwere Depressionen. Nach erfolgloser Behandlung durch den Hamburger Nervenarzt Max Nonne und anschließender Unterbringung im Ginsterhof bei Hamburg, kehrte sie zu ihren Schwestern zurück, die inzwischen das Haus in der Schillerstraße 5 in Lüneburg bewohnten. Da sich Therese Schuberts Gesundheitszustand jedoch nicht besserte, wurde sie am 24. November 1932 in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg aufgenommen. Die Diagnose des Amtsarztes lautete »Jugendliches Irresein«.

Der Kontakt zu ihren Söhnen Jürgen und Theo, die inzwischen dauerhaft bei Thereses Schwester Christine Keck lebten, brach ab. Zwar brachte Theo Kleidung und zusätzliche Lebensmittel in die Heil- und Pflegeanstalt, er gab sie jedoch beim Pförtner ab, ohne seine Mutter zu besuchen. Er fürchtete sich vor einer Begegnung mit seiner erkrankten Mutter. Am 9. April 1941 wurde Therese Schubert in die Zwischenanstalt Herborn verlegt und von dort weiter in die Tötungsanstalt nach Hadamar deportiert. Am 28. Mai 1941 wurde sie im Rahmen der »Aktion T4« ermordet.

Ihre Schwestern und die inzwischen erwachsenen Söhne erhielten die Nachricht, Therese sei an einer Lungenentzündung verstorben. Dies bezweifelten die Angehörigen. Die Familie ließ die Urne mit der angeblichen Asche von Therese Schubert nach Lüneburg überführen und setzte sie neben dem Grab ihres Ehemannes bei. Gegen eine Auflösung der Grabstätte nach abgelaufener Ruhezeit wehrte sich Theo Schubert erfolgreich. 2014 setzte die Friedhofsverwaltung die Ruhestätte von Therese und Heinrich Schubert auf die Liste historischer Gräber, sodass sie dauerhaft erhalten bleibt. 2022 wurde eine Gedenktafel ergänzt, die über ihre Geschichte informiert.

Ein Stolperstein in der Schillerstraße 5 erinnert an Therese Schubert, geboren am 21. April 1887, ermordet am 28. Mai 1941.

Therese Keck (rechts stehend) im Jahr 1914 zusammen mit Mitschülerinnen im Hamburger »Fröbel«-Seminar für angehende Erzieherinnen.

Privatbesitz Ulrike Haus.

Das Hochzeitsfoto von Heinrich und Therese Schubert, geb. Keck, vom 21.9.1920.

Privatbesitz Ulrike Haus.

Jürgen und Theo Schubert im Jahr 1932. Thereses Schwester, Christine Keck, schickte Theo nach ihrer Wiederaufnahme in
Lüneburg im Jahr 1936 häufiger in die Anstalt, um der Mutter Apfelsinen und Kuchen zu bringen. Aus Angst gab Theo die
Sachen beim Pförtner ab und sah seine Mutter deshalb nie wieder.

Privatbesitz Ulrike Haus.

Durch einen Zufall ist die Krankenakte aus der Zeit in Uelsby im sich noch heute im Familienbesitz befindenden Sanatorium »Dr. Schulze« auf einem Dachboden erhalten geblieben. In der Akte befindet sich die Abschrift des Kreisärztlichen Gutachtens, in dem Therese Schuberts Situation beschrieben wird.

Archiv der »Euthanasie«-Gedenkstätte Lüneburg.

Frieda Maack und Christine Keck ließen die Urne ihrer Schwester Therese Schubert nach Lüneburg überführen. Sie wurde im Grab ihres Ehemannes Heinrich Schubert beigesetzt.

Das Sterbedatum auf dem Grabstein ist der Tag, den die Familie offiziell mitgeteilt bekam. In Wirklichkeit starb Therese Schubert am 28. Mai 1941. Ihr Sohn Theo Schubert pflegte das Grab bis ins hohe Alter. Der Tod seiner Frau im Jahr 2012 war für ihn und Thereses Enkelkinder Anlass, gemeinsam das ungeklärte Schicksal der Mutter bzw. Großmutter zu klären.

Das Grab befindet sich auf dem Lüneburger Zentralfriedhof und bleibt durch einen Aktenvermerk im Friedhofsamt Lüneburg als anerkanntes Grab eines Opfers von Krieg und Gewaltherrschaft dauerhaft erhalten.

