»Ausländersammelstelle« Lüneburg

Schon ab 1940 gab es in der Lüneburger Heil- und Pflegeanstalt zunehmend Patient*innen ausländischer Herkunft. Ab 1943 wurde eine eigene Station für sie eingerichtet, die »Abteilung für Ostarbeiter«. Patient*innen ausländischer Herkunft sollten von den deutschen getrennt werden. Die Männer wurden in Haus 15 untergebracht, die Frauen in Haus 16. Die »Abteilung Ostarbeiter« in Haus 15 wurde von Dr. Rudolf Redepenning geleitet. Die »Abteilung Osterbeiterinnen« in Haus 16 wurde medizinisch von Dr. Gustav Marx betreut.

Am 6. September 1944 wurde die Lüneburger Anstalt eine von reichsweit elf »Ausländersammelstellen«. Dies hatte viele Gründe. Erstens, eignete sich die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg für diese Schwerpunktaufgabe, weil sie bereits seit 1940 über Erfahrungen in der Unterbringung von Patient*innen ausländischer Herkunft verfügte. Zweitens, gab es einen hohen Bedarf an Patient*innen in den anstaltseigenen landwirtschaftlichen Außenstellen, in denen die erkrankten Zwangsarbeiter*innen zur Arbeit eingesetzt wurden. Drittens, praktizierte die Lüneburger Anstalt bereits seit 1941 die »Kinder-Euthanasie« und »dezentrale Euthanasie«, sodass sichergestellt war, dass für die Selektion und Ermordung von erkrankten Zwangsarbeiter*innen ausreichend Kenntnisse und Erfahrung vorlagen.

Das Einzugsgebiet der »Ausländersammelstelle« Lüneburg waren die Gebiete Weser-Ems, Hannover-Ost, Hannover-Süd und Braunschweig. Die Lüneburger Anstalt deckte damit Niedersachsen und Bremen ab, gehörte der Regierungsbezirk Lüneburg im Nordwesten ohnehin zum Einzugsgebiet der Anstalt. Darüber hinaus kam es auch zu Einlieferungen aus Schleswig-Holstein. Parallel kamen auch zahlreiche belgische und niederländische Flüchtlinge in die Anstalt.

Ein Teil der 1944 in die »Ausländersammelstelle« verlegten Erkrankten wurde direkt aus ihren Zwangsarbeiter*innenlagern / Arbeitseinsatzorten bzw. Flüchtlingslagern nach Lüneburg in die Anstalt eingeliefert. In dem Fall reichte eine Einweisung durch den behandelnden Arzt oder Ärztin bzw. durch die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt. Der andere Teil, nahezu ausschließlich polnische und sowjetische Zwangsarbeiter*innen, kamen über andere Heil- und Pflegeanstalten Norddeutschlands nach Lüneburg. Sie kamen aus den Anstalten Hildesheim (12. Oktober 1944; sechs Patient*innen), Osnabrück (25. Oktober 1944; acht Patient*innen), Königslutter (1. November 1944; vier Patient*innen), Schleswig (17. November 1944; sieben Patient*innen), Bremen (19. November 1944; zwei Patient*innen) und Wehnen (14.12.1944; 33 Patient*innen).

Die Patient*innen ausländischer Herkunft stammten aus 16 verschiedenen Ländern. Die meisten kamen aus Polen (mindestens 92 Patient*innen) und den Ländern der ehemaligen Sowjetunion (mindestens 59 Patient*innen), in der Anstalt waren aber auch Niederländer*innen, Belgier*innen, Ungar*innen usw. untergebracht. Unter den eingewiesenen Zwangsarbeiter*innen befanden sich zudem Kinder, die mit ihren Müttern nach Lüneburg verlegt wurden. Bei Ankunft trennte man Mutter und Kind; die Kinder wurden in der »Kinderfachabteilung« untergebracht – ohne ihre Mütter zu überleben.