Theodor Jenckel

Theodor Jenckel wurde 1873 geboren. Bis zu seiner Aufnahme in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg am 15. Oktober 1901 lebte Theodor Jenckel im Zentrum der Stadt Lüneburg, Am Sande 15.
Vor seiner ersten Aufnahme in die Heil- und Pflegeanstalt soll er bereits zehn Jahre an Wahrnehmungsstörungen und Unruhe gelitten haben. In seiner Patientenakte wurde notiert, dass er ein Gymnasium besuchte und danach Maschinenbauer lernte. Im 16. Lebensjahr erkrankte er erstmals und litt unter heftigen Kopfschmerzen. Dadurch konnte er seinen Beruf nicht mehr ausüben. Vergeblich versuchte er in einem anderen Bereich Fuß zu fassen. Er wurde interessen- und antriebslos. Diese Entwicklung ließ sich auch durch seinen Anstaltsaufenthalt nicht abmildern.

Auf dem Charakteristik-Bogen seiner Krankenakte findet sich der Stempel: »Erbbiologisch erfasst. Sippentafel und Karteikarte angelegt«. Diese »erbbiologische Erfassung« traf zunächst Patient*innen, denen eine »Erbkrankheit« unterstellt wurde. Ziel der »rassenhygienischen Politik« war es jedoch, die gesamte Bevölkerung auf ihren »rassebiologischen Wert« hin zu erfassen.

Auch weil er sich wohl nicht zur Arbeitstherapie motivieren ließ, wurde er für die »Aktion T4« selektiert. Am 23. April 1941 wurde Theodor Jenckel in die Zwischenanstalt Herborn und nach einer kurzen Beobachtungszeit von dort in die Tötungsstätte Hadamar verlegt. Auf seiner Akte notierte der verlegende Arzt: »Ungeheilt nach Herborn«. Er wurde Mitte Mai 1941 in Hadamar vergast.

Seit 2009 erinnert Am Sande 15 in Lüneburg ein Stolperstein an Theodor Jenckels Schicksal.

Mariechen Petersen

Mariechen Petersen wurde am 2. Juni 1933 als zweites Kind von Wilhelm und Erna Petersen geboren. Das Ehepaar Petersen hatte insgesamt acht Kinder. Die Familie wohnte in der Rotehahnstraße 4. »Mike«, wie Mariechen von den anderen Kindern genannt wurde, habe dort immer auf der Türschwelle gesessen und den vielen Kindern in der Straße beim Spielen zugeguckt. Ihr Vater Wilhelm Petersen starb als Soldat am 18. Juli 1941. Von da an musste Erna Petersen ihre neunköpfige Familie allein versorgen.

Als sie sich im Herbst 1942 kritisch über eine Parteiveranstaltung der NSDAP äußerte und eine Teilnahme verweigerte, wurde Erna Petersen denunziert und am 2. November 1942 verhaftet. Für vier Monate musste sie ins Gefängnis nach Hannover. Die Staatliche Fürsorge übernahm die acht Kinder. Die jüngsten kamen zur Großmutter, die älteren in ein Kinderheim nach Celle. Mariechen wurde aufgrund ihres Down-Syndroms zunächst in das Kinderhospital in der Barckhausenstraße 6 und von dort in die »Kinderfachabteilung« der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg eingewiesen. Nach einer sechswöchigen Beobachtungszeit kam der zuständige Arzt Willi Baumert zu dem Entschluss, bei Mariechen sei »keine Entwicklung zu erwarten«. Danach erkrankte sie. Informationen über die Gabe von Medikamenten legen nahe, dass die Infekte provoziert worden waren, möglicherweise um Wirkstoffe zu erproben.

Nach der Haftentlassung von Erna Petersen wurde Mariechen von ihrer Mutter und den Geschwistern besucht. Die Mutter brachte ihr Kleidung und zusätzliche Nahrung. Am 9. August 1943 beantragte sie sogar Geld für ein neues Kleid und ein Paar Schuhe. Bemerkenswert ist, dass Mariechen nur in den Wochen, in denen ihre Mutter zu Besuch kommen konnte, keinen Infekt hatte. Vollkommen entkräftet und mit hoher Wahrscheinlichkeit infolge einer Überdosis an Medikamenten starb Mariechen am 15. September 1943.