In der »Ausländersammelstelle« Lüneburg herrschten katastrophale Zustände. Verwahrlosung und Vernachlässigung führte vor allem in Haus 15 zu einer hohen Sterberate. Die Patient*innen erhielten kaum Essen und keine ausreichende medizinische Versorgung. Mindestens 116 Patient*innen ausländischer Herkunft wurden in der Lüneburger Heil- und Pflegeanstalt ermordet. Die Leichen wurden auf einem »Ausländergräberfeld« bestattet, das zu diesem Zweck auf dem Anstaltsfriedhof, dem heutigen Friedhof Nord-West, ausgewiesen worden war.

Am 20. November 1944 gab es einen Sammeltransport von rund 100 Patient*innen »Richtung Osten«. Die Zielanstalt ist unbekannt. Ebenso wenig bekannt ist das Schicksal von weiteren 55 Patient*innen. Diese wurden weder verlegt noch entlassen, ein Sterbeeintrag fehlt ebenso.

80 Gräber von Patient*innen ausländischer Herkunft, bis auf wenige Ausnahmen Patient*innen der »Ausländersammelstelle«, sind bis heute erhalten geblieben. 1975 wurde eine Kriegsgräberstätte eingerichtet. Seit 2015 informiert eine Tafel über den geschichtlichen Hintergrund der Gräber. Bis 2025 wird die Anlage gemäß geltendem Kriegsgräbergesetz neu gestaltet.

Simowal Timofei

Simowal Timofei wurde am 26. Mai 1914 entweder in der Ukraine oder in Russland geboren. Hierzu gibt es in den überlieferten Unterlagen widersprüchliche Angaben. In seiner Krankenakte wurde zunächst »Russland«, im Laufe seines Aufenthaltes jedoch »Ukraine« festgehalten, im standesamtlichen Sterberegister hingegen wieder »Russland«. Wir wissen es also nicht, folgen jedoch der letzten standesamtlichen Eintragung. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Simowal bereits mit einer Tuberkulose in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg ankam.

Er war einen Tag vor dem offiziellen Kriegsende am 7. Mai 1945 in die Nerven-Klinik Hannover-Langenhagen eingewiesen worden. Er kam aus dem Zivilarbeitslager der Preussag in Seelze bei Hannover und war dort Ost- bzw. Zwangsarbeiter. Mit Verdacht auf Schizophrenie verlegte man ihn von der Nerven-Klinik Hannover-Langenhagen am 17. August 1945 nach Lüneburg.

Er kam dort »recht hinfällig« an, wog bei einer Größe von 1,67 m nur 50 kg, sei auch »kurzatmig« gewesen und »ziemlich blass«. Da er kein Deutsch sprach, war eine Verständigung zunächst nicht möglich. Erst am 10. November 1945 wurde Simowal Timofei mit Hilfe eines Übersetzers befragt. Da war er bereits seit drei Monaten in Haus 2 untergebracht. Bei der Befragung mit Hilfe des Übersetzers gab Simowal Timofei »geordnete Auskunft«, er sei in der Ukraine geboren, verheiratet und habe einen sechsjährigen Sohn. Von Beruf sei er Maurer. 1943 hätten ihn die Deutschen geholt und er habe seitdem in einer Fabrik gearbeitet. Er erinnere einen Krankenhaus-Aufenthalt in Hannover, nicht aber, wie er nach Lüneburg gekommen sei und vermisse auch Briefe von Angehörigen, die er bis dahin noch empfangen habe.

Im Januar 1946 wurde ein »fortschreitender Kräfteverfall« festgestellt, er magerte noch weiter ab. Am 1. März starb er im Alter von 35 Jahren.

Zwangsarbeit

Auf dem Gebiet des Deutschen Reiches wurden mit Kriegsbeginn am 1. September 1939 viele Männer im wehrpflichtigen Alter zum Kriegsdienst eingezogen. Ihre Arbeitskraft konnte nicht gänzlich durch den Reicharbeitsdienst und weibliche Beschäftigte kompensiert werden. Daher wurden in den besetzen Gebieten anfangs Zwangsarbeiter*innen rekrutiert und später gegen ihren Willen verschleppt. Darüber hinaus kam es völkerrechtswidrig auch zu einem verstärkten Arbeitseinsatz von Kriegsgefangenen sowie KZ-Häftlingen.