2019 wurde für Mariechen Petersen in der Rotehahnstraße 4 ein Stolperstein verlegt.

Jürgen Endewardt

Jürgen Endewardt wurde am 25. Februar 1941 als drittes von vier Kindern in Lüneburg in der Bülow-Straße, heute Georg-Böhm-Straße 4, geboren. Da Jürgen weder sitzen noch laufen oder sprechen lernte, war seine Mutter Elli Endewardt um die Entwicklung ihres Kindes besorgt. Sie stellte ihn unter anderem im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf vor. Dort erhielt er die Diagnose Hydrocephalus (Wasserkopf). Im Lüneburger Kinderhospital in der Barckhausenstraße 6 sollte daraufhin eine Behandlung versucht werden. Dieser Versuch unterblieb, stattdessen wurde Jürgen am 17. November 1942 in die »Kinderfachabteilung« der Heil-und Pflegeanstalt Lüneburg verlegt.

Als seine Mutter eine Woche später ihr Kind besuchen wollte, musste sie sich bei den Pflegekräften den Zugang zu Jürgen erzwingen. Dabei entdeckte sie die mangelnde Versorgung und den schlechten Zustand ihres Sohnes. Am 5. und 6. Dezember 1942 fanden daraufhin zwei Gespräche mit dem Ärztlichen Direktor Max Bräuner statt. Angehörige berichten, Elli Endewardt habe ihren Sohn aus der »Kinderfachabteilung« herausholen wollen. Ob das stimmt, ist ungewiss. Denn am Tag nach dem zweiten Gespräch, am 7. Dezember 1942 starb Jürgen Endewardt. Die offizielle Todesursache lautete »Magen-Darm-Katarrh«. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wurde er jedoch mit einem Medikament ermordet.

Auf Wunsch der Mutter wurde Jürgen nicht auf dem Anstaltsfriedhof, sondern auf dem Lüneburger Zentralfriedhof beerdigt. Hierdurch konnte die Mutter vor dem Vater, der einen höheren Rang bei der SS bekleidete, verbergen, dass Jürgen Anstaltspatient gewesen war.

Nach Jürgens Tod folgten für die Familie weitere Schicksalsschläge. Jürgens Vater wurde 1943 als Soldat schwer verletzt, 1946 wurde Jürgens älteste Schwester Ute von einem Panzer überfahren und Jürgens jüngster Bruder Udo starb drei Monate nach seiner Geburt infolge eines angeborenen Herzklappenfehlers.

2019 wurde in der heutigen Georg-Böhm-Straße in Erinnerung an Jürgen Endewardt ein Stolperstein verlegt.

Ute und Dieter Endewardt, ca. Sommer 1942.

Privatbesitz Barbara Burmester.

Dieter, Jürgen, Elli und Ute Endewardt, ca. Sommer 1942.

Privatbesitz Barbara Burmester.

Inge Roxin

Inge Roxin wurde als jüngstes von insgesamt sechs Kindern am 22. August 1939 in Lüneburg geboren. Ihre Eltern, Anna und Eugen Roxin, zogen nach Inges Geburt in eine Wohnung in die Rotehahnstraße 4, ein Haus, das sie fortan mit der Familie Petersen teilten. Mariechen Petersen, Inges Nachbarin, wurde ebenfalls Patientin in der »Kinderfachabteilung« der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg. Sie traf das gleiche Schicksal.

Inges Vater Eugen Roxin arbeitete als Schwimmlehrer und LKW-Fahrer. Seine Frau Anna war Köchin. Sie war sehr pflichtbewusst und folgte deshalb der Meldepflicht für Kinder mit Behinderungen, die vier Tage vor Inges Geburt eingeführt worden war. Der Lüneburger Amtsarzt, dem Inge vorgestellt wurde, diagnostizierte »Idiotie« und empfahl ihre Aufnahme in die »Kinderfachabteilung«.

Schon wenige Tage nach der Aufnahme erkrankte Inge an Fieber und Durchfall. Es wurde eine Therapie mit einem nicht zugelassenen Medikament veranlasst. Es ist unklar, ob diese Arznei eingesetzt wurde, um damit tatsächlich eine Besserung des Gesundheitszustandes zu erreichen, oder ob die Behandlung auch Forschungszwecken diente. Ihre Mutter und die vier Jahre ältere Schwester Käthe besuchten Inge regelmäßig. Die Besuche von Käthe sind durch zwei Fotos dokumentiert, die von einer Pflegerin kurz vor Inges Ermordung angefertigt worden waren.

Am 20. Oktober 1943 starb Inge Roxin. Als offizielle Todesursache wurde eine »eitrige Bronchitis« angegeben, mit hoher Wahrscheinlichkeit jedoch erlag sie einer Überdosis an Medikamenten. Die Dreieinhalbjährige wurde auf Wunsch der Eltern auf dem Zentralfriedhof Lüneburg beigesetzt.

2019 wurde für Inge Roxin in der Rotehahnstraße 4 ein Stolperstein verlegt.

Inge Roxin im Kinderwagen, Auf dem Schmaarkamp 3.

Privatbesitz Sigrid Roxin.

Der Schnappschuss zeigt Inge auf dem Schoß ihrer älteren Schwester Käthe. Sie erhielt es zur Erinnerung an ihre kleine Schwester. Sommer 1943.

Privatbesitz Sigrid Roxin.

Traueranzeige Inge Roxin, Oktober 1943.

Privatbesitz Sigrid Roxin.

Heinrich Biester

Heinrich Biester wurde am 27. März 1901 in Hannover-List geboren. Er hatte fünf Geschwister. Nach dem Abitur machte er zunächst eine Ausbildung, sammelte in verschiedenen Agrar-Betrieben Berufserfahrung und fing an in Göttingen Landwirtschaft zu studieren, um später den Hof der Familie übernehmen zu können. 1924 wandte er sich davon ab. Er entschied, Musik und Gesang zu studieren, unter anderem in Wien. Dort erkrankte er psychisch und kehrte auch deshalb Weihnachten 1926 in sein Elternhaus nach Hannover-List zurück.

Da sich sein Gesundheitszustand nicht besserte, wurde er am 29. März 1927 in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg aufgenommen. Sein Onkel, Pastor Heinrich Mund Senior, war dort seit 1906 Anstaltsseelsorger und übernahm fortan Heinrichs Fürsorge. Als zwei Tage nach der Aufnahme Heinrich Biesters Mutter Adolphine Biester verstarb, isolierte er sich noch mehr. 1938 versuchte er sogar, sich selbst zu töten. Obwohl sein Gesundheitszustand auch in den Folgejahren unverändert blieb, begleitete er die Gottesdienste seines Onkels mit Geige und Gesang.

Am 23. April 1941 wurde Heinrich Biester in die Zwischenanstalt Herborn und von dort am 21. Mai 1941 in die Tötungsanstalt Hadamar verlegt. Sein Onkel Heinrich Mund erfuhr eine Woche nach der Verlegung, dass sein Neffe zu den Deportierten gehörte. Der Ärztliche Direktor Max Bräuner beruhigte ihn jedoch mit den Worten, die Verlegung stehe im Zusammenhang mit der Ankunft von 475 Patientinnen und Patienten aus Hamburg, für die Betten in der Anstalt benötigt würden. Obwohl Pastor Mund dennoch befürchtete, dass Heinrich Biester Opfer der »Euthanasie« werden könnte, unterblieb ein Rettungsversuch.

Am 12. Juni 1941 erhielt die Familie von Heinrich Biester und somit auch Pastor Mund die Sterbemitteilung. Die offizielle Todesursache lautete »perforiertes Magengeschwür und Bauchfellentzündung«. Tatsächlich wurde Heinrich Biester im Rahmen der »Aktion T4« ermordet. Davon ging nun auch die Familie aus. Neben Empörung empfand Pastor Mund den Tod seines Schützlings zugleich als »Erlösung«.

2019 wurde Heinrich Biester vor dem ehemaligen Badehaus am Wasserturm auf dem Gelände der Psychiatrischen Klinik Lüneburg ein Stolperstein verlegt.

Foto von Heinrich Biester aus seinem am 13. April 1926 ausgestellten Reisepass.

Privatbesitz Heide Biester.

Gruppenfoto der Familie Biester, ca. 1908. Heinrich Biester ist der Dritte von rechts.