In Deutschland und den von Deutschland besetzten Gebieten gab es rund 13 Millionen Zwangsarbeiter*innen, in der Stadt und im Kreis Lüneburg waren es rund 6.000. Viele kamen aus Osteuropa, insbesondere Polen und ab 1941 vermehrt auch aus der Sowjetunion. Um sie zu kennzeichnen, waren sie zum Tragen eines »P« für Polen sowie eines »Ost« für »Ostarbeiter« (NS-Bezeichnung der Zwangsarbeiter*innen aus der Sowjetunion) verpflichtet. Diese Zeichen mussten erkennbar an der Kleidung getragen werden. Ab 1942 wurden auch Zwangsarbeiter*innen aus Westeuropa eingesetzt.

Zwangsarbeiter*innen waren schwerpunktmäßig in der (Rüstungs-)Industrie und in der Landwirtschaft eingesetzt. In den Jahren 1943 und 1944 bildeten sie ein Viertel, in manchen Betrieben sogar bis zu 60 Prozent der Beschäftigten. Im Sommer 1944 gab es zeitgleich sechs Millionen Zwangsarbeiter*innen im Dritten Reich. Ein Drittel davon waren Frauen, die teils gemeinsam mit ihren Kindern verschleppt wurden. Hinzu kamen rund zwei Millionen Kriegsgefangene.

Die Lebensbedingungen der Zwangsarbeiter*innen unterschieden sich nach Herkunft, Geschlecht und Einsatzort. Auch war von Bedeutung, ob es sich um »Militärinternierte« handelte, die als »Verräter« besonderen Repressalien ausgesetzt waren.

Die Zwangsarbeiter*innen wurden oft in Massenunterkünften bzw. Lagern untergebracht. Es gab jedoch insbesondere bei kleineren Betrieben auch Privatunterkünfte. Der Lohn war uneinheitlich, auch wurden Kosten für Unterkunft und Verpflegung abgezogen. Westliche Kriegsgefangene erhielten wöchentlich maximal zwei Reichsmark bzw. 0,30 Reichsmark am Tag. »Ostarbeiter« erhielten oft nur 0,10 Reichsmark am Tag, sofern überhaupt Lohn ausgezahlt wurde und die »Ostarbeiterabgabe« nicht gänzlich vom Betrieb einbehalten wurde. Im Vergleich dazu verdienten Arbeiter*innen in der Industrie durchschnittlich 40 Reichsmark die Woche bzw. 6,60 Reichsmark am Tag.

Stephan Lapikow

Stephan Lapikow wurde gemäß Sterberegisterauszug am 27. September 1907 in Kruki in Russland geboren. In seiner Krankenakte steht, er sei Ukrainer. Tatsächlich ist Kruki eine Stadt in der heutigen Ukraine, die damals zur Sowjetunion gehörte. Bekannt ist, dass er in Römmelmoor im Kreis Wesermarsch in der Landwirtschaft arbeitete. Wie und warum er in das Gerichtsgefängnis Nordenham kam, kann der Akte nicht entnommen werden. In Nordenham begutachtete ihn ein Dr. Neeser, der seine Aufnahme in die Heil- und Pflegeanstalt Oldenburg in Wehnen empfahl, weil Stephan Lapikow an einem »manischdepr.[esiven] Irresein« leide.

Am 5. Mai 1944 wurde er dort aufgenommen. Der behandelnde Arzt kam zu dem Ergebnis: »bei L.[apikow] ist der Depressionszustand sicherlich nicht als im Rahmen einer Haftpsychose zu verstehen, sondern bei der langen Dauer des Fortbestehens der schweren Depressionszustände […] die dem
Formenkreis des manisch-depressiven Irreseins angehören, zu betrachten.« Der Eintrag endet mit dem Hinweis, dass Stephan Lapikow nach Lüneburg verlegt wurde. Ein »Abschlussbericht« ist nicht vorhanden.

In der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg lebte Lapikow nur noch wenige Tage. Er starb am 22. Dezember 1944. In seiner Akte gibt es keinen Eintrag über die Aufnahme, kein Verlaufsprotokoll, keinen Hinweis auf seinen körperlichen oder seelischen Zustand. Der einzige Vermerk, den der Leiter der »Ausländersammelstelle« Redepenning notierte, war: »in Lüneburg am 22. XII. ohne besondere Krankheitserscheinungen an Erschöpfung gestorben.« Das Wort »Erschöpfung« ist unterstrichen. Stephan Lapikow starb im Alter von 37 Jahren.

Timofey Thomachincko

Timofey Thomachinckos Identität zu klären war nicht leicht. Im Begräbnisbuch zum Anstaltsfriedhof hatte der Friedhofsverwalter nur den Begräbnistag »7. Februar 1945« sowie den Namen »Schannchincko« handschriftlich notiert. Scheinbar gab es bereits hier einen Übertragungsfehler im vorderen Namensteil. Beim Erfassen der Kriegsgräberlisten 1954 wurde das zweite »c« dann auch noch als »o« gelesen, sodass aus »Schannchincko« fortan der Name »Schannchinoko« wurde. Erst durch die Auswertung des »Alphabetischen Verzeichnisses der kranken Männer« der Heil- und Pflegeanstalt und des Sterberegisterauszuges sowie durch eine Rekonstruktion der Schreibfehler konnte gesichert werden, dass es sich bei »Timofey Thomachincko« und »Schannschinoko« um ein und dieselbe Person handelt.

Er wurde 1889 in Michailow in Russland geboren. Vor seiner Aufnahme in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg am 26. Januar 1945 war er in Ihlienworth bei Otterndorf im Land Hadeln als Ostarbeiter bei einem Bauern mit dem Namen Luca beschäftigt. Seiner Einweisung ging eine amtsärztliche Untersuchung voraus, bei der der Amtsarzt Dr. Liebering zu dem Ergebnis kam, dass Timofey Thomachincko aufgrund angeblicher Tobsuchtsanfälle gemeingefährlich sei.

In Lüneburg wurde er dann von dem Leiter der »Ausländersammelstelle« Dr.Redepenning untersucht, der bei ihm eine akute Geisteskrankheit diagnostizierte, Schizophrenie jedoch mit einem Fragezeichen versah. Timofey Thomachincko kam ins Haus 15 und wog bei einer Körpergröße von 1,66 m nur 60 kg. Einen Tag nach der Aufnahme notierte Redepenning: »Leidet ganz offenbar an Angst. […] ist sehr scheu und abwehrend. Lehnt Essen ab. Noch nicht einen Schluck Wasser, spuckt ihn aus.« Eine sprachliche Verständigung, so geht es aus der Akte hervor, war auf verschiedenen Wegen nicht möglich gewesen. Trotz eines Dolmetschereinsatzes sprach Timofey Thomachincko kein Wort. Auch in den Tagen nach der Aufnahme stellte sich keine Besserung ein.

Am 1. Februar 1945 notierte Redepenning: »Unruhe hält an. Durchaus unansprechbar – trotz aller Bemühungen der Russisch sprechenden Poln-Kranken.« Am 4. Februar hielt Redepenning »Fieber. Schwächer« fest. Am 5. Februar 1945 folgte der Eintrag: »13 Uhr 30 gestorben. Kurz vor dem
Tod Arztbesuch mit Sprachmittler. Nichts zu erfahren. Verfolgungs- und Vergiftungswahn? Schizo?« Timofey Thomachincko starb im Alter von 39 Jahren an Erschöpfung.

»Ausländersammelstellen«

1944 entschied das Reichministerium des Innern, elf Heil- und Pflegeanstalten auf dem Gebiet des Deutschen Reiches auszuwählen, die ihren Schwerpunkt auf die »Versorgung« von Patient*innen ausländischer Herkunft legen sollten. Dort sollten Sammelstellen für unheilbar erkrankte Zwangsarbeiter*innen eingerichtet werden. Neben den Anstalten Bonn, Hadamar, Kaufbeuren, Landsberg/Warthe, Lüben, Mauer-Öhling, Pfafferode, Schleswig, Schussenried und Tiegenhof gehörte auch die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg dazu. Diese Entscheidung war eine Reaktion darauf, dass es kriegsbedingt zunehmend Versorgungsengpässe gab, die sich mit zunehmender Anzahl an Anstaltspatient*innen mit Fluchthintergrund zudem verschärften. In den ab September 1944 eingerichteten »Ausländersammelstellen« wurden schließlich sämtliche Patient*innen mit ausländischer Herkunft (unter ihnen auch eine hohe Zahl an Kriegsflüchtlingen) konzentriert.