Privatbesitz Christiane Riechers.

Der Trostbrief, den die Familie Biester aus Anlass von Heinrichs Tod erhalten hat. Ausgestellt wurde der Brief am 12. Juni 1941 von der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Hadamar.

Privatbesitz Christiane Riechers.

Edeltraud Wölki

Edeltraud Wölki wurde am 4. September 1937 in Bochum geboren. Sie ist eines der wenigen Kinder, deren Ermordung durch eine Zeugenaussage bewiesen ist. Im Jahre 1963 kam es zu einer Befragung der Pflegerin Dora Vollbrecht, die damals in der »Kinderfachabteilung« in Haus 25 arbeitete. Sie gestand, Edeltraud eine tödliche Dosis Luminal verabreicht zu haben, obwohl ihr das Kind sympathisch gewesen sei: »[…] Die kleine Edeltraud Wölki war ein besonderer Liebling von mir. Sie sah wirklich niedlich aus. Es handelte sich aber um ein tiefstehendes Kind, das taubstumm war. Dieser Fall ist mir sehr ans Herz gegangen. Ich weiß noch, dass ich am ganzen Körper gezittert habe, als ich dem Kind die tödliche Dosis verabfolgen musste. […]«

Vor ihrer Ermordung hatte Edeltraud bereits eine Odyssee hinter sich. Im ersten Lebensjahr gab ihre Mutter sie in eine Heimpflege nach Hermannsburg im Landkreis Celle. Wegen Verdachts auf Taubstummheit wurde Edeltraud zwei Jahre später in die Rotenburger Anstalten der Inneren Mission eingewiesen. Am 9. und 10. Oktober 1941 wurden 138 Kinder von den Rotenburger Anstalten in die »Kinderfachabteilung« Lüneburg verlegt.

Mit über 18 Monaten dauerte Edeltrauds Aufenthalt im Verhältnis zu dem vieler anderer Kinder überdurchschnittlich lange. Sie starb am 7. Mai 1943 im Alter von fünf Jahren. Die eingetragene Todesursache lautete »linksseitige Rippenfell- und Lungenentzündung«. Weder die damaligen Ärzte noch die Pflegerin Dora Vollbrecht wurden für Edeltraud Wölkis Ermordung strafrechtlich zur Verantwortung gezogen. Edeltraud wurde am 11. Mai 1943 auf dem Anstaltsfriedhof der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg mit der Grabnummer 107a bestattet.

2005 wurde ihr vor dem ehemaligen Badehaus am Wasserturm ein Stolperstein verlegt. Es ist der erste Stolperstein für ein »Euthanasie«-Opfer in Lüneburg.

Dieter Lorenz

Dieter Lorenz wurde am 26. Februar 1942 in Eindhoven in den Niederlanden geboren. Er hatte zwei ältere Brüder, Rolf und Helmut. Der Vater, Erich Lorenz, wurde aufgrund seiner deutschen Staatsbürgerschaft 1944 zum Wehrdienst eingezogen. Die Mutter, Anna Lorenz, von Beruf Apothekerin, musste fortan alleine das Werkzeuggeschäft ihres Mannes weiterführen. Dieter hatte infolge einer Hirnhautentzündung eine Entwicklungsverzögerung. Da die Mutter sich aufgrund ihrer neuen Aufgaben im Geschäft zunächst nicht mehr genügend um ihn kümmern konnte, kam Dieter vorübergehend in ein Kinderheim.

Das Heim wurde ohne Mitteilung an die Eltern am 5. September 1944 evakuiert. Dieter Lorenz kam mit einem für die Flüchtlinge der Westfront eingesetzten Sonderzug über die Zwischenstationen Solingen und Hannover nach Lüneburg. Dort brachte man ihn in einem Auffanglager für unbegleitete Flüchtlingskinder in der Lüneburger »Hasenburg« unter. Eine Schwester der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), die die Kinder betreute, gab an, dass Dieter behindert sei, sodass er am 28. November 1944 in die »Kinderfachabteilung« Lüneburg eingewiesen wurde.