In den »Ausländersammelstellen« wurden die Zwangsarbeiter*innen von den Anstaltsärztinnen und -ärzten nach ihrer Einsatz- und Leistungsfähigkeit begutachtet. Die fachpsychiatrische Begutachtung setzte in einem hohen Maße voraus, dass zwischen Ärztin bzw. Arzt und Patient*in eine Verständigung möglich war. Die Übersetzung durch eine*n Sprachmittler*in fand jedoch nur in Ausnahmefällen statt. Entsprechend willkürlich und unbrauchbar waren die Gutachten. Trotzdem waren sie Grundlage für die Beurteilung, ob und wie ein*e Zwangsarbeiter*in behandelt wurde. Die als arbeitsfähig eingestuften Patient*innen wurden ausreichend versorgt und nach einer Regenerierung an den Arbeitseinsatzort »gebessert entlassen«, mit fortbestehendem Risiko, dort zu sterben bzw. getötet zu werden.

Die als einsatz- und leistungsunfähig beurteilten Zwangsarbeiter*innen wurden meist Opfer der »Euthanasie«. Sie starben infolge von Mangelversorgung sowie durch überdosierte Medikamente. Auch lassen Untersuchungen die Annahme zu, dass es in den Heil- und Pflegeanstalten zu Medikamenten- und Wirkstoff-Erprobungen an Zwangsarbeiter*innen gekommen war.

Nach ihrem Tod wurden die Zwangsarbeiter*innen auf den jeweiligen Anstaltsfriedhöfen bestattet. Für die Tötungsanstalt Hadamar ist belegt, dass die Opfer der dortigen »Ausländersammelstelle« in Massengräbern bestattet wurden, die als Einzelgräber getarnt worden waren. Nach Kriegsende wurden diese Gräber geöffnet, die Leichen exhumiert. Im Zuge internationaler Abkommen wurden viele Leichen der Opfer der »Ausländer-Euthanasie« in die Herkunftsländer zurück überführt.

Wassilij Tschurpis

Wassilij Tschurpis wurde am 10. März 1888 in Russland geboren. Während des Krieges wurde er als Zwangsarbeiter in das Volkswagen (VW)-Werk in die »Stadt des KdF-Wagens« (das heutige Wolfsburg) nach Deutschland verschleppt. Über die genauen Umstände und sein Leben davor ist nichts bekannt. Es ist unklar, ob er sowjetischer Soldat und Kriegsgefangener war oder zu den zivil Rekrutierten gehörte.

Am 20. Januar 1944 stellte der Betriebsarzt der VW-Werke, Dr. Körbel, bei der Einweisungsuntersuchung einen »vollständigen Verwirrungszustand« fest. Als Ursache vermutete Dr. Körbel eine Syphillis-Infektion. Entsprechende Blutuntersuchungen führte er jedoch nicht durch. Da Tschurpis erkrankungsbedingt nicht mehr arbeitsfähig war, wies der Betriebsarzt ihn in die Lüneburger Anstalt ein.

Am folgenden Tag wurde Wassilij Tschurpis mit einem PKW in die Lüneburger Anstalt gefahren. Dort kam Tschurpis nackt, nur mit einer Decke bekleidet, mit gefesselten Händen und durch eine Injektion ruhiggestellt, an. Er wurde zunächst in Haus 21 aufgenommen.

Den folgenden Tag verbrachte Wassilij Tschurpis wach im Bett liegend. Am nächsten Tag, den 23. Januar 1944, lag er den ganzen Tag ohne Bewusstsein im Bett. Es wurden keine Maßnahmen eingeleitet, um ihm zu helfen und sein Leben zu retten. Wassilij Tschurpis starb am gleichen Tag um 18:45 Uhr im Alter von 55 Jahren. Es war der zweite Tag nach seiner Aufnahme in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg.

Zwangsarbeit und Psychiatrie

Viele Zwangsarbeiter*innen erkrankten psychisch infolge von schwerer körperlicher Arbeit, Mangelernährung, desolater Unterbringung sowie Gewalterfahrungen. Sofern eine psychische Erkrankung diagnostiziert wurde – etwa durch eine*n Lagerarzt/-ärztin oder durch die*den Amtsarzt/-ärztin, konnten die Patient*innen fachmedizinisch behandelt und in die Psychiatrie eingewiesen werden.

Mit dem rasanten Anstieg der Zahl der Zwangsarbeiter*innen aus West- und Osteuropa 1943 stieg auch die Anzahl der Patient*innen, die eine psychiatrische medizinische Versorgung benötigten.
Um die Zwangsarbeiter*innen von den regulären Anstaltspatient*innen zu separieren, wurden entsprechende Stationen bzw. »Ostarbeiter«-Abteilungen eingerichtet. Diese Separierung hatte mehrere Gründe. Zum einen sollten Infektionsketten unterbrochen werden, da Zwangsarbeiter*innen infolge katastrophaler hygienischer Bedingungen in ihren Unterkünften neben ihrer psychiatrischen Diagnose vermehrt an ansteckenden Erkrankungen litten, etwa Tuberkulose. Zum anderen ermöglichte die Separierung eine strukturell angelegte Mangelversorgung und -ausstattung. Außerdem sollten deutsche Patient*innen vor den Zwangsarbeiter*innen »geschützt« bleiben, somit diente die Separierung auch der Isolierung der als kulturell und rassisch »minderwertig« geltenden osteuropäischen Patient*innen.

1944 entschied das Reichministerium des Innern sogenannte »Ausländersammelstellen« in elf Heil- und Pflegeanstalten auf dem Gebiet des Deutschen Reiches einzurichten. Im September 1944 wurde die Anordnung umgesetzt. Viele Psychiatriepatient*innen ausländischer Herkunft, die in diesen Sammelstellen konzentriert wurden, wurden Opfer der »Euthanasie«.

Wladimir Batutow

Wladimir Batutow wurde am 18. März 1925 in Markejowka in der Ukraine geboren. Bevor er ins Deutsche Reich verschleppt wurde, lebte er in der Großstadt Nikopol im Süden der Ukraine. In Deutschland musste er in Rysum im Kreis Norden für die Niederemsische Deichacht Zwangsarbeit im Wasserbau leisten, davor war er sechs Monate bei einem Bauern eingesetzt. Mit Hilfe eines Dolmetschers erfuhr der Leiter der »Ausländersammelstelle« Dr. Rudolf Redepenning bei der Aufnahme von Wladimir Batutow in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg am 22. Dezember 1944, dass er vorher in das Krankenhaus nach Aurich gekommen war, weil er sich beim Hacken schwer verletzt hatte. Narben an Daumen, Handwurzel und in der Ellenbeuge bestätigten diese Verletzungen.

Weshalb er nach Lüneburg gekommen sei, konnte Wladimir nicht mehr erinnern und er klagte über Kopfschmerzen. Im Krankenhaus in Aurich habe er sein Krankenzimmer zerstört und sei sehr erregt gewesen, geht aus dem Gutachten des Staatlichen Gesundheitsamtes hervor, das ihm am 19. Dezember 1944 attestierte, dass er sofort in die nächstmögliche geschlossene Anstalt zu kommen habe.

In Lüneburg angekommen, gab sich Wladimir Batutow keinesfalls erregt oder gewalttätig, sondern zeigte sich – so notiert es Redepenning –gesprächsfreudig, gab auf Fragen »langatmige Antworten«, die der Dolmetscher wohl nur kurz wiedergab. Auch wollte Wladimir Batutow gerne in den Werkstätten der Anstalt arbeiten. Er sei »ruhig und fügsam«.

Am 10. Januar 1945 notierte Redepenning, dass Wladimir Batutow nichts leiste, zu schwach sei. Am 7. Februar notierte er »Befundbericht nicht einsatzfähig«, am 17. März »abnorme Reaktion. – Nässt und schmutzt ein. Hinfällig.«, am 22. März 1945 »gestorben«.