Die Eltern suchten Dieter, und obwohl die Gauleitung bereits am 2. Dezember 1944 wusste, dass sich der Zweieinhalbjährige inzwischen in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg befand, wurden die Eltern darüber nicht informiert. Dieter wurde kaum zwei Wochen nach seiner Ankunft in der »Kinderfachabteilung« ermordet, weil die Stadt Lüneburg sich nicht rechtzeitig dazu entschließen konnte, den Aufenthalt des angeblich elternlosen Kindes zu bezahlen. Dieters offizielle Todesursache lautete Lungen- und Rippenfellentzündung. Erst am 22. Februar 1945 erhielt Anna Lorenz die Nachricht, dass ein Kind namens Dieter Lorenz am 14. Dezember 1944 in der Lüneburger Heil- und Pflegeanstalt gestorben sei. Diese Nachricht beendete die verzweifelte Suche der Eltern nach ihrem Kind.

Die Familie Lorenz wanderte 1952 nach Kanada aus. Beide Söhne erfuhren nichts vom Schicksal des Bruders. Da Dieter Lorenz als niederländisches Flüchtlingskind galt, setzte die Friedhofsverwaltung sein Grab Anfang der 1950er Jahre auf die Kriegsgräber-Liste. Es existiert bis heute auf dem Friedhof Nord-West.

Dieters Bruder Helmut (Hank) und ein Großcousin nahmen nach vielen Jahrzehnten die Suche nach Dieter wieder auf. Sie erfuhren erst 2014 von den Todesumständen und von der Existenz des Grabes.
2019 wurde für Dieter auf Wunsch des Bruders vor dem ehemaligen Badehaus auf dem Gelände der Psychiatrischen Klinik Lüneburg ein Stolperstein verlegt.

Rolf, Dieter und Helmut Lorenz in Eindhoven, ca. Frühjahr 1943. Die Jungs schoben ihren kleinen Bruder immer in einem Wägelchen durch die Nachbarschaft.

Privatbesitz Helmut Lorenz.

Familienfoto mit Dieter, Rolf und Helmut Lorenz (Vordergrund von links nach rechts), Aenne und Erich Lorenz dahinter und ganz hinten Heinrich Wilhelm Vennemann, Dieters Großvater, ca. Herbst 1942.

Privatbesitz Helmut Lorenz.

Charlotte Regenthal

Am 13. Dezember 1939 wurde Charlotte Regenthal in Wunstorf bei Neustadt am Rübenberge geboren. Ihre Eltern waren Lotte Regenthal, geborene Ritter, und Flugzeugklempner Walter Regenthal. Im Alter von zwei Jahren wurde bei ihr »Idiotie bei Littlescher Krankheit« diagnostiziert. Die Eltern hatten bereits kurz nach der Geburt bemerkt, dass Charlotte eine Behinderung zu haben schien. Deshalb waren sie der Meldepflicht beim Gesundheitsamt Neustadt nachgekommen, die seit dem 18. August 1939 bestand. Laut Diagnose war es Charlotte unmöglich »zu stehen, zu laufen und ein Wort zu sprechen«.

Das Gesundheitsamt Neustadt veranlasste mit Gutachten vom 16. September 1942 die Aufnahme in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg. Um die Anstaltskosten vom »Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden« finanzieren zu lassen, wurde Charlotte am 30. Oktober 1942 auch dort gemeldet. Charlotte wurde im Alter von fast drei Jahren am 11. November 1942 von ihrer Mutter »in einer Kinderkarre liegend« in die Anstalt gebracht. Am 20. November 1942 bewilligte der »Reichsausschuss« die Kostenübernahme für eine Dauer von vier Wochen.

Der behandelnde Arzt vermerkte mehrmals in Charlottes Patientenakte, dass »keinerlei Änderung und Besserung« bei Charlotte zu erwarten sei. Einen Tag vor ihrem dritten Geburtstag, am 12. Dezember 1942 erkrankte sie plötzlich an hohem Fieber. Es bestand der Verdacht auf eine »Diphtherie«-Erkrankung, die durch einen Laborbefund vom 14. Dezember 1942 bestätigt wurde. Fünf Tage später starb Charlotte Regenthal. Die offizielle Todesursache lautete »Diphtherie«. Sie starb an dem Tag, an dem die Kostenübernahme durch den »Reichsausschuss« endete.