Innerhalb nur weniger Wochen hatte der erst 20-jährige Wladimir Batutow, der laut Krankenakte bei seiner Aufnahme in Lüneburg einen stabilen und sortierten Eindruck machte, körperlich derart abgebaut, dass er vollkommen geschwächt starb. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist er in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg verhungert.

Zizlaw Rudzki

Zizlaw Rudzki wurde am 20. Mai 1923 in Tschenstochau (Częstochowa) im Süden Polens geboren. Polen war ab September 1939 durch die Deutschen besetzt. Um den kriegsbedingten Arbeitskräftemangel im Deutschen Reich zu kompensieren, wurden die Menschen im besetzten Gebiet aufgefordert, sich zum Arbeitsdienst zu melden. »Auf Anordnung der Polizei« meldete sich auch Zizlaw Rudzki am 30. Juli 1940 zum Arbeitsdienst ins Deutsche Reich. Da war er erst 17 Jahre alt und es ist davon auszugehen, dass diese Meldung unfreiwillig erfolgte.

Zizlaw Rudzki arbeitete rund drei Jahre als Zwangsarbeiter, zum Schluss in einem Motorenwerk in Varel. Er habe »zur vollsten Zufriedenheit gearbeitet, bis er vor etwa 3 Monaten nach und nach in der Arbeit nachließ, ein bedrücktes Wesen zur Schau trug und ganz allgemein – in auffallend affectiver Weise – stereotyp angab, nicht mehr arbeiten zu können.«, begründete der praktische Arzt Dr. Behrens aus Varel seine Verdachtsdiagnose »Schizophrenie« und stützte sich hierbei offenbar auf die Angaben des Vorgesetzten des Motorenwerkes. Der vor der Aufnahme in die Heil- und Pflegeanstalt Oldenburg in Wehnen hinzugezogene Nervenarzt kam zu dem gleichen Ergebnis. Selbstäußerungen von Rudzki flossen in die ärztlichen Gutachten nicht ein. Auch der Oberarzt in Wehnen, ein Dr. Moor, hielt in seinem Bericht fest: »Nach der eingehenden körperlichen Untersuchung und psychischen Beobachtung handelt es sich bei R.[udzki] um ein Erscheinungsbild, das mit Verstimmungen, Depressionszuständen, Apathie und völliger Abgeschlossenheit von seiner Umwelt einhergeht. Exogene Momente, die die Ursache dieser psychischen Veränderungen sein könnten, sind allem Anschein nach auszuschließen […]«. Der Oberarzt stützte sich ausschließlich auf die Angaben der Kollegen, die sich ihrerseits wiederum auf die Angaben des Vorgesetzten im Motorenwerk Varel stützten.

Am 3. September 1943 kam Zizlaw Rudzki in der Heil- und Pflegeanstalt Oldenburg in Wehnen an. Dort blieb er »verschlossen, stierte völlig verstört auf dem Wachsaal herum, [gab] auch auf eindringliches Fragen keine Antwort.«. Zizlaw Rudzkis körperlicher Zustand verschlechterte sich zudem derart, dass eine später in Erwägung gezogene Elektroschockbehandlung nicht möglich war. Zizlaw Rudzkis Krankengeschichte ist typisch für Patient*innen, die in die »Ausländersammelstelle« eingeliefert wurden: Er kam am 14. Dezember 1944 in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg an und wurde wie viele andere erst am 3. Januar 1945 von dem Leiter Dr. Redepenning begutachtet. Der einzige Eintrag war: »Stuporös wie oben geschildert. nicht arbeitsfähig.« Zwei Wochen später notierte Redepenning: »Nässt ein. Stuporös. Elend & abgemagert. [Unterstreichung im Original]«. Am 7. Februar folgte der Eintrag: »Unverändert: nicht arb.[eits]eins.[atz]fähig. Bef. [und]-Bericht.« Am 25. März folgte: »An Erschöpfung gestorben [Unterstreichung im Original]. Mutter kann nicht in Tschenstochau benachrichtigt werden.« Zizlaw Rudzki wurde nur 21 Jahre alt.