Durch die Initiative ihres acht Jahre jüngeren Bruders Gerhard Regenthal wurde 2009 auf dem Psychiatriegelände vor der Gedenkstätte im ehemaligen Badehaus ein Stolperstein in Erinnerung an Charlotte Regenthal verlegt. In diesem Zusammenhang wurden die Hintergründe ihres Anstaltsaufenthaltes erstmals dokumentiert. Zehn Jahre später wurde ihr Fall erneut untersucht. Durch eine Neubewertung der Akten ist aus heutiger Sicht unklar, ob Charlotte ein Opfer der »Kinder-Euthanasie« ist. Auch eine absichtsvolle Infizierung mit Diphtherie-Bazillen in der »Kinderfachabteilung« ist nicht ausgeschlossen.

Der Stolperstein erinnert an Charlotte Regenthal, geboren am 13. Dezember 1939, gestorben am 19. Dezember 1942.

Charlotte Regenthal, ca. 1942.

Privatbesitz Gerhard Regenthal.

Sterbeurkunde Charlotte Regenthal.

Privatbesitz Gerhard Regenthal.

Bernhard Filusch

Bernhard Filusch wurde am 21. November 1941 auf der Fahrt in das Städtische Krankenhaus Lüneburg geboren. Nach der Geburt wurde festgestellt, dass ihm beide Füße und an der rechten Hand zwei Fingerglieder fehlten. Aufgrund dessen meldete ihn die Hebamme dem Gesundheitsamt. Der Amtsarzt empfahl der Mutter Emma Filusch Kontakt zum »Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden« in Berlin aufzunehmen. Die Eltern folgten dem Rat, da es ihnen nach eigener Aussage schwer fiel, sich um ihren Sohn zu kümmern. Der »Reichsausschuss« übernahm daraufhin die Pflegekosten für die Unterbringung in der »Kinderfachabteilung« der Heil- und Pflegeanstalt in Lüneburg. Die Mutter nahm an, dass es sich hierbei um ein Kinderheim handelte, in dem eine besondere Zuwendung möglich sei.

Am 5. Februar 1942 brachten die Eltern Bernhard in die Heil- und Pflegeanstalt, nachdem er nur wenige Wochen in seinem Elternhaus Auf dem Meere 29 verbracht hatte. Den Eltern fiel es zunächst schwer, die Fehlbildungen ihres Sohnes zu akzeptieren. Die Familie besuchte Bernhard jedoch regelmäßig und sah im Gegensatz zu den Ärzten eine progressive Entwicklung des Kindes. Als das Ehepaar Filusch nach einiger Zeit bemerkte, dass keine Therapien erfolgten, forderten sie seine Verlegung in ein Heim für Kinder mit Körperbehinderungen. Dies wurde jedoch vonseiten der Ärzte verweigert.

Die Pflegerin Dora Vollbrecht verabreichte Bernhard Filusch auf Anweisung des Arztes Willi Baumert eine Überdosis des Medikamentes Luminal, woraufhin er am 15. Juni 1942 im Alter von nur sieben Monaten starb. Er wurde auf dem Lüneburger Zentralfriedhof bestattet.

Dora Vollbrecht konnte sich in späteren Ermittlungsverfahren an die Tötung von Bernhard Filusch erinnern, da er durch sein fröhliches Wesen unter den Pflegerinnen sehr beliebt gewesen sei und ihr hierdurch im Gedächtnis geblieben war. Trotz ihres Geständnisses wurde das Ermittlungsverfahren der Lüneburger Staatsanwaltschaft wegen Mordes im Jahr 1981 eingestellt. Die Tatsache, dass Bernhard Filusch ein Opfer der »Euthanasie« ist, wurde den Eltern verschwiegen. Weder die Ärzte noch die zuständigen Krankenschwestern wurden jemals zur Rechenschaft gezogen. Bernhard Filusch ist eines der wenigen Kinder, dessen Ermordung erwiesen ist.

Ein Stolperstein erinnert seit 2005 vor der heutigen »Euthanasie«-Gedenkstätte auf dem Gelände der Psychiatrischen Klinik Lüneburg an Bernhard Filusch, geboren am 21. November 1941, ermordet am 15. Juni 1942. Ein zweiter Stolperstein erinnert seit 2019 an Bernhard Filusch vor seinem Elternhaus Auf dem Meere 29.